76. Filmfestspiele von Venedig 2019
Grau in Grau |
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Flirrender, visuell atemberaubender und sehr musikalisch erzählter Bildersturm: Lou Yes Saturday Fiction | ||
(Foto: Wild Bunch) |
Ein Star kehrt zurück. Zurück auf den Roten Teppich von Venedig, wo sie 1991 für Rote Laterne den Silbernen Löwen gewann, zurück aber auch ins Scheinwerferlicht des Weltkinos, aus dem sie zuletzt etwas verschwunden war: Gong Li, die vor allem als Muse des Chinesen Zhang Yimou wesentlich mitbeteiligt war am rasenden Aufstieg des chinesischen Kinos in den neunziger Jahren und dem Weltruhm der »Fünften Generation« chinesischer Filmemacher. Jetzt stellt Lou Ye, einer der wichtigsten Vertreter der jüngeren »Sechsten Generation« Gong Li ins Zentrum seines neuen Films Saturday Fiction, der soeben im Wettbewerb um den Goldenen Löwen von Venedig seine Weltpremiere erlebte.
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Es ist ein flirrender, visuell atemberaubender und sehr musikalisch erzählter Bildersturm, den Lou Ye entfesselt. Die Handlung ist eine Spionage-Geschichte, zum Teil in Schwarz-Weiß. Es geht um Liebe, um Hoffnung und deren Enttäuschung, und um Verrat. Alles spielt in der Zeit des von den Japanern besetzten Shanghai im Zweiten Weltkrieg, aber vor Pearl Harbour – eine chinesische Version von Casablanca.
Gong Li spielt, wenn man so will, sich selbst: Eine Schauspielerin, die nach Hongkong in ihre Vergangenheit zurückkehrt, um dort ihren Ex-Mann zu befreien, der von den Japanern gefangen gehalten wird. Mit der Rückkehr öffnet sie eine Büchse der Pandora. Der Regisseur erinnert mit diesem Film an eine in Europa weitgehend unbekannte Zeit und Episode der asiatischen Geschichte: Denn Franzosen und Briten hatten 1941 kleine
Enklaven im besetzten Hongkong, Sicherheitszonen, die so sicher nicht waren. Vor diesem historischen Hintergrund entfaltet der Regisseur eine wilde, facettenreiche Geschichte, in deren Mittelpunkt eine magnetische Frau und Darstellerin steht.
Gut denkbar, dass dieser Film am Samstag von der Jury mit einem der großen Preise ausgezeichnet wird. Auch acht Tage nach Eröffnung der Filmfestspiele gibt es noch keinen klaren Favoriten auf den Goldenen Löwen.
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Einige Filme kamen sehr gut an. Etwa Roy Anderssons About Endlessness, der an eine Videoinstallation erinnert und in grau-blassen Pastellfarben Vignetten der Depression aneinanderreiht. Aber Andersson hat erst mit seinem letzten Film 2014 den Goldenen Löwen gewonnen.
Der Schwede Andersson erzählt keine geschlossene Handlung, sondern reiht Szenen aneinander. In der ersten fliegt ein Paar, fliegt in den Wolken, ohne Flügel mit leicht angewinkelten Körpern.
Im zweiten sieht man ein Paar im Park auf zwei Bänken sitzen. Sie sind nicht mehr jung, sondern knapp 60, uns ist der Rücken zugewendet, sie blicken in die Ferne über eine weiter unten gelegene Großstadt hinweg. Alles ist erkennbar Studio. Am Himmel fliegen ein paar digitale Vögel, Reiher,
Schwäne oder Enten. Nach einer Weile sagt sie: »Es ist schon September.« Er antwortet: »Mhmm...«
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So geht es weiter. Inszeniert in jener speziellen Ästhetik, für die Andersson berühmt ist: Fast alles ist erkennbar im Studio gebaut. Andersson liebt die Kontrolle, er kontrolliert seine Bilder und seine Szenerien genauso wie die Ämter die Menschen, für die sie zuständig sind. Die Räume und auch der Himmel sind in bestimmten Farben gehalten: Grau in Grau, Mauve, Eierschalenfarben, alles ein bisschen schmutzig, ein bisschen heruntergekommen – sozialpartnerschaftliche
Ästhetik. Das Grau aus den Filmen von Roy Andersson ist ein besonders graues Grau. Das Mauve ist ein Mauve, das zum Grau tendiert.
