69. Berlinale 2019
Illustrierte Probleme und endlich mal ein unanständiger Film |
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Immerhin bietet Der Goldene Handschuh einen Kontrapunkt zum braven Rest... | ||
(Foto: Warner Bros. Germany) |
»I‘m trying to put my feet in his shoes. He‘s had enough, I think. A lot of people have expressed themselves. Now justice has to do its work.
I never had problems with him. As a producer he was wonderful, most of the time. I think he was a great producer. That we shouldn‘t forget, even though it‘s been difficult for some directors and actors and especially actresses. I just want to say peace to his mind and let justice do what it needs to do.«
Juliette Binoche, Berlinale-Jurypräsidentin auf der Pressekonferenz über Harvey Weinstein
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In den ersten Minuten dieses Films weiß man nicht genau: Soll man das jetzt ernst nehmen, oder macht François Ozon wieder eine seiner mal fein-ironischen, mal derberen Komödien. Dann ist klar: Alles ist ernst gemeint.
Wir erleben einen Mann mittleren Alters, wohlsituiertes Bürgertum, gläubig, katholisch, Vater von Kindern, in Lyon. Durch Zufall kommt die Erinnerung wieder hoch. Dann auch bald die Gewissheit: Der Priester, der ihn als Junge vor über 30 Jahren missbrauchte, ist
weiterhin Amt und Würden, ist sogar weiter mit Jugendlichen befasst.
Das Opfer, er heißt Alexandre (Melvil Poupaud), schreibt Briefe, wird abgespeist, schreibt wieder, wird angehört, schreibt nochmal, trifft seinen ehemaligen Peiniger, man redet, betet, aber irgendwo prallt alles gegen eine Wand aus Nichtstun. Es gibt Rückblicke, Erinnerungen, man erlebt Recherchen, sieht die Kirchenbürokratie. Alles andere, die Figuren selbst, erst recht ihre Familie bleiben blass, oft namenlos
– verfilmte Akten.
Irgendwann kommen weitere Fälle dazu, und alles ins Rollen: Francois Ozons neuer Film Grâce à Dieu schildert die Entfaltung eines realen französischen Falles, dessen Prozess dieser Tage ansteht.
Erzählt oft per Voice-over, mit Brieflesungen, in drei Akten, mit drei Hauptfiguren, dreimal Schema F. Die Priester sind die Bösen.
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Alles ist sehr langsam erzählt, sehr genau, man könnte auch sagen träge und betulich, aber das kommt einem vielleicht auch nur so vor, weil nichts Überraschendes passiert: Kleine katholische Pfadfinderjungen tragen kurze Hosen, Priester gucken schmierig und greifen hinein, Jungen werden rot und trauen sich nichts zu sagen, die Hierarchie ist angeekelt und guckt weg.
Und auch, weil der Missbrauchsskandal in der katholischen Kirche ja schon zehn Jahre alt ist, weil sie das
Thema sexueller Missbrauch durch diese Kirche so bequem abspalten und exekutieren lässt. Wer ist schon katholischer Priester? Mit uns hat das also nichts zu tun. Auch nicht mit Protestanten, Juden, Atheisten. Oder?
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Das ist vorhersehbare, billige Religions- und Kirchenkritik, die zwar zur Zeit auf fruchtbaren Boden fällt, aber am Punkt vollkommen vorbei geht. Auch wenn die Kirche und andere Männerbünde Missbrauch begünstigen können, sollte man beides nicht miteinander identifizieren.
Selbst Nino Klingler, der sonst eine sehr kluge und treffende Kritik des Films geschrieben hat, macht es sich auch zu
einfach, wenn er es »heuchlerisch« nennt, wie sich die »Vergebungsmaschinerie der katholischen Kirchen vor den schmutzigen Menscheleien des Leibes in die transzendente Welt der Rituale und sakralen Architektur verdrücken will.«
Die Frage ist doch: Wie hätte zum Beispiel Bresson vom Missbrauchsskandal erzählt?
