Von Dominik Graf
Von Dominik Graf (Regisseur, München)
- Alain Resnais Ihr werdet euch noch wundern, 2012
Natürlich kommt einem als erstes der Anfangs-Moment dieses Films in den Sinn. Nach seinem Tod, quasi als Vermächtnis, lässt ein Bühnenautor seine liebsten Schauspieler in sein Anwesen rufen. Und so treten etliche französische Heroen nacheinander durch die Tür des im Studio gebauten Landhauses: Sabine Azéma, Mathieu Amalric, Pierre
Arditi, Michel Piccoli, André Dussolier, Lambert Wilson – in einer unsagbaren rhythmischen Anmut aneinander geschnitten, die Resnais seinen Filmen und seinen Mitarbeitern immer geben konnte. Jedes Mal wenn die Tür sich öffnet, stürmen Herbstblätter vorbei, ertönt ein Musikakzent voll Trauer und Verlassenheit. Dieser völlig frappierende Moment ist mit Resnais' Tod zwei Jahre danach dann reale Filmgeschichte geworden. So sind sie 2014 vielleicht auch alle zu seiner
Trauerfeier gekommen. Und natürlich hätte man sich gewünscht, dass Alain Resnais ebenso wieder aufersteht wie der Autor in diesem Film. Dass das Ganze wieder nur ein Witz, ein Scherz war. Nein, diesmal nicht. Resnais' vorletzter Film, fast schon ein verfrühter Abschied, ein frappierendes Partyspiel, in dem der Gastgeber alle narrt. So einfach kam Resnais aber nicht davon, es folgte bei ihm noch ein letztes Dacapo, sozusagen vor dem bereits gefallenen Vorhang, »Boire, chanter« 2014.
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– Mike Figgis Suspension of Disbelief, 2012
Figgis meets Godard meets Figgis. Es gilt ja immer noch dieser wichtigste Kernsatz, den die guten alten Päpste der »Nouvelle Vague« gepflegt haben, der besagt: sogar die schwächeren Werke einer/s bewunderten Regisseurs/in sind grundsätzlich besser und interessanter als die erfolgreichsten und umjubeltsten Filme
aus der Menge des Regie-Mittelmaßes. So ist es hier. »Gefährliche Begierde« (»Suspension of Disbelief«) ist ein ausuferndes Spiel mit erzählerischen Optionen. Wer hat nach einer Geburtstagsparty wen vielleicht umgebracht – und warum.....? Oder doch nicht? Und hatte das alles bereits eine Vorgeschichte vor 15 Jahren? Brennende Fragen in einer Londoner
Film-Haute-Volée mit jungen, karrierebewussten, gutaussehenden Menschen. Eine hübsche Französin wird ertrunken aufgefunden. Erinnerungen werden Wirklichkeit, werden gedoppelt als Filmszenen bei Dreharbeiten. Hauptfigur ist ein deutscher Drehbuchautor (Sebastian Kochs stärkste Leistung bislang), der unter Verdacht gerät, eventuell eine Freundin seiner Tochter im nächtlichen Nachklang ihres Geburtstagsfestes getötet zu haben. Koch wird von Dämonen seiner Vergangenheit
heimgesucht, denn seine Ehefrau, die ihn pausenlos demütigte, verschwand spurlos vor 15 Jahren.
Gleichzeitig zu den Bedrohungen gibt der Drehbuchautor Koch ein Seminar und diskutiert die Prämissen für modernes filmisches Erzählen. Während der Film seine Spannungspunkte einer nach dem anderen allmählich aufbaut, warnt der Autor seine Schüler davor, die Zuschauer dauernd mit lockenden erzählerischen Häppchen zu füttern, weil daraus eine zu große Erwartungshaltung erwachsen kann. Der Autor, der auftrumpft mit erzählerischen Ideen, kann sich leicht darin verfangen. Und dann bricht es förmlich aus Sebastian Koch heraus: »Character is Plot«. Die Figuren sind die Geschichte. Das kann man nur bestätigen. Man muss nur an Figgis' berühmteste Filme denken: Leaving Las Vegas allen voran, Mr. Jones, Internal Affairs, One Night Stand... Alle sind sie motorisiert von extrem starken Hauptfiguren. Inzwischen schaut Figgis auf seine Geschichten wie eine Kamera auf ein Fußballfeld, die einfach immer weiter nach oben fährt, und dabei mehr und mehr das Umfeld und die Außenlinien des immer kleiner werdenden Spektakels im Zentrum zu definieren versucht. Aber wenn man mal eine Nacht darüber geschlafen hat, scheint die Konstruktion Sinn zu machen. Man muss halt Spaß haben daran, als Zuschauer sozusagen am Nasenring durch die Arena des Erzählers Figgis gezogen zu werden.
