10.02.2019
69. Berlinale 2019

Illus­trierte Probleme und endlich mal ein unan­stän­diger Film

Der Goldene Handschuh
Immerhin bietet Der Goldene Handschuh einen Kontrapunkt zum braven Rest...
(Foto: Warner Bros. Germany)

Gegen Missbrauch: François Ozon will billige Kirchenkritik. Aber warum nur hat Fatih Akin Der Goldene Handschuh gemacht? Berlinale-Tagebuch, Folge 5

Von Rüdiger Suchsland

»I‘m trying to put my feet in his shoes. He‘s had enough, I think. A lot of people have expressed them­selves. Now justice has to do its work.
I never had problems with him. As a producer he was wonderful, most of the time. I think he was a great producer. That we shouldn‘t forget, even though it‘s been difficult for some directors and actors and espe­ci­ally actresses. I just want to say peace to his mind and let justice do what it needs to do.«

Juliette Binoche, Berlinale-Jury­prä­si­dentin auf der Pres­se­kon­fe­renz über Harvey Weinstein

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In den ersten Minuten dieses Films weiß man nicht genau: Soll man das jetzt ernst nehmen, oder macht François Ozon wieder eine seiner mal fein-ironi­schen, mal derberen Komödien. Dann ist klar: Alles ist ernst gemeint.
Wir erleben einen Mann mittleren Alters, wohl­si­tu­iertes Bürgertum, gläubig, katho­lisch, Vater von Kindern, in Lyon. Durch Zufall kommt die Erin­ne­rung wieder hoch. Dann auch bald die Gewiss­heit: Der Priester, der ihn als Junge vor über 30 Jahren miss­brauchte, ist weiterhin Amt und Würden, ist sogar weiter mit Jugend­li­chen befasst.
Das Opfer, er heißt Alexandre (Melvil Poupaud), schreibt Briefe, wird abge­speist, schreibt wieder, wird angehört, schreibt nochmal, trifft seinen ehema­ligen Peiniger, man redet, betet, aber irgendwo prallt alles gegen eine Wand aus Nichtstun. Es gibt Rück­blicke, Erin­ne­rungen, man erlebt Recher­chen, sieht die Kirchen­büro­kratie. Alles andere, die Figuren selbst, erst recht ihre Familie bleiben blass, oft namenlos – verfilmte Akten.
Irgend­wann kommen weitere Fälle dazu, und alles ins Rollen: Francois Ozons neuer Film Grâce à Dieu schildert die Entfal­tung eines realen fran­zö­si­schen Falles, dessen Prozess dieser Tage ansteht.
Erzählt oft per Voice-over, mit Brief­le­sungen, in drei Akten, mit drei Haupt­fi­guren, dreimal Schema F. Die Priester sind die Bösen.

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Alles ist sehr langsam erzählt, sehr genau, man könnte auch sagen träge und betulich, aber das kommt einem viel­leicht auch nur so vor, weil nichts Über­ra­schendes passiert: Kleine katho­li­sche Pfad­fin­der­jungen tragen kurze Hosen, Priester gucken schmierig und greifen hinein, Jungen werden rot und trauen sich nichts zu sagen, die Hier­ar­chie ist angeekelt und guckt weg.
Und auch, weil der Miss­brauchs­skandal in der katho­li­schen Kirche ja schon zehn Jahre alt ist, weil sie das Thema sexueller Miss­brauch durch diese Kirche so bequem abspalten und exeku­tieren lässt. Wer ist schon katho­li­scher Priester? Mit uns hat das also nichts zu tun. Auch nicht mit Protes­tanten, Juden, Atheisten. Oder?

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Das ist vorher­seh­bare, billige Religions- und Kirchen­kritik, die zwar zur Zeit auf frucht­baren Boden fällt, aber am Punkt voll­kommen vorbei geht. Auch wenn die Kirche und andere Männer­bünde Miss­brauch begüns­tigen können, sollte man beides nicht mitein­ander iden­ti­fi­zieren.
Selbst Nino Klingler, der sonst eine sehr kluge und treffende Kritik des Films geschrieben hat, macht es sich auch zu einfach, wenn er es »heuch­le­risch« nennt, wie sich die »Verge­bungs­ma­schi­nerie der katho­li­schen Kirchen vor den schmut­zigen Mensche­leien des Leibes in die tran­szen­dente Welt der Rituale und sakralen Archi­tektur verdrü­cken will.«
Die Frage ist doch: Wie hätte zum Beispiel Bresson vom Miss­brauchs­skandal erzählt?
Weniger katho­lisch? Bestimmt nicht. Sondern er hätte gezeigt, was Tran­szen­denz alles leisten kann, dass sie aber bestimmt nicht sexuellen Miss­brauch entschul­digt.