Die Zeit, in der das spielt, ist im Prinzip eine zeitlose Zeit, aber am ehesten liegt sie in den 50er, 60er und 70er Jahren des 20. Jahrhunderts. Pastellfarben beherrschen nahezu alles; es gibt keine klaren Farben, keine direkten Farben, keine Primärfarben.
Die Räume sind selten private Räume, sondern öffentliche Räume: ein Park ein Restaurant eine
Straße ein Bahnhof in der Arztpraxis eine Eckkneipe. Passagen, dritte Räume, Funktionsräume – dass wir Zuschauer darüber überhaupt nachdenken, ist der Effekt von Anderssons einmaligem Kino.
Anderssons Kino ist nahe der Installationskunst. Slapstick, mehr Jacques Tati als Monty Python. Wiederholung und Running Gags. Ein Kreis, der sich schließt.
I saw a man ist das Leitmotiv. Das ist der Rhythmus aller Szenen, ungefähr jede zweite wird mit dieser Formel eingeleitet, gesprochen von der Stimme einer jungen Frau.
Es folgen weitere Szenen: Ein Mann, ca. 60, erzählt, er habe in der Stadt einen ehemaligen Mitschüler wiedergetroffen und erkannt. Ein alter Mann im Restaurant. Er ist der einzige Gast, ein Kellner bedient ihn, er bestellt Rotwein, der Rotwein kommt, das Ritual des Weinkostens... Dann wird der Wein eingeschenkt und der Kellner macht das Glas nicht nur voll, er schenkt einfach den Wein immer weiter ein, so dass er überläuft und die weiße Tischdecke vollkleckert – für ein paar
Augenblicke hatte der Kellner seine Gedanken vergessen.
Ein Mann trägt ein Kreuz durch die Straßen von Stockholm. Zwei oder drei Schergen mit Peitschen treiben ihn an, zwingen ihn weiterzumachen, es ist wie der Weg nach Golgatha, aber heute oder vor 30-40 Jahren in einem modernen Sozialstaat, um ihn herum der Pöbel, der Mob »kreuziget ihn, kreuziget ihn«. Sozialhilfeempfänger, das sagt uns ihre Kleidung.
Ich muss da an Polanski denken. Wie viele würden Polanski gerne in
Wirklichkeit kreuzigen, wenn sie nur könnten?
Die Geräusche innen gehen ineinander über und verbinden die einzelnen Szenen. Ein Priester geht zum Analytiker, glaubt nicht an Gott, trinkt den Messwein alkoholisiert und ruft dann: »Mein Gott warum hast du mich verlassen? Mein Gott warum hast du mich verlassen?«
Alle Menschen hier wirken müde, manchmal reden sie zur Kamera. Die Menschen bei Anderson lachen kaum. Sie scheinen alle auf irgendetwas zu warten. Den Tod?
»Life is passing by and I haven’t accomplished anything« sagt ein verzweifelter Kleinbürger. Die Frau will ihn trösten und sagt: »Du warst bei den Niagarafällen, beim schiefen Turm von Pisa, auf dem Eiffelturm.«
Was soll das alles? Es sind Vignetten; Vignetten der Depression und der Traurigkeit des Lebens. Der Verzweiflung.
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Nur drei Szenenbilder fallen heraus: Eines zeigt Köln und den Kölner Dom Ende des Krieges. Das zweite: Den Führerbunker Ende des Krieges. An der Wand hängt ein Rembrandt-Bild. Dann kommt Hitler, ein Offizier sagt »Sieg Heil«. Und schließlich eine Szene mit deutschen Ostfront-Gefangenen. Das alles erschließt sich mir nicht. Außer dass Andersson deutsche Filmfördergelder ausgeben musste.
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Am Montag hat sich alles verändert. Bis Sonntag war Venedig in erster Linie ein amerikanisches Filmfestival, mit ein paar Gaststars aus Europa – eine Art aufgeblasenes und weniger elitäres Telluride. Montag war der Tag des Übergangs, ab Dienstag ist dies ein Festival des Autorenkinos. Selten war der Bruch so deutlich zu spüren wie diesmal. Was vielleicht damit zu tun hat, dass das Jahr 2019 keineswegs als Höhepunkt in der Geschichte von Venedig eingehen wird – dies ist
ein durchschnittliches Jahr, ich glaube sogar eher schlechter Durchschnitt.
