69. Berlinale 2019
Angela und Denis haben einen Bären gesehen |
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Willkommene Publikums-Verstörung inmitten eines themenlastigen Wettbewerbs: Répertoire des villes disparues von Denis Côté | ||
(Foto: Couzin Films) |
Von Dunja Bialas
Dass die Berlinale mit Krankheiten nicht zimperlich ist, gehört zur Festival-Folklore. Auch mich hat es diesmal erwischt. Schnupfengeplagt sitze ich im größten Krankenzimmer Deutschlands, dem Berlinale-Palast, um mich herum hustet und schnieft es. In meiner Thermoskanne ACC und Ibuprofen. Dann gibt auch noch das Laptop seinen Geist auf, als hätte es sich von der allgemeinen Geschwächtheit anstecken lassen, oder mir zumindest partout eine Zwangspause einräumen wollen. Am Montag gehen wir zum Computer-Doktor.
Durch alle Fieberträume hindurch haben es die Filme vielleicht etwas schwerer. Dennoch ist klar: Auch in seinem letzten Jahr war Dieter Kosslick nicht zimperlich. Hat die alten bekannten Regie-Hasen eingeladen, deren unabdingliches Los es wohl ein für allemal ist, auf der Berlinale ihr Dasein zu fristen (und es nicht nach Cannes oder Venedig zu schaffen). Besonders hart trifft es Denis Côté. Seine Filme liefen zunächst auf dem Forum, vor ein paar Jahren hat er dann den Sprung in den Wettbewerb geschafft. Mit Vic et Flo ont vu un ours (Vic und FLo haben einen Bären gesehen) gewann er immerhin 2013 den Alfred-Bauer-Preis, den Trostpreis für alle Filmemacher, die aus der Reihe tanzen. Jetzt präsentierte er um 8 Uhr 30 der Presse sein neuestes Werk, Répertoire des villes disparues, und kehrt damit nach einem Ausflug in die aufwendige Inszenierung von Boris sans Béatrice (Berlinale 2016) zu alter Größe zurück.
Répertoire des villes disparues ist kein Film, den man leichthin im Wettbewerb erwarten würde. Côté hat in schmutzigem 16mm gedreht, seine Geschichte, die wie er in seinem großartigen Debüt Les états nordiques (2005, Gewinner des Goldenen Leoparden, Locarno) und Curling (2010, ebenfalls Locarno-Wettbewerb) in Québec ansiedelt, ist grau in grau, der Himmel, die Häuser, sogar die Menschen. Überall liegt Schnee. Es ist kalt, eiskalt. In dieses trist-realistische Setting pflanzt Côté einen Mystery-Thriller, ausgehend vom rätselhaften Tod eines jungen Menschen, der mit seinem Auto gleich zu Beginn des Films brachial gegen einen Felsbrocken steuert. Kinder mit Masken, die wie ein antiker Chor in Film immer wiederkehren und stumm das Geschehen kommentieren, durch ihre schiere Präsenz, werden auch hier zu staunenden Zeugen. Später ereignen sich weitere, äußerst merkwürdige Dinge. Zombies tauchen vor den Häusern auf. Sie alle waren früher mal die Bewohner des abgelegenen, sich zunehmend entvölkernden Ortes. Später ereignet sich eine Levitation: eine Jungfrau schwebt zwischen den Windturbinen. Mit anderen Worten: Denis Côté hat in seinem jüngsten Werk überhaupt keine Scheu mehr, zu seinem jugendlichen Leicht-Sinn zurückzukehren. Er inszeniert, was er und wie er will. Oder: Denis Côté meets Bruno Dumont, für alle, die die Mini-Serie »Petit Quinquin« des französischen Regisseurs gesehen haben, in dem ebenfalls Zombies und Levitation keine unbedeutende Rolle spielen.
Dabei ist der Film von Denis Côté keinesfalls sinnentleert, im Gegenteil. Aber anders als viele seiner Regiekollegen grundiert er zunächst eine absurd-phantastische Inszenierung, versetzt mit Horror-Elementen, vor deren Hintergrund sich das ernsthafte Thema der Landflucht und des sich entvölkernden Québecer Hinterlands abspielt. Eine willkommene Publikums-Verstörung inmitten eines themenlastigen Wettbewerbs.
