72. Filmfestspiele Cannes 2019
Anziehungskräfte |
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Rebecca Zlotowski: Une fille facile | ||
(Foto: Wild Bunch / Alamode) |
Von Sedat Aslan
An einer einsamen Mittelmeerbucht liegt eine halbnackte junge Frau im Sand, steigt grazil über die Steine am Ufer, lässt sich im blauen Wasser treiben. Die Kamera bemüht sich nicht um Diskretion, der Standpunkt ist aus einer sicheren und deutlich erhöhten Position. Ist das der Blick eines Voyeurs, oder ist es das genaue Gegenteil – und wie ließe sich dies überhaupt definieren?
Rebecca Zlotowski dreht alle drei Jahre einen Langfilm, Une fille facile, der in der Reihe »Quinzaine des Réalisateurs« läuft, ist ihr vierter. Darin erzählt sie das Coming-of-Age von Naima (Mina Farid in einem starken Debüt), die mit ihrer alleinerziehenden Mutter in Cannes wohnt. Im Sommer, kurz nach ihrem 16. Geburtstag, bekommt Naima Besuch aus Paris: ihre ältere Cousine Sofia kleidet sich aufreizend, hat ein Tattoo über dem Steiß und ist sehr ausgeh- und kontaktfreudig – alles Sachen, die die deutlich zurückhaltendere Naima nicht gerade kennzeichnen. Sofia bringt dann auch etwas wie willkommene Unruhe in Naimas Leben, sie gibt ihr Make-up- und Datingtipps. Naima lässt sich darauf ein und weicht fortan nicht von ihrer Seite. Wie zwei ungleiche Schwestern tauchen sie ins Nachtleben der französischen Riviera ein und lernen aufgrund von Sofias Anziehungskraft schnell zwei wohlhabende ältere Männer kennen, auf deren Yacht sie sich umgarnen lassen.
Zlotkowski ist nicht unbedingt für plotlastige Filme bekannt, und dies zeigt sich auch hier: die Geschichte ist geradezu dünn und leidlich befriedigend auserzählt. Sie mäandert ohne große Wendungen vor sich hin, bis ein spekulativer Vorfall für ein abruptes Ende sorgt. Naimas Figurenbogen wird forciert geschlossen, wenig stilsicher begleitet von einer Montage ihrer »Most Memorable Moments«, und bis auf eine, recht deutliche Ausnahme werden alle Nebenfiguren lächerlich gemacht.
Die ausgebildete Drehbuchautorin Zlotkowski scheint sich in ihren Regiearbeiten mehr für Bilder, Stimmungen und Beobachtungen zu interessieren, und nimmt ihre eigenen Bücher nicht für so wichtig, als dass diese ihre Filme dramaturgisch streng reglementieren würden. Sie zeigt lieber, als dass sie erzählt.
Darin lässt sich auch ihre Stärke als Regisseurin und das große Plus dieses Films erkennen. Naimas kindliche Neugier auf ein selbstbestimmtes und ungezügelt geführtes
Leben, wie es ihr ihre erwachsene Cousine vormacht, wird durch kleine Momente, und seien es nur Blicke, auf eine fast intime Art spürbar. Die widersprüchliche Dynamik und gleichzeitige Loyalität der beiden jungen Frauen zueinander ist das emotionale Zentrum des Films, dem sich alles unterordnet. Beide Figuren repräsentieren das Prinzip des Apollinisch-Dionysischen, und Naima wird durch ihre stille Bewunderung Sofias immer mehr auf die Seite des Letzteren gezogen; ihre
erwachende Sexualität ist dafür ein Katalysator, und stößt bald an natürliche Grenzen.
Auch wenn Une fille facile vorgeblich von Naimas Entwicklung handelt, ist das eigentliche Faszinosum die titelgebende Figur der Sofia, die der Newcomerin Zahia Dehar auf den Leib geschneidert ist, und jederlei Kategorisierungen ins Leere laufen lässt. Sie nimmt die althergebrachten Geschlechterrollen bewusst an, verführt ältere wohlhabende Männer im Handumdrehen und geht nach dem Sex mit deren Kreditkarte teuer shoppen. Ist dies die Demonstration einer Selbstermächtigung, einfach nur billig, oder nicht pauschal in eine dieser beiden Kategorien einzuordnen? In der überraschendsten Szene erweist sie sich gegenüber einer älteren und auf gebildet tuenden Kontrahentin, die Sofia auflaufen lassen möchte, auf Augenhöhe, als es um die Liebe zur Literatur und Kritik an Schönheitsoperationen geht. Allerspätestens hier ist klar, dass der Titel vor allem ironisch zu lesen ist. Was Sofia zu ihrem Lebenswandel treibt, bliebt dabei offen, der kürzlich erfolgte Tod ihrer Mutter reicht nur für ein Mindestmaß an Psychologisierung.
Ebenso subtil, nämlich ohne offene Debatte oder Positionierung, thematisiert der Film auch das Problem des Sexismus. Die eingangs angesprochene Eröffnungssequenz des Films kann man aus der Perspektive zweier später im Film tatsächlich auftauchender Jungs begreifen, die Sofia anbaggern. Die Kamera (George Lechaptois) sieht aber auch sonst gerne hin, wenn die Figur der Sofia ihre Brüste entblößt, oder ihr Hintern sich durch einen fast transparenten Rock abzeichnet. Ferner leistet Sofia keinen Widerstand, wenn sie Opfer sexueller Objektifizierung wird. Sie wird als »Hure« beschimpft, hört aber nicht hin und kämpft erst recht nicht dagegen an. Wenn ein Mann dies genau so inszeniert hätte, wäre ihm in Cannes zu recht wohl die Hölle heiß gemacht worden. Hier jedoch stellt sich die Frage, ob das die Figur der Sofia nicht nur noch stärker macht. Ob dies nicht ein (Meta-)Kommentar zur derzeitigen Debatte ist. Ob Sofia überhaupt als vollwertige Figur begriffen werden kann, sondern nur ein personifiziertes Erweckungserlebnis Naimas darstellt. Ferner erscheint es von einem gewissen Standpunkt aus berechtigt, der Filmemacherin vorzuwerfen, sie bediene sich der Mittel, die sie zu kritisieren vorgibt und nähme nicht energisch genug dazu Stellung. Es kommt, wie bei der Position der Kamera, eben auf den eigenen Standpunkt an, und dazu animiert der Film durch seine bewusst gesetzten Leerstellen.
Man sieht: Une fille facile ist ein Film, der als leichte Sommerunterhaltung getarnt daherkommt, wie ein Ausritt auf einer Yacht an der Côte d’Azur, aber einen doppelten Boden hat. Ein Film, der Fragen aufwirft, ohne simple Antworten zu geben – (k)ein einfacher Film eben.