76. Filmfestspiele von Venedig 2019
Der wahre Sieger heißt Polanski |
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Damals wie heute wird einer Symbolfigur der Schauprozess gemacht... | ||
(Foto: Weltkino Filmverleih GmbH) |
Das war mehr als eine große Überraschung zum Abschluss der Filmfestspiele in Venedig: Der bislang nur Experten bekannte Amerikaner Todd Phillips gewann am Samstagabend für seinen Film Joker den Goldenen Löwen von Venedig.
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Jury-Entscheidungen in Venedig sind fast immer ein Problem. Die Preise dort sind seit jeher viel zu amerikalastig und desinteressiert an anderem, vor allem an europäischen wie asiatischen Filmen.
Joker ist ein Film, der von anderen Filmen zehrt, ein vampirischer Film, der wenig Eigenes und Originelles hat, der eine leere Hülle ist ohne seinen Hauptdarsteller. Bar jeder Substanz ist Joker eine Behauptung. Denn die Joker-Figur ist nur dann interessant, wenn sie über das Private hinaus geht. Joker ist ein Zeitgeist-Film; es ist der Zeitgeist, der behauptet, dass jeder ein Opfer sei, auch der schlimmste Täter. Es ist der Zeitgeist, der behauptet, dass alle Menschen irgendwie traumatisiert sind; es ist der Zeitgeist, der es nötig hat, die Joker-Figur als unpolitische Figur zu erzählen, der nicht im Joker den Tyrannen entdeckt oder den Medientycoon, nicht den Joker in uns allen entdeckt, sondern der den Joker aus unserer Mitte entfernt und zu einer exzentrischen Existenz erklärt. Der Vorteil von »Joker«, das, was der Film wirklich leistet, ist, dass er aufs Kino aufmerksam macht, dass er sich in die Filmgeschichte einschreibt, in die der 70er Jahre, dass er uns einen so wunderbaren Film wie The French Connection ins Gedächtnis ruft und die Filme von Martin Scorsese.
Joker ist keine schlichte Comic-Superheldenverfilmung, sondern der Versuch, den schillerndsten Gegenspieler von »Batman« in unsere Gegenwart zurückzuholen und »realistisch« neu zu erzählen: Als Soziopathen! Aber auch als Zeichen für die Bosheit der Unterhaltung, die Bosheit des Humors. Was den Film aber moralisch wie ästhetisch problematisch macht, ist, dass hier ein gewalttätiger, psychopathischer Wutbürger zum Ventil der Erleichterung des Publikums wird.
Dazu eine Prise Hass – böse Reiche –, ein Löffelchen Medienreflexion – böse Talkshows!! – und noch eine Dosis Filmgeschichte: Stellenweise wirkt der Film epigonal und wie der Versuch eines Remakes von Scorseses Taxi Driver und King of Comedy.
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Der polnischstämmige französische Regisseur Roman Polanski bekam den Spezialpreis der Jury für J'accuse – auch damit hatten im Vorfeld nur wenige gerechnet. Zu schwer schienen die amerikanischen Vorwürfe auf dem Meisterregisseur zu lasten, nach denen sich Polanski vor 42 Jahren einem Gerichtsverfahren entzogen habe – auch wenn die europäische Rechtsprechung diese
Sicht der Dinge keineswegs teilt.
Mitunter hatte man bei den kampagnenhaften Kommentaren im Vorfeld, und den Vorwürfen gegen das Festival, weil es diesen Film zeigt, den Eindruck, es gehe gar nicht um Polanski, sondern um Venedig.
Ist es ein Zufall, dass es fast nur amerikanische Medien waren, die die Empörung über Venedig befeuerten? Könnte es nicht sein, dass banale Industrie-Interessen hinter alldem stehen? Der Zorn der Nordamerikaner, dass es nicht Toronto, Telluride oder Tribeca ist, das in den letzten Jahren zur zentralen Startrampe für die Oscars wurde, sondern das alte Europa mit einer seiner europäischsten und geschichtsträchtigsten Städte, mit Venedig?
Dass es nur der zweitwichtigste Preis werden konnte, war beim Blick auf den Regisseur klar. Joker war offensichtlich ein Kompromisskandidat.
Der wahre Sieger der diesjährigen Venedig-Ausgabe heißt trotzdem Roman Polanski. Mit großer Lässigkeit zeigt Polanski die politischen und die gesellschaftlichen Schwächen einer Massendemokratie auf. Seine Erzählung der Dreyfus-Affaire zeigt, wie Meinungsfreiheit in Populismus, wie Populismus in Demagogie und Hetze umschlägt: er zeigt Bücherverbrennungen, antisemitische Ausschreitungen und Verschwörungen einer rechtskonservativen, katholischen, militärischen Clique.
So ist diese Erinnerung an eine vergessene Zeit eine zeitgemäße Geschichte: Über die Hexenjagden der Gegenwart, von denen Polanski selbst ein Lied singen kann; über den Antisemitismus der Gegenwart in Polen, in Frankreich und in Deutschland, über Überwachungswahnsinn, über den Mut der Whistleblower.
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Gerade in ihrer Zusammenschau bildet diese Preisvergabe aber ein interessantes, vor allem politisches Statement der Jury um die Jurypräsidentin, die argentinische Regisseurin Lucrecia Martel: Es sind politische Preise, mit denen zum einen die Autonomie der Filmkunst gegen die ethisch-politischen Zumutungen der neuen grassierenden Hypermoral und der Empörten von Links verteidigt wird. Die auf der anderen Seite auf die Gefahren durch die Wutbürger von Rechts verweist.