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Zwischen­durch kam mir der Film The Third Murder (2017) von Hirokazu Kore-eda in den Sinn – nur um mich gleich zu erinnern, dass der zwar auch langsam und gemäch­lich entfaltet ist, sich viel, auch mal zu viel Zeit nimmt, um etwas zu erzählen, das man so genau gar nicht wissen will, dass dieser Film aber jederzeit intensiv und in sich gespannt ist, wo Ozons Film ausleiert.
Mir scheint, dass Ozon zwar ein paar stilis­tisch inter­es­sante, erzäh­le­risch virtuose Filme gemacht hat, von denen zwei, drei wirklich aus einem Guss sind, aber kaum wirklich gute, in sich geschlos­sene Filme. Am besten sind noch seine Komödien. Insgesamt ist Ozon aber ein latent über­schätzter, im Grunde lang­wei­liger Regisseur ist, dessen Werk zu 80 Prozent aus öden Routinen besteht. Das zeigt dieser Film gut.

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Wieder mal: wichtiges Thema, banale Form. Das übliche Berlinale-Muster. Illus­trierte Probleme. Kein bisschen Über­schuss, kein bisschen Exzess, viel zu viel Anstand, kein Humor. Und im Grunde stink­lang­weilig.

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Das alles wird anders bei Fatih Akin. Hier haben wir ihn, den Exzess, den Über­schuss, den Humor, und endlich einmal einen ziemlich unan­stän­digen Film.
Aber so ist es dann auch nicht wirklich gut.

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Heinz Strunks »Der Goldene Handschuh« ist ein ziemlich unan­ge­nehmes Buch. Nach der Lektüre nur einiger Seiten möchte man duschen. Es steckt voller unglaub­lich ekel­er­re­gender Geschichten, Figuren, Momente und Szenen. Manche Bilder hätte man lieber nicht im Kopf. Zugleich, und das hängt zusammen, ist es ziemlich witzig. Und sehr gut geschrieben. Man will es nicht weglegen. Irri­tie­rend ist nur, dass ich irgendwo gelesen habe, das Manuskript sei eigent­lich dreimal so lang gewesen. Kommt der gute Stil also vom Lektorat, oder wie soll man es sich vorstellen? Lange ist es auch her, dass ich in einem Buch so viele neue Wörter gelernt habe. Mein Lieb­lings­be­griff: »Fako«. Das kann man trinken, und ist Fanta-Korn, im Verhältnis eins zu eins. Schon die Vorstel­lung graust und macht Kopfweh. Man trinkt es übrigens aus Bier­glä­sern, 0.3 aufwärts.

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Es handelt von Fritz Honka, einem vier­fa­chen Hamburger Mörder, wobei er in drei Fällen später nur wegen Totschlags verur­teilt wurde. Wohl weil er zur Tatzeit schon viel zu voll war, um auch voll schuld­fähig zu sein.
Honkas Opfer waren ältere Frauen, die in der sozialen Leiter derart weit unten standen, dass sie keiner vermisst hat. Honka hat sie zersägt, und die meisten Leichen­teile in seiner Mansar­den­woh­nung unterm Dach versteckt.
Fatih Akin hat Strunks Buch jetzt verfilmt. Das hat ein paar Gründe, neben der erwähnten Qualität. Der Biogra­phi­sche ist der, dass Akins Freund und Darsteller Adam Bous­doukos als Kind mit seiner Familie im gleichen Haus wie Honka, direkt unter ihm, wohnte. Aller­dings war er bei Honkas Verhaf­tung erst einein­halb Jahre alt.
Deutlich spürbar ist auch Akins nost­al­gi­sche Lust am detail­lierten Nach­zeichnen der späten Nach­kriegs- und Wieder­auf­bau­jahre mit den unver­gleich­lich schönen Autos, den verges­senen Eckkneipen und Sprach­schöp­fungen. Wikipedia glaubt zwar »Stützbier« sei eine Wort­schöp­fung von Strunk, ich kannte sie aber schon, da gab es den Roman noch gar nicht. Das Setdesign ist großartig – man kann die Orte förmlich riechen, die Getränke geradezu schmecken.