Weniger katholisch? Bestimmt nicht. Sondern er hätte gezeigt, was Transzendenz alles leisten kann, dass sie aber bestimmt nicht sexuellen Missbrauch
entschuldigt.
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Zwischendurch kam mir der Film The Third Murder (2017) von Hirokazu Kore-eda in den Sinn – nur um mich gleich zu erinnern, dass der zwar auch langsam und gemächlich entfaltet ist, sich viel, auch mal zu viel Zeit nimmt, um etwas zu erzählen, das man so genau gar nicht wissen will, dass dieser Film aber jederzeit intensiv und in sich gespannt ist, wo Ozons Film ausleiert.
Mir scheint,
dass Ozon zwar ein paar stilistisch interessante, erzählerisch virtuose Filme gemacht hat, von denen zwei, drei wirklich aus einem Guss sind, aber kaum wirklich gute, in sich geschlossene Filme. Am besten sind noch seine Komödien. Insgesamt ist Ozon aber ein latent überschätzter, im Grunde langweiliger Regisseur ist, dessen Werk zu 80 Prozent aus öden Routinen besteht. Das zeigt dieser Film gut.
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Wieder mal: wichtiges Thema, banale Form. Das übliche Berlinale-Muster. Illustrierte Probleme. Kein bisschen Überschuss, kein bisschen Exzess, viel zu viel Anstand, kein Humor. Und im Grunde stinklangweilig.
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Das alles wird anders bei Fatih Akin. Hier haben wir ihn, den Exzess, den Überschuss, den Humor, und endlich einmal einen ziemlich unanständigen Film.
Aber so ist es dann auch nicht wirklich gut.
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Heinz Strunks »Der Goldene Handschuh« ist ein ziemlich unangenehmes Buch. Nach der Lektüre nur einiger Seiten möchte man duschen. Es steckt voller unglaublich ekelerregender Geschichten, Figuren, Momente und Szenen. Manche Bilder hätte man lieber nicht im Kopf. Zugleich, und das hängt zusammen, ist es ziemlich witzig. Und sehr gut geschrieben. Man will es nicht weglegen. Irritierend ist nur, dass ich irgendwo gelesen habe, das Manuskript sei eigentlich dreimal so lang gewesen. Kommt der gute Stil also vom Lektorat, oder wie soll man es sich vorstellen? Lange ist es auch her, dass ich in einem Buch so viele neue Wörter gelernt habe. Mein Lieblingsbegriff: »Fako«. Das kann man trinken, und ist Fanta-Korn, im Verhältnis eins zu eins. Schon die Vorstellung graust und macht Kopfweh. Man trinkt es übrigens aus Biergläsern, 0.3 aufwärts.
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Es handelt von Fritz Honka, einem vierfachen Hamburger Mörder, wobei er in drei Fällen später nur wegen Totschlags verurteilt wurde. Wohl weil er zur Tatzeit schon viel zu voll war, um auch voll schuldfähig zu sein.
Honkas Opfer waren ältere Frauen, die in der sozialen Leiter derart weit unten standen, dass sie keiner vermisst hat. Honka hat sie zersägt, und die meisten Leichenteile in seiner Mansardenwohnung unterm Dach versteckt.
Fatih Akin hat Strunks Buch jetzt verfilmt.
Das hat ein paar Gründe, neben der erwähnten Qualität. Der Biographische ist der, dass Akins Freund und Darsteller Adam Bousdoukos als Kind mit seiner Familie im gleichen Haus wie Honka, direkt unter ihm, wohnte. Allerdings war er bei Honkas Verhaftung erst eineinhalb Jahre alt.
