76. Filmfestspiele von Venedig 2019
Die Poesie des Flammenwerfers |
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Der Film des Festivals – Pablo Larraíns »Ema« | ||
(Foto: Koch Films) |
»Alles bewegt sich, alles fließt, alles vollzieht sich mit größter Geschwindigkeit. Eine Figur steht niemals unbeweglich vor uns, sondern sie erscheint und verschwindet unaufhörlich. Durch das Beharren des Bildes auf der Netzhaut vervielfältigen sich die in Bewegung befindlichen Dinge, ändern ihre Form und folgen aufeinander wie Schwingungen im Raum. [*c] Stellen wir nochmal fest, dass ein Porträt, um ein Kunstwerk zu sein, seinem Modell weder ähneln kann noch darf; und der Maler trägt die Landschaften, die er wiedergeben will, in sich. Um eine Figur zu malen, ist es nicht nötig, sie nachzubilden; ihre Atmosphäre muss wiedergegeben werden.«
Technisches Manifest der futuristischen Malerei », April 1910«»You wouldn’t believe what I've been through/ You've been so long/Well it’s been so long/
And I've been putting out the fire with gasoline/ Putting out the fire/ With gasoline«
David Bowie »Cat People«
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Ich mochte Pablo Larraín bisher nicht, ich mag ihn einfach nicht, seine Filme erscheinen mir prätentiös, gewollt, um Aufmerksamkeit zu buhlen, manieriert, von einem falschen Formalismus geprägt, zugleich eine erzkonservative bis reaktionäre Agenda zu haben. Und vieles von alldem könnte man auch über Ema sagen. Dieser ist, das kann man schon jetzt sagen, der Film des Festivals; er verdient einen Preis. Da ich mit keinerlei Erwartung hineingegangen bin, war die Überraschung umso größer.
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Die Bilder zeigen die Nacht über einer Hafenstadt. Eine Verkehrsampel brennt. Eine Frau blickt auf sie, geht dann ruhig weg.
Rätselhafte, poetische Bilder, manchmal surreal, manchmal sozialrealistisch. Es dauert eine Weile, bis sich aus ihnen ein Zusammenhang und eine Geschichte herausschält. Aber dieser fragmentarische, dezentrierte Eindruck hat Gründe. Er entspricht den Figuren und Situationen, von denen Pablo Larraín erzählt. Mit seinem siebten Spielfilm kehrt der
chilenische Filmemacher mit »Ema« nach seinem Hollywood-Ausflug mit Jackie wieder nach Chile zurück, genau gesagt in die Hafenstadt Valparaíso.
Im Zentrum steht die Titelfigur, eine junge Frau (Mariana Di Girolamo, super charismatisch), die als Tänzerin in einer Compagnie arbeitet, und nebenbei an Schulen unterrichtet. In kurzen facettenhaften Momenten, die sich in Zeit, Ort und Figuren schnell abwechseln, getrieben von der modernen Musik von Nicholas Jaar, zu der Ema tanzt, schält sich folgendes heraus: Ema ist mit dem Choreographen Gaston (Gael García Bernal) zusammen; weil er zeugungsunfähig ist, hatten sie ein Kind
adoptiert. Doch dieser Polo entpuppte sich als destruktives und gefährliches Kind: Er verbrannte das Gesicht von Emas Schwester schwer, worauf Ema und Gaston den Jungen den Behörden zurückgaben. Die Umgebung bestraft vor allem Ema dafür: An der Schule wird sie von den übrigen Lehrern gemobbt; zwei Szenen zeigen die Sozialarbeiterin, die den Ex-Eltern sagt: »fix your rotten heads before you adopt children.«
Ema, eine Cousine des Girl with the Dragon Tattoo, eine Millennial der besseren Art, also ohne Skrupel und Hypermoralismus, erscheint als Drifterin, als Verwandte der postapokalyptischen Furiosa; sie will kein »good girl« sein, wir folgen ihr durch die Nacht, und ahnen, dass sie schon längst über Wege nachdenkt, Polo, der bei neuen Adoptiveltern lebt, zurückzugewinnen.
