75. Filmfestspiele von Venedig 2018
Mütterdämmerung |
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Luca Guadagninos Suspiria lässt die Seventies, nicht nur als Dario-Argento-Wiedersehgefühl, aufleben | ||
(Foto: Amazon Studios) |
»Never be afraid to doubt, if only you have the disposition to believe, and doubt in order that you may end in believing the Truth.«
Samuel Taylor Coleridge: »Aids to Reflections«
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Aus irgendeinem Grund, der mir selber noch nicht ganz klar ist, erleben die 70er Jahre gerade in neueren Filmen, auch in diesem Venedig-Jahrgang, eine erstaunliche Konjunktur. Neben Cuaróns Roma und Flavia Castros Deslembro, über die ich bereits geschrieben habe, muss man jedenfalls auch Luca Guadagninos 1977 angesiedelte Neuverfilmung von Suspiria dazuzählen.
Was ist es, was an den Seventies so interessiert? Klar: Viele, die heute Filme machen, waren in den 70ern Kinder. Aber davon mal abgesehen: Neulich Abend sagte ich im Gespräch mit Violeta aus Argentinien: »Wer die 70er nicht kennt, der weiß nicht, was Freiheit ist.« Das ist natürlich in dieser Übertreibungsform Quatsch. Aber zumindest für eine bestimmte Art von Freiheit
trifft es zu: Auf die Freiheit zum Blödsinn, auf Hedonismus. Auf die Freiheit von Politik. Auf Unbeschwertheit. Man glaubte noch, scheint mir, an Fortschritt zum Besseren. Die 70er waren zwar brutal, aber in aller Brutalität idyllisch. Wir sprechen hier natürlich nur von den Industrienationen des Westens, nicht von der Dritten Welt.
Die 70er sind zudem ein Zeitalter, in dem die Mehrheit der Jugend des Westens noch politische Ideale hatte, nicht mehrheitlich Geld und Karriere im
Kopf und ansonsten Angst. Und die Rechten hatten ein schlechtes Gewissen. Alles reichlich pauschal jetzt, ich weiß, aber ich freue mich auf Input, auf Widerspruch.
Was waren die 70er? Goldene 70er?
Und woher dieser Boom?
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Es gibt hier eine Doku über William Friedkin: Friedkin uncut. Konventionell gemacht, aber toll, weil Friedkin eben ein toller Regisseur ist und ein Großmaul, das zu allem was zu sagen hat, das tut dem Film auch gut. Über die werde ich noch in einer späteren Folge schreiben. Hier aber muss man erwähnen, dass im Film der Kritiker Simon Blumenfeld die 70er als »Decade of Ambiguity« beschreibt, und weiter bemerkt, Friedkin sei genau »der« Regisseur dieser Dekade. Sie beginnt mit The French Connection und endet mit Cruising.
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Man kann auch die Neufassung von Dario Argentos Suspiria nicht sehen, ohne an Friedkin zu denken. Was ist mit dem Horror seit Friedkins The Exorcist und Argento geschehen? Gegenüber diesen Filmen scheint Horror heute extrem clean, designed, in manchem puritanischer und schüchterner, viel weniger drastisch und schrill, zugleich dann wieder expliziter bei Sex und Gewalt. Aber ohne »Überschreitung« (Bataille).
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Luca Guadagnino hat zuvor A Bigger Splash und Call Me by Your Name gemacht. Letzteren habe ich zwar nicht gesehen, aber sehr Gutes gehört.
Sein Suspiria, den ich nicht »Remake« nennen
möchte, sondern »Neuinterpretation«, ist eine halbe Stunde länger als das »Original«, und es spielt in genau dem Jahr, in dem Argento seinen Film machte. Er spielt im geteilten Berlin statt in München, und zwar exakt in jenen Tagen, in denen der »Deutsche Herbst« mit der Entführung der »Landshut«-Maschine eskalierte. Mir kommt das sehr zupass, denn diese Tage gehören im Rückblick zu den intensivsten, erregendsten meiner Kindheit: nie wieder außer vielleicht beim Kanzlersturz Helmut
Schmidts war politische Teilhabe derart intensiv. Der Film hat »sechs Akte, und einen Epilog«.