Allein mit dem Eröffnungsfilm hatte sich dieser bereits ins Aus gekickt. Ein durch und durch schlechter Film war Lone Scherfigs The Kindness of Strangers und eine Ohrfeige ins Gesicht aller Frauen, die domestic violence, also häusliche Gewalt, einmal selbst erfahren haben. Die dänische Regisseurin lässt ihre Protagonistin mit den beiden Söhnen vor ihrem gewalttätigen Ehemann (ein Polizist!) nach New York (Manhattan!) fliehen. Dort klaut sie sich durchs Leben (schickes Kleid, schicke Schuhe, schicke Handtasche), und plündert die Büffets der Reichen. Bald wollen ihre Kinder nur noch Kaviar zum Frühstück. Zum Glück lernt sie einen charismatischen Koch kennen, der sie bei sich wohnen lässt. Er ist ein ehemaliger, natürlich unschuldig verknackter Gefängnisinsasse, hat eine Ader für alle Gestrauchelten und erkennt die Ungerechtigkeit der Welt. Wie alle Figuren in diesem Aschenputtel-Märchen. Überall herrscht Nächstenliebe, allerdings wird sie auf einer dem Realismus komplett abgewandten Seite inszeniert. Geld, Kaviar und die Liebe fliegen hier wie gebratene Täubchen in den Mund, man muss ihn nur weit genug zum Staunen aufsperren. Das macht die ansonsten wundervolle Zoe Kazan auch brav und schleppt ihre Kinder durch Manhattan, das sogar eine Suppenküche hat. Alles geht gut aus, das einzige, was sich Lone Scherfig verkneift, ist die finale Zusammenführung des Traumpaares (Tahar Rahim spielt den Koch mit Verführungskünsten). Aber immerhin kauft sie ihm eine Badehose als Dankeschön für die wunderbare Zeit und in Hinblick auf future projects.
Was ist, wenn Schauspieler nun wirklich nichts dafür können, wenn sie in einem durch und durch schlechten Film mitspielen? Können sie ihn noch retten? Wohl kaum. Zumindest aber ist, bis auf den aufgesperrten Staune-Mund, gutes Schauspiel am Werk.
Nimmt man den Eröffnungsfilm als Statement für weibliches Filmemachen und die berühmt-berüchtigte Themenlastigkeit des Berlinale-Wettbewerbs, dann hat dieser auf allen Ebenen versagt. Lone Scherfig, die schon so tolle Filme wie Italienisch für Anfänger gemacht hat und überhaupt aus dem dänischen Dogma hervorkam, lässt hier den Kontakt zum Leben vermissen. Will sie uns von der Universalität sozialer Misere erzählen, indem sie ein billiges Aschenputtelmärchen daraus macht? Zumindest sind die Haare auch nach monatelanger Obdachlosigkeit immer schön onduliert. Chapeau. Frauen müssen auch nicht arbeiten oder sich einen Job suchen, große Augen und ein ebensolcher Mund genügen, um sich durchs Leben zu schnorren. Willkommen im 21. Jahrhundert.