Deutlich spürbar ist auch Akins nostalgische Lust am detaillierten Nachzeichnen der späten Nachkriegs- und Wiederaufbaujahre mit den unvergleichlich schönen Autos, den vergessenen Eckkneipen und
Sprachschöpfungen. Wikipedia glaubt zwar »Stützbier« sei eine Wortschöpfung von Strunk, ich kannte sie aber schon, da gab es den Roman noch gar nicht. Das Setdesign ist großartig – man kann die Orte förmlich riechen, die Getränke geradezu schmecken.
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Trotzdem ist das Buch einfach besser. Das liegt nicht nur an Strunks Sprache, an den Facetten seiner Story. Der Film bleibt demgegenüber äußerlich. Wichtiger: Das Zentrum des Buchs, die abgeranzte St. Pauli-Kneipe »Zum Goldenen Handschuh« wird hier ein Nebenschauplatz. Dabei sind die Szenen, die hier spielen, die besten.
Dagegen ist die Hauptfigur bei Akin dreimal hässlicher und ekelerregender als der reale Honka, ein bis zur Lächerlichkeit monströses Wesen. Ohne Würde, aber
auch ohne Schrecken, sondern ein schlurfender grotesker Witz, erstarrt unter der Maske.
Aus einer Vorlage, die eigentlich von der deutschen Nachkriegszeit handelt, vom verdrängten Krieg und Faschismus, von den schwarzen Seiten des Wiederaufbaus, und von einem allgegenwärtigen Unterschicht-Milieu, von Männern die soviel saufen und rauchen, dass man nicht versteht, wie sie das auch nur fünf Jahre überleben, von alten Frauen und SS-Kämpfern, die bei Heintje weinen, und von
Leichenteilen in leeren Hinterhöfen, wird in diesem Film eine Freakshow. Nur selten geht’s tiefer, meist bleibt alles äußerlich. Nie erreicht Der Goldene Handschuh die Augenhöhe mit Filmen wie Der Totmacher oder Nachts, wenn der Teufel kam, von M einmal ganz zu schweigen.
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Völlig unklar ist mir, wer sich diesen Film ansehen wird und soll? Gestern nach dem ersten Pressescreening kamen wir ins Gespräch mit Kathrin, einer jüngeren Kollegin. Sie wäre am ehesten die »Zielgruppe« für Akin-Filme. Aber sie war die, die sich am meisten aufregte, und froh war, ein paar Leute gefunden zu haben, denen sie erzählen konnte, wie schlimm der Film sei.
Warum also? Why Why Why? Warum hat Akin dieses Buch verfilmt? Was wollte er mit diesem Thema? Das ist die große Frage: Die einzige mir plausible Erklärung: Fatih Akin macht auf seine Art immer Heimatfilme. Auch dies ist ein, wenn auch seltsamer Hamburger Heimatfilm.
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Dann im Radio, am Samstag-Abend Maren Kroymann als Gastkritikerin bei Knut Elstermann. Auch ihre zentrale Frage ist: »Wozu hat er diesen Film gemacht?«
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Immerhin bietet Der Goldene Handschuh aber einen Kontrapunkt zum braven Rest.
Denn nach dem ersten Tag steht es mir schon wieder bis hier: Dieses ganze Soz-Päd-Kino, diese ausgewogene wohltemperierte, inhaltistische Filmsuppe der Berlinale.
Dieses Gefühl tangiert auch die besten Filme: Gestern fand ich Systemsprenger noch richtig gut, heute, nach Ozon und Akin, erkennt man schon wieder die Gemeinsamkeiten, erkennt, dass auch Systemsprenger als Film keineswegs das System sprengt, weder das des deutschen
Kinos, noch schon gar nicht das der Berlinale.
»Kino ist ja keine Paartherapie und kein Ersatz fürs Jugendamt.« habe ich neulich aus Saarbrücken geschrieben. Man muss das hier wiederholen: Moralisch unbedingt sympathische Filme sind deswegen noch lange nicht künstlerisch spannend und ästhetisch herausfordernd.
(to be continued)