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Der Film flaniert auf ihren Spuren durch ein poetisch verfremdetes Chile von heute. Man kann das prätentiös finden, aber eigentlich ist es auch sehr beiläufig erzählt. Man sieht sie tanzen, in Bars und auf Partys, bei Sex mit Männern wie Frauen, mit Freunden. Und sie kommt ihrem Ziel näher.
Unterbrochen wird das immer wieder von Montage-Passagen, in denen wir der Figur einfach folgen und sich Szenen lose aneinanderreihen. Von Tanzszenen, die mit Poesie aufgeladen sind.
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Ein Flammenwerfer taucht die Leinwand kurz in ein riesiges Feuer. Man sieht, wie Autos abgefackelt werden – Berlin grüßt voll klammheimlicher Freude.
Für Ema ist das Ernst und Spaß zugleich, feuriger Exzess, wenn sie ein Feuerteufel wird und in einer Szene Feuer spuckt, »wie das feurige Sperma eines Elefanten«, in einer anderen mit ähnlichem Vergnügen den Wasserwerfer eines Feuerwehrmannes betätigt.
Ema ist ein Märchen im
Delirium.
Larraín, der schon andere Phasen hatte, propagiert hier ein Kino, das die Idee einer photographischen Reproduktion der äußeren Welt, jenes Ideal der Spießer, ablehnt, und dynamische Empfindungen zeigen will. Gezeigt wird nicht ein Gegenstand, sondern der Rhythmus des in Bewegung befindlichen Gegenstands. Alle Formen von Nachahmung und Spiegelung – der Künstler und der Betrachter auf der einen, das Abgebildete auf der anderen Seite – sind überholt
und haben nichts mit der Wirklichkeit zu tun.
Man muss das alles nicht überhöhen, man sieht es einfach gern.
Das alles kommt mir sehr typisch chilenisch vor, ich kann mir Ema nicht als einen Film aus Argentinien oder Mexiko vorstellen. Auch nicht aus Spanien – was ich schreibe, weil man den Film am ehesten noch mit Melodramen vergleichen kann.
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»See these eyes so green/ I can stare for a thousand years/ Colder than the moon/
It’s been so long/ Feel my blood enraged/ It’s just the fear of losing you/«
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Dies ist der wohl beste Film im bisherigen Wettbewerb der Filmfestspiele von Venedig. Eine sehr positive Überraschung und endlich mal ein Film, der nicht nach 20 Minuten verstanden und vorhersehbar ist, nicht glatt ist, sondern gegenwärtig, rau und unklar. Larraín erzählt in Facetten, in unzusammenhängenden Szenen und immer wieder überraschenden Bildern. Ein Film, der aus der unübersichtlichen Gegenwart nicht Nihilismus schöpft, sondern Freiheit.
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Dietmar Dath hat es im FAZ-Blog besser gesagt, als ich es kann: »Bei Ema hört das Spiel der Frau, die hier eine Frau spielt, welche mit sich und anderen spielt, an keinem der Punkte auf, über die alle anderen Filme sich nicht heraustreten, es wird mit Haut und Haaren der Ernst vom Spiel verschlungen und umgekehrt, das Werk ist komplett pervers und Pablo Larraín ein Irrer. Aber ein sehr ruhiger. Ich meine das als Lob. Ich fürchte mich vor diesem Mann und vor seinem
Star, der unbegreiflichen Mariana Di Girolamo. Die sind nicht von hier, von dieser Welt, wo man Handeln einerseits und So-tun-als-ob andererseits unterscheiden kann. Die sind von einem Planeten, wo böse Musik wie Grundwasser unter allem strömt, siedend heiß, von Feuer nicht verschieden. Wer auf eine Pressekonferenz geht, um sich Filme wie Ema erklären zu lassen, wird nicht viel erfahren. Wer aber den Kopf auf den Boden legt, damit dieser Film drüberfahren
kann, wird was ganz Besonderes erleben.«
I teach freedom, beschreibt Ema sich selbst. Für den Film gilt das auch.
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Es ist bald Halbzeit bei den Filmfestspielen von Venedig. Das vergangene Wochenende brachte vor allem viele politische Stoffe, stilistisch Mainstream auf hohem Niveau.