Mit Spannung, größter, wurde Fatih Akins neuestes Werk erwartet. Der goldene Handschuh, eine mit dem Autor einvernehmliche Verfilmung des gleichnamigen Romans von Heinz Strunk (er hat selbst einen kleinen Auftritt in der berühmt-berüchtigten St.-Pauli-Kneipe, die das Zentrum alles Abschaums ist). Der Film erwies sich als Mischung aus Kuriositäten-Kabinett, »Jack the Ripper« und brutaler Groteske. Auffällig leider auch hier die Unaufrichtigkeit und Doppelbödigkeit der Inszenierung. Akin lässt die Chance verstreichen, ein abscheuliches Sittengemälde zu zeichnen, von den Heruntergekommenen, Aussortierten, Alkoholkranken im Hamburg der 1970er Jahre, die nach dem Krieg einfach nicht mehr auf die Füße kommen. KZ-Waisen und Huren der Nachkriegszeit sind sie in Strunks faszinierend abstoßenden Roman, bei Akin sind sie Figuren aus Pappmaché, die mit Grusel-Ingredienzien ausgestattet sind. Alle Frauen sind hässlich, alt und ungewaschen (außer einer), Honka, der Frauenmörder, um den es hier geht, ist oberhässlich und oberdumm. Die Maske, so wird in der Film-Berichterstattung immer wieder betont, hat volle Arbeit geleistet und aus dem schmucken, jungen Jonas Dassler ein entstelltes Monster gemacht. Hässlich ist hier auch böse. Wo Strunk seinen Roman vielschichtig anlegt und den frauenmordenden Honka zunächst einmal als sensible Identifikationsfigur zeigt, die verzweifelt versucht, ein bürgerliches Leben ohne Alkohol, aber mit Arbeit und später vielleicht auch einer Frau zu führen, ist bei Akin von Anfang an nur der abstoßende Frauenmörder sichtbar. Verurteilt wird hier ohne Liebe. Es folgt ein ziemlich stupendes Nummerntheater, das sich zwischen dem »Goldenen Handschuh« und der Wohnung von Honka abspielt, mit den immer gleichen Zutaten: Korn und Zorn. Und blutige Teile von Frauenleichen: Oberschenkel, Rümpfe. Alles ist auf Schock inszeniert, Akin wollte die Gewalt unbedingt vor der Kamera sich abspielen lassen. Auf der Pressekonferenz brüstet er sich damit, er hätte seinen Figuren ihre Würde zurückgegeben. Bei all den oberflächlichen Schaueffekten ist das kaum zu glauben.
Auch wenn Heinz Strunk diesem Film sein Placet gegeben hat, sollte man lieber das Buch lesen, falls man wirklich an einem Honka und seiner mörderischen Seele interessiert ist. Aber darf man das? Muss in Deutschland nicht alles Abgründige zur Schenkelklopfer-Groteske werden, um rezipierbar zu sein?
Keine ist weiter entfernt von der Groteske als Angela Schanelec. Sie ist mit Ich war zuhause, aber... ebenfalls im Wettbewerb zu sehen, spröde wie eh und je. Der fragmentarische, nicht zu Ende geführte Satz enthält bereits die ganze Poetologie ihrer Studie einer Mutter, die nicht mehr kann. Schanelec zeigt sich in ihrer Inszenierung extremer als noch in Der traumhafte Weg. Während dort noch die verhalten auserzählte Geschichte Rätsel aufgab, welchen Weg die Regisseurin eigentlich einschlagen wollte, scheint sie ihn hier gefunden zu haben. Kleinste Andeutungen an eine Geschichte, Vorgeschichte, genügen ihr, um den Seelenzustand einer Frau zu zeichnen, der sich allein in den beobachtbaren Handlungen manifestiert. Diese sind allesamt schön banal. Ein Fahrrad wird gebraucht gekauft, und mühsam wieder zurückgegeben, weil es ein klarer Fehlkauf war. Die Lehrerkonferenz entscheidet über den Verbleib des Sohnes an der Schule, der längere Zeit von zu Hause weggelaufen war. Er ist schmutzig, verletzt. Die Mutter (Maren Eggert) ist eine Mischung aus Rabenmutter und Muttertier. Sie kreuzt unvermutet bei den Lehrern auf, kämpft für ihren Sohn. Dann wieder platzt ihr wegen eines Nichts der Kragen, und sie schmeißt ihre Kinder aus der Wohnung. All diese Inkonsistenzen ihrer Handlungen, die Heftigkeit und Grobheit ihrer Gesten, fügen sich zu dem unpsychologischen Psychogramm einer Frau in der Krise. Das alles ist ebenfalls fern eines Abbildungsrealismus inszeniert, aber offeriert viel Wahrhaftigkeit, die direkt unter die Haut geht. Und auch hier gilt, wie bei Denis Côté: Meilenweit entfernt vom Themenfilm entfaltet sich durch die Kunst, durch pure Andeutungen zu erzählen, eine kraftvolle Geschichte, die ganz und gar in die Tiefe geht. Es ist klar, wem wir die Daumen für den Bären drücken.