Draußen toben Demos für die RAF, Patricia (gespielt von Chloë Grace Moretz – gerade vor wenigen Tagen hatte ich mich gefragt, was eigentlich aus der geworden ist) betritt die Praxis des Psychoanalytikers Dr. Klemperer, (der Name kann nicht zufällig sein), summt »Should I stay or should I go?«, und berichtet von den »Hexen«. Der Doktor schreibt auf: »Ihr Wahn mündet in Panik. Sie fühlt
sich bedroht.« Dann »Simulacrum«. Auf dem Tisch werden Bücher erkennbar, über die Freimaurer, und C.G.Jungs »Die Psychologie der Übertragung« und Ernest Jones' »Zur Psychoanalyse der christlichen Religion«. Patricia erträgt keine Blicke, keine Bilder mit Augen, flieht die Praxis, wird nicht mehr gesehen. Später heißt es über sie, sie sei labil gewesen, und ein Teil der linken Weltverbesserer.
Auch in der Wahl der Neben-Darstellerinnen entfaltet der Regisseur eine dichte
Landschaft der Verweise: Angela Winkler, Ingrid Caven, Renée Soutendijk, dazu Fred Kelemen in einem lustigen Kurzauftritt als West-Berliner Polizist. Dakota Johnson als Hauptfigur ist leider verbesserungsfähig.
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Schnitt. Ein Haus auf dem Land, kurz nach dem Krieg, dort ein Schild: »A mother is a person which can take the place of all others, but whose place no one can take.«
Dann wieder 1977. Eine junge Amerikanerin heuert in einer Modern Dance Company an. Sie entpuppt sich als geniale Tänzerin, und die Gruppe der Lehrerinnen als ein hexenartiger Bund, der eine »Mutter Markos« einige der Jungen Mädchen zuführt. Tilda Swinton lehrt: »To kill our beliefs.« Oder »This morning we turn our
instincts inwards. I am interested in your instincts.« Tanz sei »poems, prayers, spells«.
Ein Spiegelraum (das Spiegelstadium) wird zum Ort der Vernichtung. Klaus Croissant steht in der Zeitung. Der »Spiegel« titelt: »Terror«. Verweise streifen Ereignisse 1943 und 1937. Es schneit im Oktober und es sieht schön aus.
»Mutter Markos, Mutter Meinhof«, sagt Ingrid Caven.
Und Swintons Figur weiß: »There are two things, dance can never be again: beautiful and cheerful. Today we need
to break the nose of any cheerful thing.« Das mag für Kunst überhaupt gelten.
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Alles ist sehr frei, sehr schön. Ich mag, wenn Ingrid Caven singt »Guten Abend, gute Nacht«. Mir gefallen Sätze wie »Why is anyone so ready to think, the worst is over?« Und: »We need guilt and shame.«
Im Showdown in leuchtendem tiefen, leider trotzdem cleanen Argento-Rot heißt es »Death to any other mother.«
Nur zu!
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Im Hintergrund von allem, was geschah, begleiten uns konstante Verweise auf den Deutschen Herbst, die Schleyer-Entführung, die Landshut-Entführung. Es wird im Dialog erwähnt, dass Schleyer SS-Mitglied war, und Figuren empören sich darüber, dass ein Nazi-Offizier auch 32 Jahre nach Hitlers Selbstmord als Chef des deutschen Industriellen-Verbandes tätig sein konnte. So wird deutlich: Schleyer war kein gewöhnliches Opfer, und ohne Verbrechen zu entschuldigen, ist es verständlich,
warum die Wahl der RAF auf Schleyer fiel, nicht auf andere.
Ich mag diese Verweise, und man kann merken, dass die Eskalation just in jener Nacht sich ereignet, in der Schleyer starb. Kein Zufall.
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»What do you wish?« – »To die, I want to die«. Das sind Seventies-Kommentare, es geht um innere Gruppendynamiken, Abschottung, um Bünde: Sekten, Nazis, RAF, die Parallelisierung kann man dumm finden, es ist aber kein Gleichsetzen, sondern ein kaleidoskopisches Nebeneinander.