Am Sonntagabend sind die Amerikaner nach Toronto weitergereist. Jetzt ist am Lido Autorenkino angesagt. Die Chilenen hatten am Sonntagabend ihre Party, die Venezuelaner auch, die Filmstiftung NRW immerhin ein Abendessen, zu der Fernsehredakteure und Dieter Kosslick eingeladen waren, und
wahrscheinlich ein paar erlesene Journalisten, wir aber leider nicht.
Das Wochenende in Venedig war auf allen Ebenen durchzogen von Politik: Die neue Regierung in Italien ist für dieses der Kunst in all ihrer irritierenden Kraft und Sperrigkeit gewidmete Filmfestival eine gute Nachricht. Täglich rechnet man damit, dass die Vertragsverlängerung mit dem sehr erfolgreichen Direktor Alberto Barbera bekanntgegeben wird.
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Politik fand sich aber auch auf der Leinwand in vielen Facetten: Der fesselnde Dokumentarfilm The Kingmaker handelt von 50 Jahren philippinischer Politik und im Besonderen von der einstigen First Lady Imelda Marcos, die im Westen vor allem für ihren Schuhfetischismus bekannt ist.
Dabei ist Marcos eine mit allen Wassern gewaschene Politische Professionelle, die noch mit über 90 daran arbeitet, die Reputation ihrer Familie wiederherzustellen, und
ihre Kinder in deren politischer Karriere zu unterstützen. Regisseurin Lauren Greenfield zeigt ein überraschend vielfältiges Porträt einer Frau, die allzu oft auf simple und rassistische Klischees reduziert wird. Sie zeigt auch, dass weibliche Macht nicht notwendig besser ist als männliche.
In The Laundromat erzählt Steven Soderbergh mit viel Witz und Starbesetzung die Geschichte der »Panama-Papers« als Farce mit tieferer Bedeutung. Ähnliches leistet
Altmeister Costa-Gavras, der in Adults in the Room die Geschichte der EU-Troika und der griechischen Schuldenkrise rekonstruiert – aus Sicht der Griechen gewürzt mit kritischen Spitzen vor allem gegen Merkel und die deutsche Austeritätspolitik und mit Ulrich Tukur als Wolfgang Schäuble.
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Noch einmal um ein Netzwerk geht es in The WASP-Network vom Franzosen Olivier Assayas. Im Unterschied zu den beiden vorgenannten Filmen ist dies aber keine Komödie mit klar verteilten Gut-Böse-Rollen, sondern ein hochkomplexes Vexierspiel aus Spionage und Gegenspionage, Masken unter denen neue Masken sichtbar werden. Asssayas erzählt nämlich mit viel Geduld und Lust an der Verwirrung der Perspektiven die wahre Geschichte jener kubanischen Agenten, die in
den 1990er Jahren die rechtsextremen exilkubanischen Netzwerke in Florida unterwanderten, wie die amerikanische Regierung Clinton Terrorakte gegen Touristenburgen auf Kuba unterstütze, Attentatspläne und Putschversuche, und duldete, dass all dies durch schmutziges Drogengeld finanziert wurde.
Erkennbar bewegt sich Assayas hier auf den Spuren seines Welterfolgs Carlos;
unterstützt von Stars wie Penélope Cruz und Gael García Bernal wirft er ein anderes, sympathischeres Licht auf Castros Kuba.
Alle diese Spiel-Filme über Politik haben eines gemeinsam: Sie zeigen Politik nicht als das Spiel einsamer großer Männer und Frauen, sondern als komplexes Handeln in Netzwerken.
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Kaum zu glauben, aber wahr: Die französische Auslandsfilmvertretungs-Organisation »Unifrance« veranstaltet ihren Venedig-Empfang ausgerechnet während der Presse-Vorführung des Films von Olivier Assayas. Offensichtlich interessieren sie sich nicht dafür. Eine solche Einladung suggeriert den Journalisten der Welt und den professionellen zumindest: Ihr müsst nicht in eine Assayas-Vorstellung gehen. Oder machen sie dies absichtlich, um diese Vorstellung zu entlasten, denn Samstagabend ist natürlich ein großartiger Termin, und diese Vorführung wird voll besetzt sein, nicht nur, weil alle Assayas sehen wollen, sondern weil Samstagabend-Vorführungen einfach immer voll besetzt sind.
(to be continued)