06.09.2019
76. Filmfestspiele von Venedig 2019

Grau in Grau

Saturday Fiction
Flirrender, visuell atemberaubender und sehr musikalisch erzählter Bildersturm: Lou Yes Saturday Fiction
(Foto: Wild Bunch)

Gong Lis Rückkehr, Atom Egoyans sympathische Allgemeinplätze und Roy Anderssons Vignetten der Depression am Lido – Notizen aus Venedig, Folge 9

Von Rüdiger Suchsland

Ein Star kehrt zurück. Zurück auf den Roten Teppich von Venedig, wo sie 1991 für Rote Laterne den Silbernen Löwen gewann, zurück aber auch ins Schein­wer­fer­licht des Weltkinos, aus dem sie zuletzt etwas verschwunden war: Gong Li, die vor allem als Muse des Chinesen Zhang Yimou wesent­lich mitbe­tei­ligt war am rasenden Aufstieg des chine­si­schen Kinos in den neunziger Jahren und dem Weltruhm der »Fünften Gene­ra­tion« chine­si­scher Filme­ma­cher. Jetzt stellt Lou Ye, einer der wich­tigsten Vertreter der jüngeren »Sechsten Gene­ra­tion« Gong Li ins Zentrum seines neuen Films Saturday Fiction, der soeben im Wett­be­werb um den Goldenen Löwen von Venedig seine Welt­pre­miere erlebte.

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Es ist ein flir­render, visuell atem­be­rau­bender und sehr musi­ka­lisch erzählter Bilder­sturm, den Lou Ye entfes­selt. Die Handlung ist eine Spionage-Geschichte, zum Teil in Schwarz-Weiß. Es geht um Liebe, um Hoffnung und deren Enttäu­schung, und um Verrat. Alles spielt in der Zeit des von den Japanern besetzten Shanghai im Zweiten Weltkrieg, aber vor Pearl Harbour – eine chine­si­sche Version von Casablanca.
Gong Li spielt, wenn man so will, sich selbst: Eine Schau­spie­lerin, die nach Hongkong in ihre Vergan­gen­heit zurück­kehrt, um dort ihren Ex-Mann zu befreien, der von den Japanern gefangen gehalten wird. Mit der Rückkehr öffnet sie eine Büchse der Pandora. Der Regisseur erinnert mit diesem Film an eine in Europa weit­ge­hend unbe­kannte Zeit und Episode der asia­ti­schen Geschichte: Denn Franzosen und Briten hatten 1941 kleine Enklaven im besetzten Hongkong, Sicher­heits­zonen, die so sicher nicht waren. Vor diesem histo­ri­schen Hinter­grund entfaltet der Regisseur eine wilde, facet­ten­reiche Geschichte, in deren Mittel­punkt eine magne­ti­sche Frau und Darstel­lerin steht.
Gut denkbar, dass dieser Film am Samstag von der Jury mit einem der großen Preise ausge­zeichnet wird. Auch acht Tage nach Eröffnung der Film­fest­spiele gibt es noch keinen klaren Favoriten auf den Goldenen Löwen.

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Einige Filme kamen sehr gut an. Etwa Roy Anders­sons About Endless­ness, der an eine Video­in­stal­la­tion erinnert und in grau-blassen Pastell­farben Vignetten der Depres­sion anein­an­der­reiht. Aber Andersson hat erst mit seinem letzten Film 2014 den Goldenen Löwen gewonnen.

Der Schwede Andersson erzählt keine geschlos­sene Handlung, sondern reiht Szenen anein­ander. In der ersten fliegt ein Paar, fliegt in den Wolken, ohne Flügel mit leicht ange­win­kelten Körpern.
Im zweiten sieht man ein Paar im Park auf zwei Bänken sitzen. Sie sind nicht mehr jung, sondern knapp 60, uns ist der Rücken zuge­wendet, sie blicken in die Ferne über eine weiter unten gelegene Großstadt hinweg. Alles ist erkennbar Studio. Am Himmel fliegen ein paar digitale Vögel, Reiher, Schwäne oder Enten. Nach einer Weile sagt sie: »Es ist schon September.« Er antwortet: »Mhmm...«