Stark ist Venedig zwar immer. Aber dieses Jahr war ein vergleichsweise schwaches. Zu amerikalastig und dabei nicht abwechslungsreich genug, und nicht stark genug. Jeder einzelne Film für sich kann bestehen. Das Gesamtpaket, die Mischung stimmt diesmal weniger als in den beiden Vorjahren.
Natürlich ist Venedig den meisten anderen Filmfestivals immer noch meilenweit voraus. Die Berlinale der mindestens
letzten zehn Jahre kann hier nicht einmal ansatzweise mithalten, Locarno schon gar nicht. Und San Sebastian bei aller Liebe auch nicht.
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Wir müssen mehr über Ästhetik reden. Im Gegenwartskino gibt es viel, viel zu viel Illustrationskino, Filme, die nur bestimmte Thesen und Probleme illustrieren. Und so – themenfixiert – wird dann auch von vielen Medien darüber berichtet, vor allem den vielen, die sich für Kino nicht die Bohne interessieren.
Aber Festivaldirektor Alberto Barbera ist ja keiner, der eigentlich am liebsten Sozialarbeiter geworden wäre, oder Lehrer oder Politiker und unbedingt die Welt besser machen möchte oder den Menschen bestimmte Ideen aufzwingen möchte. Sondern was Alberto Barbera in erster Linie macht ist: Er kuratiert ein Kunstfestival. Er liebt die Kunst, er will gute von schlechter, bessere von schlechterer Kunst unterscheiden und möglichst die besten Filme auswählen, die schönsten, die innovativsten, die spannendsten. Das kann sich auf den Inhalt beziehen, in erster Linie bezieht es sich aber auf die Farbe. Deswegen sollte man auch die Filme, die er für Venedig auswählt, in erster Linie unter dem Gesichtspunkt der Ästhetik der Inszenierung begreifen, und erst in zweiter Linie unter den Kriterien Inhalt, Plot, Geschichte. Diese Plotlastigkeit, die soziale und politische Indienstnahme von Filmen für irgendeine Agenda, sei sie politisch, sei sie moralisch, sei sie Weltverbesserung, sei sie am Sozialverhalten orientiert... diese Indienstnahme der Filme ist der Tod des Kinos.
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Atom Egoyan, Aki Kaurismäki und Jim Jarmusch – drei verblassende Kino-Hoffnungen der 80er Jahre, die in den Neunzigern schon verwest sind. Bei Egoyan sind nach wie vor Exotica und The Sweet Hereafter seine besten Filme, seine zwei ersten. Ich konnte noch mit Where the Truth lies viel anfangen. Mit Felicia’s Journey schon weniger. Bei Kaurismäki fand ich immer alles manieriert, zu selbstgefällig und faul und nicht wirklich interessant und bei Jim Jarmusch sind auch die frühen Filme die besten und schon in den Neunzigern, wahrscheinlich schon mit Dead Man war dieser Regisseur müde, und ich kann mich erinnern, dass schon 1998, als Ghost Dog herauskam, viele Fans vor allem mäkelten. Ich war kein Fan und mäkelte nicht.
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Egoyans neuer Film ist in einem sehr trockenen Stil erzählt, und leider sehr unsinnlich. The Guest of Honour fällt schnell auseinander, sobald man erzählen möchte, worum es wirklich geht: Dann bleibt von dem verschachtelten Aufbau, der kaleidoskopisch in Rückblenden und verschiedenen Perspektiven erzählt ist, wenig mehr übrig als eine Vater-Tochter-Beziehung, die durch banale Missverständnisse zerstört wird. Paranoia, Erinnerung, es ist nicht alles, was es scheint. Die Geschichte eines Food-Inspektors, Oberklasse und Hypermoral der Kultur. Schuldgefühle. Es bleibt nicht viel außer Allgemeinplätzen, sympathisch, aber keinesfalls fesselnd inszeniert.
(to be continued)