76. Filmfestspiele von Venedig 2019
In Zeiten der Hexenjagd |
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Vielfach verstümmelt: Gustav Machatýs Ekstase | ||
(Foto: Slaviafilm (CS) Eureka Productions (US)) |
Vor einer Woche wurde das Filmfestival von Venedig eröffnet. Zwei Filme hat Festival-Direktor Alberto Barbera am ersten Tag gezeigt. Beide keineswegs ohne Grund.
Der erste lief bereits einmal am Dienstag, dem 27.08., als Pre-Apertura: Extase von Gustav Machatý (1901-1963). Der hatte in Hollywood bei D.W. Griffith und Erich von Stroheim gelernt, bevor er in seine Geburtsstadt Prag
zurückkehrte. Extase entstand 1933 und lief im gleichen Jahr in Venedig bei der zweiten Ausgabe der Filmfestspiele. Berühmt wurde er wegen der Nacktszene von Hedy Lamarr, und wurde in der Folgezeit vielfach verstümmelt, schließlich um alle Nacktszenen bereinigt. Selbst diese Fassungen hatten mit der Zensur und der Katholischen Kirche zu kämpfen.
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Der zweite Film war Irréversible – Straight Cut, oder, schöner auf Französisch: Inversion Intégrale. Darf man bei dem Wort »Straight« dessen Doppelsinn eigentlich mitdenken? Denken schon, formulieren nicht.
Jedenfalls ist dies die Neufassung des Skandalfilms Irreversibel von Gaspar Noé. Den Film nochmal nach so vielen Jahren zu sehen, war ein Erlebnis.
»An Experiment with Time« heißt das Buch, das Monica Bellucci in dem ersten Bild des Films, auf einer Wiese liegend, liest. Das Buch gibt es wirklich. Es stammt aus dem Jahr 1927 und entwickelt, grob gesagt, die Theorie, dass man mit Träumen die Zukunft vorausahnen kann.
Noé hat ihn jetzt neu geschnitten und die einst rückwärts erzählte Handlung chronologisch
geordnet.
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Gaspar Noé erklärt den Entschluss zur Alternativfassung folgendermaßen: »Why this film? Because the original was told backwards and many viewers, swamped by the anticlockwise structure of the editing, didn’t understand certain aspects of the story. Presented clockwise, everything is clear and also darker. No dialogues have been cut, nor have any events in the story. Which is why this version is called Straight Cut. Until now, Irréversible was a deliberate puzzle. Now
it’s a diptych, like an old record whose B side is the less conceptual mix of the track on side A, but this time with voices that are more audible, rendering the meanings of the words more fatalistic.
You will see. Time reveals all things.«
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Und weiter: »This new cut is another film. ... In this clockwise cut, a few passages without dialogues created lulls in the action and it is for reasons of rhythm alone, not any kind of censorship, that they have been removed, making this version five minutes shorter than the original, ... Putting the scenes in clockwise order makes it easier to identify with the characters and understand the tale unfolding. The same story is no longer a tragedy, this time it is a drama that brings out the psychology of the characters and the mechanisms that lead some of them to a murderous barbarity ... While 'Irréversible' has sometimes been wrongly perceived as a „rape and revenge“ B movie, here the deadly outcome is all the more depressing. The film can be more easily seen as a fable on the contagion of barbarity and the command of the reptilian brain over the rational mind.«
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Die Wahl dieser beiden Filme zum Auftakt ist ein Statement. Ein kluges, klares politisches Statement. Zweimal Filme, die mit Zensur, und weniger juristischem als moralischem und puritanischem Reinigungsfuror zu tun haben.
Es sind Filme, die genau das machen, was manche Menschen, leider besonders Linke und Liberale, als »Rape-Culture« und »Missbrauch« und »Sexismus« diffamieren und unter Generalverbot stellen wollen.
Wenn das Festival dagegen jetzt auf diese geschickte, doch klare Art angeht, dann weil sich die Kampagnen zunehmend vom Objekt weg und zu den Veranstaltern hinwenden. Also gegen die Festivals. Es ist ein Akt der Selbstverteidigung des Festivals, der sich indirekt gegen die Anti-Polanski-Kampagne wendet, die im Vorfeld von Polanskis Wettbewerbsvorführung um Aufmerksamkeit gebuhlt hat.