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So geht es weiter. Insze­niert in jener spezi­ellen Ästhetik, für die Andersson berühmt ist: Fast alles ist erkennbar im Studio gebaut. Andersson liebt die Kontrolle, er kontrol­liert seine Bilder und seine Szenerien genauso wie die Ämter die Menschen, für die sie zuständig sind. Die Räume und auch der Himmel sind in bestimmten Farben gehalten: Grau in Grau, Mauve, Eier­scha­len­farben, alles ein bisschen schmutzig, ein bisschen herun­ter­ge­kommen – sozi­al­part­ner­schaft­liche Ästhetik. Das Grau aus den Filmen von Roy Andersson ist ein besonders graues Grau. Das Mauve ist ein Mauve, das zum Grau tendiert.
Die Zeit, in der das spielt, ist im Prinzip eine zeitlose Zeit, aber am ehesten liegt sie in den 50er, 60er und 70er Jahren des 20. Jahr­hun­derts. Pastell­farben beherr­schen nahezu alles; es gibt keine klaren Farben, keine direkten Farben, keine Primär­farben.
Die Räume sind selten private Räume, sondern öffent­liche Räume: ein Park ein Restau­rant eine Straße ein Bahnhof in der Arzt­praxis eine Eckkneipe. Passagen, dritte Räume, Funk­ti­ons­räume – dass wir Zuschauer darüber überhaupt nach­denken, ist der Effekt von Anders­sons einma­ligem Kino.

Anders­sons Kino ist nahe der Instal­la­ti­ons­kunst. Slapstick, mehr Jacques Tati als Monty Python. Wieder­ho­lung und Running Gags. Ein Kreis, der sich schließt.
I saw a man ist das Leitmotiv. Das ist der Rhythmus aller Szenen, ungefähr jede zweite wird mit dieser Formel einge­leitet, gespro­chen von der Stimme einer jungen Frau.

Es folgen weitere Szenen: Ein Mann, ca. 60, erzählt, er habe in der Stadt einen ehema­ligen Mitschüler wieder­ge­troffen und erkannt. Ein alter Mann im Restau­rant. Er ist der einzige Gast, ein Kellner bedient ihn, er bestellt Rotwein, der Rotwein kommt, das Ritual des Wein­kos­tens... Dann wird der Wein einge­schenkt und der Kellner macht das Glas nicht nur voll, er schenkt einfach den Wein immer weiter ein, so dass er überläuft und die weiße Tisch­decke voll­kle­ckert – für ein paar Augen­blicke hatte der Kellner seine Gedanken vergessen.
Ein Mann trägt ein Kreuz durch die Straßen von Stockholm. Zwei oder drei Schergen mit Peitschen treiben ihn an, zwingen ihn weiter­zu­ma­chen, es ist wie der Weg nach Golgatha, aber heute oder vor 30-40 Jahren in einem modernen Sozi­al­staat, um ihn herum der Pöbel, der Mob »kreuziget ihn, kreuziget ihn«. Sozi­al­hil­fe­empfänger, das sagt uns ihre Kleidung.
Ich muss da an Polanski denken. Wie viele würden Polanski gerne in Wirk­lich­keit kreuzigen, wenn sie nur könnten?

Die Geräusche innen gehen inein­ander über und verbinden die einzelnen Szenen. Ein Priester geht zum Analy­tiker, glaubt nicht an Gott, trinkt den Messwein alko­ho­li­siert und ruft dann: »Mein Gott warum hast du mich verlassen? Mein Gott warum hast du mich verlassen?«

Alle Menschen hier wirken müde, manchmal reden sie zur Kamera. Die Menschen bei Anderson lachen kaum. Sie scheinen alle auf irgend­etwas zu warten. Den Tod?

»Life is passing by and I haven’t accom­plished anything« sagt ein verzwei­felter Klein­bürger. Die Frau will ihn trösten und sagt: »Du warst bei den Niaga­rafällen, beim schiefen Turm von Pisa, auf dem Eiffel­turm.«

Was soll das alles? Es sind Vignetten; Vignetten der Depres­sion und der Trau­rig­keit des Lebens. Der Verzweif­lung.

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Nur drei Szenen­bilder fallen heraus: Eines zeigt Köln und den Kölner Dom Ende des Krieges. Das zweite: Den Führer­bunker Ende des Krieges. An der Wand hängt ein Rembrandt-Bild. Dann kommt Hitler, ein Offizier sagt »Sieg Heil«. Und schließ­lich eine Szene mit deutschen Ostfront-Gefan­genen. Das alles erschließt sich mir nicht. Außer dass Andersson deutsche Film­för­der­gelder ausgeben musste.

