76. Filmfestspiele von Venedig 2019
Ein Held unserer Zeit |
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Eine zeitgemäße Geschichte: Polanskis J'Accuse! |
»I have long wanted to make a film about the Dreyfus Affair, treating it not as a costume drama but as a spy story. In this way one can show its absolute relevance to what is happening in today’s world – the age-old spectacle of the witch hunt on a minority group, security paranoia, secret military tribunals, out-of-control intelligence agencies, governmental cover-ups and a rabid press.«
Roman Polanski, 2012»Die Leute, die ich anklage, kenne ich nicht, ich habe sie nie gesehen, ich hege weder Groll noch Hass gegen sie. Sie sind für mich nur Erscheinungen, Symptome der Krankheit der Gesellschaft. Und die Handlung, die ich hier vollziehe, ist nur ein radikales Mittel, um den Ausbruch der Wahrheit und der Gerechtigkeit zu beschleunigen.
Ich habe nur eine Leidenschaft, die des Lichtes, im Namen der Menschheit, die so viel gelitten hat und die ein Recht auf Glück besitzt. Mein flammender Protest ist nur der Schrei meiner Seele.«
Emile Zola: »J'Accuse!«
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Die erwartete, von manchen – wie mir – erhoffte Provokation unseres grassierenden Puritanismus und Identitätsfetischismus, der derzeitigen moralischen Hexenjagd in den westlichen Ländern, ist ausgeblieben. Natürlich ist Roman Polanskis J'accuse über die Dreyfus-Affäre, basierend auf Robert Harris' Roman »An Officer and Spy«, vor 125 Jahren, ein aktueller und sehr politischer Film.
Aber er ist das nicht offenkundig. Offenkundig ist nur, dass er eine unerzählte, aber überfällige Geschichte auf die Leinwand bringt.
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Diese Geschichte ist beschämend genug, wie sie ist. Polanski schildert nüchtern und klar die Fakten der Dreyfus-Affäre. Sein Film verzichtet auf alle billige Aktualisierung, auf Sensationalismus, auf boshafte Witze, die sich auf die Gegenwart beziehen.
Seine Herangehensweise ist im gewissen Sinn sehr klassisch. Der Film beginnt Anfang 1895 mit Alfred Dreyfus' öffentlicher Degradierung und Demütigung. Danach geht es hin und her zwischen dem Ablauf der Jahre 1895-1906 und
Rückblicken in die Vorgeschichte, die im Herbst 1894 in die Vorwürfe gegen Dreyfus mündete. Das Volk jubelt: »Die Römer warfen die Christen den Löwen vor, wir geben Ihnen die Juden – das ist doch ein Fortschritt.«
Polanskis Film ist ein bisschen eine Detektivgeschichte, in der die Gewinnung von Indizien im Zentrum steht. Vor allem ist dies auch die Geschichte eines bisher unbekannten, geradezu geheimen Helden, des Colonel Marie-Georges Picard, von dem ich persönlich bisher nicht wusste, der es aber immerhin später bis zum Minister gebracht hat.
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Dieser Film erinnert auch an den Kampf eines bestimmten Teils der politischen Linken, einer politischen Linken, die heute ganz vergessen ist: Einer politischen Linken die wirklich mit Radikalität gegen den existierenden Staat stand, auch wenn er formal eine Demokratie war, und die wirklich Widerstand geleistet hat gegen die Macht. So erinnert Polanski daran, was wirkliche Opfer im politischen Kampf sind, was andere Leute riskiert haben: ihr Leben, ihre Gesundheit, ihre Ehre.
Von solchen Positionen und von Menschen wie Emile Zola oder Georges Clemenceau ist unsere Gegenwart weit entfernt.
In vieler Hinsicht atmet der Film trotz alledem, trotz seiner Kritik und trotz der Lässigkeit, mit der Polanski die politischen und die gesellschaftlichen Schwächen einer Massendemokratie aufzeigt, eine gewisse Nostalgie. Nostalgie für diese Epoche mit ihren schönen Innenräumen, den Büchern, einer Kommunikation, die ganz auf Schrift und Papier basiert und
vollkommen ohne die modernen Kommunikationsmittel auskommt. Es gibt kaum Telefon, alles ist schriftlich, alles war in gewisser Weise organisiert, aber eben in Aktenschränken, in Akten-Behältern. In gewissem Sinn eine unschuldige Zeit, ein analoges Zeitalter, von dem noch die Jugend Polanskis durchtränkt war. Es ist auch eine Männerwelt. Die einzige für die Story relevante Frau wird von Polanskis Gattin gespielt, ansonsten sind Frauen tertiäres Beiwerk oder sie sind Huren. Dies ist
auch »Die Welt von Gestern« wie Stefan Zweig sie nannte.
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Dies ist eine Welt unkontrollierter Überwachung: Der Tarnname für den Geheimdienst heißt »Section Statistique«. Es gibt Verhaftungslisten für den Kriegsfall, Proskriptionslisten, 2500 Namen stehen da drauf. Piquard initiiert neue Methoden in seinem Amt: Nicht nur Sauberkeit, sondern auch effektive Kontrolle der Überwachung.
Später in einer Szene im Louvre, man steht vor Apoll, fragt ein Polizei-Detektiv, ob der aus Griechenland ist? Die Antwort: Nein aus Rom. Daraufhin
fragt er: Es ist also eine Fälschung? Daraufhin Picard: »Nein, eine Kopie, das ist nicht dasselbe.«
Polanski zeigt Bücherverbrennungen, Demonstrationen gegen jüdische Geschäfte, antisemitische Ausschreitungen und Schmierereien: Tod den Juden! Zugleich ist dies ein Film über die Lächerlichkeit der Armeen und des Militärischen.
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Polanski bringt die Erinnerung an eine vergessene Zeit in die Gegenwart zurück. Darüber hinaus ist dies zwar kein sehr zeitgemäßer Film, aber eine zeitgemäße Geschichte: Über die Hexenjagden der Gegenwart, von denen Polanski selbst ein Lied singen kann; über den Antisemitismus unserer Zeit in Frankreich wie Deutschland, über Überwachungswahnsinn, über Whistleblower.
(to be continued)