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Man geht den Agenturen – inklusive dpa – in die Falle, die ihre Agenturmeldung verkaufen wollen, die sich für Filme nicht die Bohne interessieren und darum vermeintliche Skandale, vermeintliche politische Themen, die sich durch die Filme ziehen, als roten Faden nehmen und vermeintliche Nachlässigkeiten eines Festivals immer wieder durch ihre Meldungen blasen. So suggeriert man außerdem den Lesern und Hörern, dass dieses Thema wichtig sei, dass dies – Missbrauch, Vergewaltigung, Sexismus – überhaupt ein Thema sei, über das man (in Bezug auf Künstler) ernsthaft reden muss. Muss man aber nicht. Stattdessen muss man über Kunst reden, muss über Schönheit reden, muss nur über Dinge reden, die sich der schnellen Verwertbarkeit entziehen, nicht zuletzt der Verwertbarkeit in den Medien. Man muss Widerständigkeit entdecken, aber im Ästhetischen.
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Polanski ist nicht in Venedig, aber er ist doch da. Was wollen die? Was soll Polanski unserer Ansicht nach jetzt eigentlich tun, wenn er täte, was seine schnellen oberflächlichen Ankläger einfordern? Sich einer Justiz zu überantworten, welche die gleichen Menschen, die Polanski jetzt verfolgen, eigentlich von Grund auf verachten, und für rassistisch halten – zu Recht!
Es gibt wenig Irrationaleres und Dümmeres, als das Benehmen vieler Menschen im »Fall Polanski«.
Überhaupt können wir auf diesem Filmfestival in Venedig die Rückkehr des Irrationalen beobachten. Aber war es je weg?
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In Interviews zieht Polanski direkte Parallelen zwischen der Affäre Dreyfus und der öffentlichen Hexenjagd gegen ihn und stellt die kühne Behauptung auf: »Ich bin wie Dreyfus«. Der inzwischen 86-Jährige Roman Polanski ist nicht in Venedig, aber er ist einer der großen Meister des Kinos des 20. Jahrhunderts.
Aber dies ist kein moralisches Tribunal, sondern eine Mostra di Cinema, der Film muss sprechen, die Jury entscheiden und das Publikum, wenn es möchte, applaudieren.
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Die Vorwürfe gegen Polanski meinen das Festival. Sie vermischen sich mit anderem: Mit #MeToo-Zeitgeist, mit dem Hang dazu, abzuzählen, wie viele Filme »von Frauen« (gemeint ist: Von Regisseurinnen) im Wettbewerb laufen. Hauptsache Frauen, egal wie schrottig.
Nach der Logik kann man auch Quoten beschließen für Filme der Schwarzen, der Schwulen etc.
Festival-Direktor Alberto Barbera hat darauf seine eigene Antwort. Im Interview mit Le Film Francais erklärte Barbera: »Das einzige Kriterium eines Festivals muss die Qualität eines Films sein und keine anderen Gründe. ... Ich verabscheue die Idee der Quoten, ich finde sie beleidigend gegenüber den Frauen – das einzige Kriterium eines Festivals muss die Qualität eines Films sein und keine anderen Gründe.«
Zu Polanski erklärte Barbera: »Es existiert eine Hypersensibilität über die Themen, die mit #MeToo zusammenhängen. Polanski ist einer der größten europäischen Regisseure, die noch leben und aktiv sind, seine persönlichen Probleme mit der amerikanischen Justiz gehen mich nichts an. Man muss immer unterscheiden zwischen dem Menschen und dem Künstler, die Geschichte der Kunst ist voll von Menschen, die von manchen als Kriminelle angesehen wurden, die aber zur gleichen Zeit Meisterwerke geschaffen haben, die man bis heute liebt. Das ist der Fall bei Roman Polanski. Jeder darf seine Meinung haben über das, was er gemacht hat; aber ich bin sicher, dass sein Kino bleiben wird. In einigen Jahren wird man vergessen haben, was Polanski gemacht hat, seine Filme, ja, werden immer da sein für die Generation der Zukunft und die zukünftige Generation, das ist das, was meiner Ansicht nach zählt.«
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Die andere Seite des Moralismus ist die Geschichte von Kristin Stewart, die sie diese Woche erzählte. Ihr wurde nahegelegt, ihre Sexualität öffentlich zu verschweigen, dann könne sie »einen Marvel-Film« bekommen.
Stewart lehnte ab: »I think I just wanted to enjoy my life. And that took precedence over protecting my life, because in protecting it, I was ruining it. Like what, you can’t go outside with who you're with? You can’t talk about it in an interview? I was informed by an old school mentality, which is – you want to preserve your career and your success and your productivity, and there are people in the world who don’t like you, and they don’t like that you date girls, and they don’t like that you don’t identify as a quote unquote „lesbian“ but you also don’t identify as a quote unquote „heterosexual“. And people like to know stuff, so what the fuck are you?«
(to be continued)