36. Filmfest München 2019
Zwischen Sprachlosigkeit und großen Gefühlen |
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Überraschende, auch überraschend witzige Wendungen und Spannung bis zum Schluss: Invisible Sue | ||
(Foto: Farbflim) |
Von Christel Strobel
Neun Langfilme und sechs Kurzfilme waren für das Münchner Kinderfilmfest – das wie das Filmfest zum 37. Mal stattfand – ausgewählt worden. Überwogen bei den Kurzfilmen mit fünf Beiträgen die Animationsfilme, so stellten sie nur ein Drittel der Langfilme, aber überraschend mit Lotte Und Die Verschwundenen Drachen (Janno Pöldma, Heiki Ernits, Estland/Lettland) den Publikumspreisträger. Der mit 78 Minuten heute schon fast kurze Film ist die dritte Folge einer lustigen Idee, in deren Mittelpunkt das wissbegierige Hundemädchen Lotte steht. Diesmal hat Lotte es mit dem neugeborenen Schwesterchen Roosi zu tun und mit zwei weltreisenden Professoren auf der Suche nach überlieferten Volksliedern. Ein netter Film ohne Aufregungen oder gar spannende Innovationen, der die Gunst der jüngeren Kinder (ab 5 J.) gewann und wie seine beiden Vorgänger fürs Kinderkino verfügbar gemacht wird (Herbst 2019).
Ebenfalls aus Lettland, in Koproduktion mit Polen, kam der Zeichentrickfilm Jacob, Mimmi und die sprechenden Hunde von Edmunds Jansons, der ein allseits bekanntes Thema – Abriss eines gewachsenen Stadtviertels – in ansprechenden wie originellen Bildern erzählt. Der siebenjährige Jacob zeichnet gerne, vor allem Baupläne und Hochhäuser, denn er möchte einmal Architekt werden wie sein Vater. Wegen einer einwöchigen Geschäftsreise des Vaters muss Jakob für eine Woche zu seiner Cousine, was ihn nicht begeistert. Mimmi lebt mit ihrem Vater Eagle, einem etwas seltsamen, aber gutmütigen ehemaligen Seemann und Piraten, in Maskachka, einem historischen Vorort von Riga. Hier macht Jacob die Bekanntschaft mit einem Rudel im wahrsten Sinne bunter Hunde, die sogar sprechen können und Boss, der größte von ihnen, sagt, wo’s lang geht. Jakob entdeckt mit Maskachka auch eine noch nie zuvor gesehene Umgebung, die allerdings bereits von Manny Pie, einem mächtigen Bauunternehmer, bedroht wird. Der lässt schon mal schwere Baufahrzeuge im Park samt Abenteuerspielplatz auffahren, um Platz zu schaffen für sein gläsernes Wolkenkratzer-Viertel. Da müssen sich die beiden Kinder zusammenraufen, um gemeinsam etwas dagegen zu unternehmen, was mit mutigen wie pfiffigen Aktionen und nicht zuletzt mit der Hilfe des sprechenden Hunde-Rudels gelingt. Edmunds Jansons’ Langfilmdebüt, der auch als Illustrator von Kinderbüchern tätig ist, entstand nach dem preisgekrönten Kinderbuch „Maskackas stasts“ der lettischen Autorin Luize Pastore und ist ein rundum gelungener und fürs jüngere Kinopublikum (6-10 Jahre) besonders geeigneter Kinderfilm.