Insgesamt ein anregender, schöner Film, auf den sich die Argento-Jünger und Puristen der Vergangenheit aber nicht einlassen. Interessanter ist, genau das zu tun.
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Am Sonntag ging es dann gleich weiter mit dem Mütter-Thema. Pablo Trapero erzählt in La quietud scheinbar von zwei Schwestern aus reichem Hause: Mia (Martina Gusmán), die Jüngere, ist in Argentinien geblieben, während Eugenia (Bérénice Bejo) mit ihrem Mann in Paris lebt. Beide sind Mitte 30 und haben eine enge Beziehung. Als der Vater nach einem Schlaganfall kaum ansprechbar im Krankenhaus liegt, kommt Eugenia aus Paris, um ein paar Wochen im Elternhaus, einer
prachtvollen Hacienda, zu verbringen.
Man isst auf Silber, trinkt aus Kristallbechern, eine Dienerin schenkt nach, und der Rest des Dutzends Dienstboten kümmert sich um Pferde, Hunde, Blumen und Gärten des Anwesens. Die innige Beziehung der Schwestern, die von der Sehnsucht nach ihrer »besten Zeit«, der gemeinsamen Jugend und den Jahren in Paris, wo der Vater bei der argentinischen Botschaft arbeitete, bekommt ganz allmählich kleine Risse. Wer nur ein wenig mit der
argentinischen Geschichte vertraut ist, der weiß um die Diktatur, die bei den Rechten schon sprachlich als »die Zeit der Militärregierung« verharmlost wird. Man erlebt die heftigen Streitigkeiten zwischen Mia und ihrer Mutter, wo es genau darum geht. »She does not want to fight with me, so she gets mad at mama instead. She is not well«, kommentiert das später Eugenia. Man sieht auch Mias eifersüchtigen Blick, als Eugenia erzählt, dass sie endlich schwanger sei. Man sieht, dass
Eugenia mit einem mit der Familie befreundeten Anwalt eine Affäre hat. Und man sieht, dass ihr Mann Vincent (Edgar Ramírez) sie mit ihrer Schwester betrügt.
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Doch mehr und mehr kristallisiert sich die Mutter Esmeralda (Graciela Borges) als das Zentrum der Story heraus. Als der Vater, ihr Gatte, nach einem zweiten Schlaganfall zum Sterben nach Hause gebracht wird, beschleunigt sie das Ende eines Nachts mit einem liebevollen »Die, you son of a bitch«, zu dem sie den Schlauch aus dem Beatmungsgerät herauszieht. Es scheint klar zu sein: Eine böse alte Frau, die immer noch Familie und Personal mit eisernen Klauen regieren will.
Am Tag
zuvor hatte die Mutter eine Gerichtsvorladung als Zeugin erhalten. Bei der Verhandlung enthüllt sie dann, dass der Vater an Folterungen von Widerständlern und an der Bereicherung mit deren Vermögen beteiligt war. Am nächsten Abend erklärt sie den Töchtern, ihre Ehe sei eine Hölle gewesen: »Your so adored father raped me. Face it.« Sie habe ihre Tochter Mia aus diesem Grund nie lieben können. Nun sympathisieren wir mit ihr, erkennen ihr Leiden an, wechseln die Seiten.
Aber auch
das entpuppt sich alles nur als Erinnerung der Mutter, als ihre Erinnerung und allenfalls die halbe Wahrheit. Denn bald darauf findet Mia ein Dokument, das zeigt, dass die Mutter Mitwisserin bei den Taten des Vaters war – weil Mia es den Ermittlern übergibt, wird die Mutter verhaftet, und das Anwesen beschlagnahmt.
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Auch hier wieder das Thema Erinnerung, auch hier die Referenz auf die 70er, denn die Militärdiktatur in Argentinien begann 1976.
Bis auf das Ende, das auch in einigen anderen Einzelheiten nicht nur moralisierend, sondern cheesy ist, ist dies ein guter Film, aber der Unterschied liegt darin, dass er weniger zeigt, weniger reinzieht, als Cuarón in seinem genialen Film, und dass er die Dienstboten der Familie komplett ausklammert.
(to be continued)