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Am Montag hat sich alles verändert. Bis Sonntag war Venedig in erster Linie ein ameri­ka­ni­sches Film­fes­tival, mit ein paar Gaststars aus Europa – eine Art aufge­bla­senes und weniger elitäres Telluride. Montag war der Tag des Übergangs, ab Dienstag ist dies ein Festival des Autoren­kinos. Selten war der Bruch so deutlich zu spüren wie diesmal. Was viel­leicht damit zu tun hat, dass das Jahr 2019 keines­wegs als Höhepunkt in der Geschichte von Venedig eingehen wird – dies ist ein durch­schnitt­li­ches Jahr, ich glaube sogar eher schlechter Durch­schnitt.
Stark ist Venedig zwar immer. Aber dieses Jahr war ein vergleichs­weise schwaches. Zu ameri­kalastig und dabei nicht abwechs­lungs­reich genug, und nicht stark genug. Jeder einzelne Film für sich kann bestehen. Das Gesamt­paket, die Mischung stimmt diesmal weniger als in den beiden Vorjahren.
Natürlich ist Venedig den meisten anderen Film­fes­ti­vals immer noch meilen­weit voraus. Die Berlinale der mindes­tens letzten zehn Jahre kann hier nicht einmal ansatz­weise mithalten, Locarno schon gar nicht. Und San Sebastian bei aller Liebe auch nicht.

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Wir müssen mehr über Ästhetik reden. Im Gegen­warts­kino gibt es viel, viel zu viel Illus­tra­ti­ons­kino, Filme, die nur bestimmte Thesen und Probleme illus­trieren. Und so – themen­fi­xiert – wird dann auch von vielen Medien darüber berichtet, vor allem den vielen, die sich für Kino nicht die Bohne inter­es­sieren.

Aber Festi­val­di­rektor Alberto Barbera ist ja keiner, der eigent­lich am liebsten Sozi­al­ar­beiter geworden wäre, oder Lehrer oder Politiker und unbedingt die Welt besser machen möchte oder den Menschen bestimmte Ideen aufzwingen möchte. Sondern was Alberto Barbera in erster Linie macht ist: Er kuratiert ein Kunst­fes­tival. Er liebt die Kunst, er will gute von schlechter, bessere von schlech­terer Kunst unter­scheiden und möglichst die besten Filme auswählen, die schönsten, die inno­va­tivsten, die span­nendsten. Das kann sich auf den Inhalt beziehen, in erster Linie bezieht es sich aber auf die Farbe. Deswegen sollte man auch die Filme, die er für Venedig auswählt, in erster Linie unter dem Gesichts­punkt der Ästhetik der Insze­nie­rung begreifen, und erst in zweiter Linie unter den Kriterien Inhalt, Plot, Geschichte. Diese Plot­las­tig­keit, die soziale und poli­ti­sche Indienst­nahme von Filmen für irgend­eine Agenda, sei sie politisch, sei sie moralisch, sei sie Welt­ver­bes­se­rung, sei sie am Sozi­al­ver­halten orien­tiert... diese Indienst­nahme der Filme ist der Tod des Kinos.

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Atom Egoyan, Aki Kauris­mäki und Jim Jarmusch – drei verblas­sende Kino-Hoff­nungen der 80er Jahre, die in den Neun­zi­gern schon verwest sind. Bei Egoyan sind nach wie vor Exotica und The Sweet Hereafter seine besten Filme, seine zwei ersten. Ich konnte noch mit Where the Truth lies viel anfangen. Mit Felicia’s Journey schon weniger. Bei Kauris­mäki fand ich immer alles manie­riert, zu selbst­ge­fällig und faul und nicht wirklich inter­es­sant und bei Jim Jarmusch sind auch die frühen Filme die besten und schon in den Neun­zi­gern, wahr­schein­lich schon mit Dead Man war dieser Regisseur müde, und ich kann mich erinnern, dass schon 1998, als Ghost Dog herauskam, viele Fans vor allem mäkelten. Ich war kein Fan und mäkelte nicht.

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Egoyans neuer Film ist in einem sehr trockenen Stil erzählt, und leider sehr unsinn­lich. The Guest of Honour fällt schnell ausein­ander, sobald man erzählen möchte, worum es wirklich geht: Dann bleibt von dem verschach­telten Aufbau, der kalei­do­sko­pisch in Rück­blenden und verschie­denen Perspek­tiven erzählt ist, wenig mehr übrig als eine Vater-Tochter-Beziehung, die durch banale Miss­ver­s­tänd­nisse zerstört wird. Paranoia, Erin­ne­rung, es ist nicht alles, was es scheint. Die Geschichte eines Food-Inspek­tors, Ober­klasse und Hyper­moral der Kultur. Schuld­ge­fühle. Es bleibt nicht viel außer Allge­mein­plätzen, sympa­thisch, aber keines­falls fesselnd insze­niert.

(to be continued)