Ganz weit weg, in ein tibetisch-buddhistisches Bergdorf im nordindischen Ladakh, der Bergregion des Himalaya, führt der in jeder Hinsicht besondere Film Chuskit. So heißt das zu Beginn sechsjährige, furchtlos an allem interessierte Mädchen, das kaum erwarten kann, endlich wie der große Bruder in die Schule gehen zu können. Ein schwerer Sturz ändert alles, Chuskit kann nicht mehr laufen und ist fortan ans Haus gebunden, kann auch drei Jahre später ohne Hilfe nicht einmal das Bett verlassen. Nach alter Tradition hat der Großvater das Sagen in der Familie und für ihn ist an den Schulbesuch seiner Enkelin nicht zu denken, stattdessen soll sie ihre Grenzen akzeptieren. Doch Chuskit ist nicht nur klug und wissbegierig, sondern auch selbstbewusst und stur. Und langsam regt sich – bei allem gebotenen Respekt für den Großvater – auch Widerstand in der Familie. Der große Bruder organisiert beim Arzt in der Stadt einen Rollstuhl und baut einen mechanischen Lift, mit dem die Schwester endlich wieder allein das Haus verlassen kann. Nun ist nur noch der holprige Weg ein Hindernis, das mit der Hilfe der Dorfbewohner beseitigt wird. Sichtlich glücklich und stolz bewegt Chuskit ihren Rollstuhl in Richtung Schulhaus… Die Dokumentarfilm-Regisseurin Priya Ramasubban hat ihr Spielfilmdebüt nach einer wahren Geschichte realisiert und auch die Erfahrungen aus der Arbeit ihrer Schwester mit körperbehinderten, gelähmten Kindern in Ladakh mit einbezogen. Der auf etlichen internationalen Kinderfilmfestivals ausgezeichnete Film Chuskit beeindruckt in mehrfacher Hinsicht: Zum einen durch seine positive Grundhaltung, mit der das beeinträchtigte Leben eines Mädchens geschildert wird, zum anderen durch die atemberaubend schöne Landschaft; und schließlich durch den unbedingten Wunsch des Mädchens, in die Schule zu gehen, der „Hunger auf Wissen“, was ein immer wiederkehrendes Thema in Kinderfilmen aus Indien, aber auch Iran oder afrikanischen Ländern war und ist, was Kinder hierzulande manchmal überraschen wird.
Aus der niederländischen Kinderfilmproduktion waren zwei Beispiele ausgewählt worden, die stark differierten. Meine Wunderbar Seltsame Woche Mit Tess ist ein wunderbarer Film für junge Zuschauer (Regie: Steven Wouterlood, empfohlen ab neun Jahren) mit der Leichtigkeit von Sommerferien an der See und ernsten Fragen über Familie, Freundschaft und überhaupt über das Zusammen-Leben, die sich der zehnjährige Sam und die etwa gleichaltrige Tess stellen. Den Film hat bereits Farbfilm-Verleih übernommen – eine Filmkritik folgt bei Kinostart. Im anderen Beitrag aus den Niederlanden, Super Miss (Regie: Martijn Smits nach der erfolgreichen niederländischen Kinderbuchreihe „Superjuffie“, Altersempfehlung 6-10 J.), bewegt sich die allzeit fröhlich-naive Junglehrerin Miss Josie, die mit einer mysteriösen Flüssigkeit in Berührung kam, immer wieder und völlig abrupt in giftgrünem Nebelwirbel durch die Lüfte, schlägt irgendwo auf, wo die Handlung weitergeht, kann plötzlich mit Tieren sprechen, hört deren Hilferufe in der Not und deckt im Zoo – im Nebelwirbel rechtzeitig zur Stelle, schließlich auch mit Unterstützung von ein paar mitwissenden Schülern – eine plumpe Entführung des Zoodirektors und einiger wertvoller Tiere auf. „Super Miss“ macht sprachlos mit seiner von Klischees durchtränkten und letztlich uninspirierten Handlung.
Ein Detektivabenteuer auch für ein jüngeres Publikum (empfohlen von 6 – 11 J.) ist der norwegische Film Mission Schattenmann von Grethe Bøe-Waal, der ebenfalls auf einer in Norwegen beliebten Kinderbuchreihe basiert. Die beiden Jungen Tiril und Oliver sind immer wieder als kleine Detektive unterwegs und aktuell einem rätselhaften Fall auf der Spur, der bis ins Jahr 1897 zurückreicht. Ihre Recherchen führen sie in ein Zeitungsarchiv, in die Gruft unter der Kapelle und mitten in Filmdreharbeiten. Unterstützt werden sie von einigen Erwachsenen aus dem Ort, von der blassen Pfarrerstochter und nicht zuletzt von dem gemächlich dahertrabenden Spürhund mit den Schlappohren und gutmütigen Augen. Das alles ist in einer sympathischen Weise kindgerecht inszeniert.
