24.05.2019
72. Filmfestspiele Cannes 2019

Anzie­hungs­kräfte

Rebecca Zlotowski: Une fille facile
Rebecca Zlotowski: Une fille facile
(Foto: Wild Bunch / Alamode)

Der vierte Film der Französin Rebecca Zlotowski, Une fille facile, erscheint zunächst wie ein leichtes Sommerstück, erweist sich dann aber ziemlich doppelbödig

Von Sedat Aslan

An einer einsamen Mittel­meer­bucht liegt eine halb­nackte junge Frau im Sand, steigt grazil über die Steine am Ufer, lässt sich im blauen Wasser treiben. Die Kamera bemüht sich nicht um Diskre­tion, der Stand­punkt ist aus einer sicheren und deutlich erhöhten Position. Ist das der Blick eines Voyeurs, oder ist es das genaue Gegenteil – und wie ließe sich dies überhaupt defi­nieren?

Rebecca Zlotowski dreht alle drei Jahre einen Langfilm, Une fille facile, der in der Reihe »Quinzaine des Réali­sa­teurs« läuft, ist ihr vierter. Darin erzählt sie das Coming-of-Age von Naima (Mina Farid in einem starken Debüt), die mit ihrer allein­er­zie­henden Mutter in Cannes wohnt. Im Sommer, kurz nach ihrem 16. Geburtstag, bekommt Naima Besuch aus Paris: ihre ältere Cousine Sofia kleidet sich aufrei­zend, hat ein Tattoo über dem Steiß und ist sehr ausgeh- und kontakt­freudig – alles Sachen, die die deutlich zurück­hal­ten­dere Naima nicht gerade kenn­zeichnen. Sofia bringt dann auch etwas wie will­kom­mene Unruhe in Naimas Leben, sie gibt ihr Make-up- und Dating­tipps. Naima lässt sich darauf ein und weicht fortan nicht von ihrer Seite. Wie zwei ungleiche Schwes­tern tauchen sie ins Nacht­leben der fran­zö­si­schen Riviera ein und lernen aufgrund von Sofias Anzie­hungs­kraft schnell zwei wohl­ha­bende ältere Männer kennen, auf deren Yacht sie sich umgarnen lassen.

Zlot­kowski ist nicht unbedingt für plot­las­tige Filme bekannt, und dies zeigt sich auch hier: die Geschichte ist geradezu dünn und leidlich befrie­di­gend auser­zählt. Sie mäandert ohne große Wendungen vor sich hin, bis ein speku­la­tiver Vorfall für ein abruptes Ende sorgt. Naimas Figu­ren­bogen wird forciert geschlossen, wenig stil­si­cher begleitet von einer Montage ihrer »Most Memorable Moments«, und bis auf eine, recht deutliche Ausnahme werden alle Neben­fi­guren lächer­lich gemacht. Die ausge­bil­dete Dreh­buch­au­torin Zlot­kowski scheint sich in ihren Regie­ar­beiten mehr für Bilder, Stim­mungen und Beob­ach­tungen zu inter­es­sieren, und nimmt ihre eigenen Bücher nicht für so wichtig, als dass diese ihre Filme drama­tur­gisch streng regle­men­tieren würden. Sie zeigt lieber, als dass sie erzählt.
Darin lässt sich auch ihre Stärke als Regis­seurin und das große Plus dieses Films erkennen. Naimas kindliche Neugier auf ein selbst­be­stimmtes und unge­zü­gelt geführtes Leben, wie es ihr ihre erwach­sene Cousine vormacht, wird durch kleine Momente, und seien es nur Blicke, auf eine fast intime Art spürbar. Die wider­sprüch­liche Dynamik und gleich­zei­tige Loyalität der beiden jungen Frauen zuein­ander ist das emotio­nale Zentrum des Films, dem sich alles unter­ordnet. Beide Figuren reprä­sen­tieren das Prinzip des Apol­li­nisch-Diony­si­schen, und Naima wird durch ihre stille Bewun­de­rung Sofias immer mehr auf die Seite des Letzteren gezogen; ihre erwa­chende Sexua­lität ist dafür ein Kata­ly­sator, und stößt bald an natür­liche Grenzen.

Auch wenn Une fille facile vorgeb­lich von Naimas Entwick­lung handelt, ist das eigent­liche Faszi­nosum die titel­ge­bende Figur der Sofia, die der Newco­merin Zahia Dehar auf den Leib geschnei­dert ist, und jederlei Kate­go­ri­sie­rungen ins Leere laufen lässt. Sie nimmt die alther­ge­brachten Geschlech­ter­rollen bewusst an, verführt ältere wohl­ha­bende Männer im Hand­um­drehen und geht nach dem Sex mit deren Kredit­karte teuer shoppen. Ist dies die Demons­tra­tion einer Selbst­er­mäch­ti­gung, einfach nur billig, oder nicht pauschal in eine dieser beiden Kate­go­rien einzu­ordnen? In der über­ra­schendsten Szene erweist sie sich gegenüber einer älteren und auf gebildet tuenden Kontra­hentin, die Sofia auflaufen lassen möchte, auf Augenhöhe, als es um die Liebe zur Literatur und Kritik an Schön­heits­ope­ra­tionen geht. Aller­spä­tes­tens hier ist klar, dass der Titel vor allem ironisch zu lesen ist. Was Sofia zu ihrem Lebens­wandel treibt, bliebt dabei offen, der kürzlich erfolgte Tod ihrer Mutter reicht nur für ein Mindestmaß an Psycho­lo­gi­sie­rung.

Ebenso subtil, nämlich ohne offene Debatte oder Posi­tio­nie­rung, thema­ti­siert der Film auch das Problem des Sexismus. Die eingangs ange­spro­chene Eröff­nungs­se­quenz des Films kann man aus der Perspek­tive zweier später im Film tatsäch­lich auftau­chender Jungs begreifen, die Sofia anbaggern. Die Kamera (George Lechap­tois) sieht aber auch sonst gerne hin, wenn die Figur der Sofia ihre Brüste entblößt, oder ihr Hintern sich durch einen fast trans­pa­renten Rock abzeichnet. Ferner leistet Sofia keinen Wider­stand, wenn sie Opfer sexueller Objek­ti­fi­zie­rung wird. Sie wird als »Hure« beschimpft, hört aber nicht hin und kämpft erst recht nicht dagegen an. Wenn ein Mann dies genau so insze­niert hätte, wäre ihm in Cannes zu recht wohl die Hölle heiß gemacht worden. Hier jedoch stellt sich die Frage, ob das die Figur der Sofia nicht nur noch stärker macht. Ob dies nicht ein (Meta-)Kommentar zur derzei­tigen Debatte ist. Ob Sofia überhaupt als voll­wer­tige Figur begriffen werden kann, sondern nur ein perso­ni­fi­ziertes Erwe­ckungs­er­lebnis Naimas darstellt. Ferner erscheint es von einem gewissen Stand­punkt aus berech­tigt, der Filme­ma­cherin vorzu­werfen, sie bediene sich der Mittel, die sie zu kriti­sieren vorgibt und nähme nicht energisch genug dazu Stellung. Es kommt, wie bei der Position der Kamera, eben auf den eigenen Stand­punkt an, und dazu animiert der Film durch seine bewusst gesetzten Leer­stellen.

Man sieht: Une fille facile ist ein Film, der als leichte Sommer­un­ter­hal­tung getarnt daher­kommt, wie ein Ausritt auf einer Yacht an der Côte d’Azur, aber einen doppelten Boden hat. Ein Film, der Fragen aufwirft, ohne simple Antworten zu geben – (k)ein einfacher Film eben.