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Trotzdem ist das Buch einfach besser. Das liegt nicht nur an Strunks Sprache, an den Facetten seiner Story. Der Film bleibt demge­genüber äußerlich. Wichtiger: Das Zentrum des Buchs, die abge­ranzte St. Pauli-Kneipe »Zum Goldenen Handschuh« wird hier ein Neben­schau­platz. Dabei sind die Szenen, die hier spielen, die besten.
Dagegen ist die Haupt­figur bei Akin dreimal häss­li­cher und ekel­er­re­gender als der reale Honka, ein bis zur Lächer­lich­keit mons­tröses Wesen. Ohne Würde, aber auch ohne Schrecken, sondern ein schlur­fender grotesker Witz, erstarrt unter der Maske.
Aus einer Vorlage, die eigent­lich von der deutschen Nach­kriegs­zeit handelt, vom verdrängten Krieg und Faschismus, von den schwarzen Seiten des Wieder­auf­baus, und von einem allge­gen­wär­tigen Unter­schicht-Milieu, von Männern die soviel saufen und rauchen, dass man nicht versteht, wie sie das auch nur fünf Jahre überleben, von alten Frauen und SS-Kämpfern, die bei Heintje weinen, und von Leichen­teilen in leeren Hinter­höfen, wird in diesem Film eine Freakshow. Nur selten geht’s tiefer, meist bleibt alles äußerlich. Nie erreicht Der Goldene Handschuh die Augenhöhe mit Filmen wie Der Totmacher oder Nachts, wenn der Teufel kam, von M einmal ganz zu schweigen.

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Völlig unklar ist mir, wer sich diesen Film ansehen wird und soll? Gestern nach dem ersten Pres­se­scree­ning kamen wir ins Gespräch mit Kathrin, einer jüngeren Kollegin. Sie wäre am ehesten die »Ziel­gruppe« für Akin-Filme. Aber sie war die, die sich am meisten aufregte, und froh war, ein paar Leute gefunden zu haben, denen sie erzählen konnte, wie schlimm der Film sei.

Warum also? Why Why Why? Warum hat Akin dieses Buch verfilmt? Was wollte er mit diesem Thema? Das ist die große Frage: Die einzige mir plausible Erklärung: Fatih Akin macht auf seine Art immer Heimat­filme. Auch dies ist ein, wenn auch seltsamer Hamburger Heimat­film.

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Dann im Radio, am Samstag-Abend Maren Kroymann als Gast­kri­ti­kerin bei Knut Elster­mann. Auch ihre zentrale Frage ist: »Wozu hat er diesen Film gemacht?«

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Immerhin bietet Der Goldene Handschuh aber einen Kontra­punkt zum braven Rest.

Denn nach dem ersten Tag steht es mir schon wieder bis hier: Dieses ganze Soz-Päd-Kino, diese ausge­wo­gene wohl­tem­pe­rierte, inhal­tis­ti­sche Filmsuppe der Berlinale.
Dieses Gefühl tangiert auch die besten Filme: Gestern fand ich System­sprenger noch richtig gut, heute, nach Ozon und Akin, erkennt man schon wieder die Gemein­sam­keiten, erkennt, dass auch System­sprenger als Film keines­wegs das System sprengt, weder das des deutschen Kinos, noch schon gar nicht das der Berlinale.
»Kino ist ja keine Paar­the­rapie und kein Ersatz fürs Jugendamt.« habe ich neulich aus Saar­brü­cken geschrieben. Man muss das hier wieder­holen: Moralisch unbedingt sympa­thi­sche Filme sind deswegen noch lange nicht künst­le­risch spannend und ästhe­tisch heraus­for­dernd.

(to be continued)