Invisible Sue, eine Verbindung von Action-, Superhelden- und Kinderfilm, ist der vierte Film in der von den TV-Anstalten und Filmförderern unterstützten Initiative „Der besondere Kinderfilm“, der seine Deutschlandpremiere zum Abschluss des Münchner Kinderfilmfests im sehr gut besuchten Rio Filmpalast hatte. Wie der Regisseur und Drehbuchautor Markus Dietrich im Gespräch verlauten ließ, ist er ein Science-Fiction-Fan seit seiner Kindheit, eine Leidenschaft, die er nun mit seinen Filmen auslebt. Sputnik, ein Kinderfilm über ein fantastisches Abenteuer im Herbst 1989, in dem ein Mädchen angeregt durch eine SF-Serie im Fernsehen, mit ihren Freunden eine Apparatur bastelt, mit der sie ihren in den Westen ausgereisten Onkel zurückbeamen will und von der Wende überholt wird, war Dietrichs erster Spielfilm in dieser Richtung. Mit Invisible Sue ist er nun in die Vollen gegangen: Nach einem Unfall im Labor, wo ihre Mutter als hochgehandelte Wissenschaftlerin arbeitet, kann sich ihre zwölfjährige Tochter Sue unsichtbar machen. Diese Erkenntnis muss sie erst begreifen, doch als ihre Mutter entführt wird, weiß Sue sofort, dass sie jetzt gefordert ist. Mit ihren Klassenkameraden App und Tobi beginnt sie die Spurensuche, lernt ihr neues Talent einzusetzen und trifft auf eine Verschwörung ungeahnten Ausmaßes. Ein Fantasyfilm mit schnellen Schnitten, überraschenden, auch überraschend witzigen Wendungen und Spannung bis zum Schluss. Dieser besondere Film spricht auch Nicht-SF-Fans an. Der Kinostart bei Farbfilm ist für den 31. Oktober angekündigt – eine ausführliche Filmkritik folgt zum Starttermin.
Von den Kurzfilmen sei zum Abschluss der einzige Realfilm in diesem Programm erwähnt, der mich zugleich am meisten rührte: Von Der Liebe Zum Kino von Askar Nurakun UUlu (Drehbuch, Regie, Schnitt, Kirgisistan 2017, 10 Min.). In der von Bergen begrenzten, großen kirgisischen Ebene sehen wir ein Auto über die Straße holpern, das im Dorf schon erwartet wird, nicht nur von einem kleinen Jungen auf der Straße, auch im Kino, einem in die Jahre gekommenen, kleinen Mehrzweckraum, wo der Operateur sein bescheidenes Equipment aufbaut – einen VHS-Player, eine improvisierte Leinwand, und eine Videokassette, die er bedächtig ins Gerät einschiebt. Derweil sitzen die ersten Besucher schon auf ihren Stühlen. Der kleine Junge will sich hineinschmuggeln, doch die Türe wird vor seiner Nase geschlossen. Er versucht auf einem „Podest“, das er herangerollt hat, einen Blick durch das Fenster zu erhaschen, in dem Moment wird die Gardine zugezogen. Doch dann hat sich drinnen das Band in der Videokassette verhakt und muss repariert werden. Die Besucher bleiben auf ihren Stühlen sitzen oder stehen draußen herum, der Junge erwartet die Rückkehr des Vorführers. Motorengeräusch kündigt das Auto an, einer nach dem anderen geht in den Saal zurück, der kleine Junge bleibt zögerlich stehen – mit einer Handbewegung winkt ihn der Vorführer noch herein… Ohne Worte, nur mit ein paar Geräuschen, ist „Von der Liebe zum Kino“ eine liebenswerte Hommage ans Kino.