Insgesamt war 2019 ein durchschnittlich guter Festivaljahrgang, aber kein herausragender. Zu amerikalastig und dabei nicht abwechslungsreich genug, zu wenig ästhetische Innovation, zu wenig Überraschungen, um restlos zufriedenzustellen. Trotzdem bleibt Venedig nach Cannes das beste und wichtigste Festival der Welt.
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Aber die Affäre des Umgangs mit Polanski wird die Filmwelt weiter verfolgen.
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Gerade in den letzten Wochen im Umfeld von Venedig fällt wieder diese unerträgliche mehrfache Legendenbildung auf: So ist es geradezu niedlich, wie immer wieder auch von Redakteuren und Moderatoren beim Radio oder in Agenturmeldungen davon gesprochen wird, Polanski sei ja »wegen Missbrauch« angeklagt – nein! Man muss da sehr deutlich unterscheiden: Missbrauch oder irgendwelche Vorfälle im Zusammenhang mit »#Me too« wirft Roman Polanski niemand vor. Was man Polanski vorwirft, ist eine Vergewaltigung und Sex mit Minderjährigen. Letzteres hat er zugegeben, Ersteres nicht. Er ist verurteilt worden, und er hat diese Strafe angenommen. Er hat sich dem Verfahren nicht entzogen, er hat sich erst einem zweiten Verfahren entzogen, weil es da bereits offensichtlich war, dass der Richter eigene persönliche Interessen und eigenen persönlichen Ehrgeiz und Karrierestreben verfolgt hat, und dies auf dem Rücken eines Prominenten austragen wollte. Alles dies ist zur Genüge dargestellt worden – in Büchern, in Zeitungsartikeln, in Filmen wie Roman Polanski: Wanted and Desired. Über Jahrzehnte hat niemand mit Roman Polanski ein Problem gehabt. Polanski war auf Festivals wie der Berlinale eingeladen und in Cannes, wo er 2002 die Goldene Palme gewonnen hat.
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Die Probleme mit Polanski kamen erst, nachdem eine rechts gewendete, puritanisch und erzkonservativ gewordene US-Justiz und der Präsident George W. Bush im Jahr 2008 einen neuen Haftbefehl ausgestellt hatte, und die Schweiz Polanski 2009 für eine Weile in Untersuchungshaft genommen hat. Nach europäischer Rechtsauffassung ist Roman Polanski nicht angeklagt, nach europäischer Rechtsauffassung wird der amerikanischen Auffassung widersprochen. Dies ist Rechtsauffassung in der Schweiz, in Frankreich, in Deutschland und in vielen anderen Ländern.
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Es ist unerträglich, zu sehen, wie sich europäische Medien eine selbst in den USA umstrittene Rechtsauffassung von erzkonservativer Seite einfach zu eigen machen, und sich diese Medien dann auch noch liberal vorkommen, auch noch glauben, sie würden die »Sache der Frauen« in irgendeiner Form verteidigen oder ihr helfen.
Der ganze Fall Polanski schadet der »Sache der Frauen«, denn er ist so offensichtlich ungerecht; hier wird mit offensichtlich zweierlei Maß gemessen, dass
die unsägliche unfaire Behandlung der Person Polanski nur dazu führt, dass man diese von interessierter Seite als Argument benutzen kann, um allgemein Vergewaltigungs- und Missbrauchsanklagen in Zweifel zu ziehen.
Etwas anderes kommt dazu. Nach Auffassung aller freiheitlichen Rechtssysteme, auch in den USA, darf kein Täter für dasselbe Verbrechen zweimal verurteilt werden. Genau dies aber soll mit Polanski geschehen. Eigentlich will man Polanski lebenslänglich geben: Lebenslängliche öffentliche Ächtung; lebenslängliche öffentliche Verfolgung; lebenslängliches öffentliches Verbot, Filme zu machen, Filme gefördert zu bekommen, diese Filme aufgeführt zu sehen, lebenslängliches Verbot einer Teilnahme an Filmfestivals – alles dies ist nicht nur unfair und unmoralisch. Es ist auch rechtsstaatlich vollkommen fragwürdig und ein Skandal.
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Noch etwas: Das Verbrechen, das Polanski vorgeworfen (!) wird, liegt über 40 Jahre zurück. Sogar überführten Mördern gesteht man eine Resozialisierung, eine Wiedereingliederung in das bürgerliche Leben nach 15 Jahren zu. Polanski nicht. Warum?
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Aber hier wird einer Symbolfigur der Schauprozess gemacht. Denn Polanski ist ein Aushängeschild, eine Symbolfigur, eine Ikone der libertären Gegenkultur um 1968. Hinzu kommt: Polanski macht Filme, die dem bürgerlichen Mainstream, den Biedermännern als »geschmacklos«, »pervers« und »provokativ« erscheinen. Polanski hat Lust an der Provokation und er hat keine Lust, sich bei den braven Bürgern zu entschuldigen.
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Hat all das wirklich nichts damit zu tun, dass Polanski eine Symbolfigur der libertären Gegenkultur ist? Hat es wirklich nichts damit zu tun, dass seine Filme sind, wie sie sind? Und hat es wirklich nichts damit zu tun, dass Polanski Jude ist? »Natürlich nicht!« werden jetzt viele rufen: »Nein nein, ganz und gar nicht«. Aber ich glaube, Freunde, es hat sehr viel damit zu tun!
(to be continued)