Bemerkenswert lustig ist die Figur des den Vermisstenfall bearbeitenden Detektivs, der – wichtiger als seine Nachforschungen – dem verdächtigten Drehbuchautor ein selbst geschriebenes Thriller-Drehbuch zu lesen geben will. Dieser Moment ist nun sicher wirklichkeitsnäher als viele Tatorte. Am Ende dann ertönt ein unnachahmlich Figgis'sches Adagio, eine dieser Musiken, die er quasi erfunden hat, diese erlösenden barocken Synthie- oder Streicher-Flächen, unter denen nervös ein Rhythmus zu ahnen ist – und über denen eine Trompete – Figgis selbst – wie improvisierend irrlichtert. Roberto Rossellini sagte: »Wenn man keine Filme mehr drehen kann, dann dreht man eben Skizzen von Filmen.« Seit Figgis sich als Groß-Regisseur zurückgezogen hat, mag die Filmgeschichte etwas weitergegangen sein. Aber sie hinkt heute noch Meilen hinter ihm her.
Was auch dieses schöne Labyrinth wieder beweist.
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– Bernardo Bertolucci: Io e te, 2012
»...Now it’s time to leave the capsule if you dare« singt David Bowie. Letzter Film und sagenhafte Miniatur von Bernardo Bertolucci, aus dem Rollstuhl heraus gefilmt. Lorenzo, ein pubertierender Großbürgers-Sohn mit komplizierten Familienverhältnissen und großem Einsamkeitsbedürfnis (»ich fühl mich super, wenn ich allein bin«)
verbirgt sich im Keller, als seine Mutter denkt, er sei mit der Klasse beim Skifahren. Seine Idylle mit fett bestrichenen Nutella-Broten und ungesündesten Big-Mäc’s Marke Eigenbau geht in die Brüche, als seine ältere Halbschwester Olivia auftaucht, die sich selbst auf Cold Turkey setzt und ihre gesamte Extravaganz sowohl im heulenden Elend des Heroin-Entzugs, wie auch im Glamour ihrer Hochphasen an ihm ausprobiert. Beide gehen verändert aus der gemeinsamen Woche im Keller-Inferno
hervor.
Man kann’s gar nicht glauben, dass Bertolucci noch einmal ein solches wild-eigentümliches Kammerspiel-Ding gestemmt hat. Schönheit um der Schönheit willen, komplexe Emotionen, erzählerischer Manierismus. Herrlich elitäre Kultureinsprengsel von Anne Rice' Vampire-Sagas bis zu David Bowies mir bis dato unbekannt gewesener bizarrer Italo-Version von »Space Oddity« (»ragazzo solo, ragazza sola«, David singt italienisch!!), zu der die Geschwister liebevoll am Höhepunkt des Films nach dem erlebten Intim-Trip (ohne Sex) miteinander tanzen.
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– Wim Wenders: Every Thing Will Be Fine, 2015
Ja, ich weiß, ist 3D, hab ich aber als Flachfilm auf DVD gesehen. An die Stelle der Erzählungen von Orten und Räumen in WW’s frühen Meisterwerken trat hier erstmals die Erzählung von vergehender Zeit. Extrem eigenwillig und gleichsam zärtlich mit den dramatischen Gefühlen der Story umgehend. Nach großen Umwegen gelangte Wenders
wirklich in aufregendes Neuland, finde ich.
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– Wim Wenders: Die schönen Tage von Aranjuez, 2016
...und gleich noch einer: Handkes Theatertext streng umgesetzt. Die Menschen reden, die Bäume rauschen. Auch nicht in 3D gesehen, ich behaupte mal arrogant, macht glaube ich nichts. Das Kino wird hier jedenfalls nochmal an einen Anfang zurückgedacht, ähnlich wie in Rohmers vorletztem Film, dem grandiosen Gemälde-Kulissenspiel Die Lady und der Herzog von 2001. Und ähnlich wie Wenders und seine Kollegen im Münchner Filmhochschul-A-Kurs der ersten Stunde. Was ist das Kino? Was kann das Kino? Zum Beispiel Menschen beim Reden zuschauen. Gene Hackmans Detektiv in Night Moves sagte einst, ein Rohmerfilm sei so, als würde man Farbe beim Trocknen zusehen. Das war natürlich immer Quatsch, klang aber als
Spruch sehr gut. Handke sucht in den Dialogen nach Ausdruck für die fleischliche Liebe, verzettelt sich, kommt zurück, korrigiert sich, fährt fort. Faszinierend, den beiden Darstellern im Minimalismus zuzusehen, während die Kamera kreist und kreist..... Und auch wenn die Auftritte von Nick Cave bei WW ab und zu wie Namedropping wirkten – hier stellt sich bei seinem Live-Lied am Flügel »into my arms« eine große Harmonie mit den komplexen Sehnsüchten des Films ein.
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– Paul Schrader: »Dark« = Director’s Cut von Dying of the light, 2017
Der grimmige Auteur Paul Schrader hat seinen Produzenten quasi nachträglich ins Gesicht gepinkelt und mit dem Cutter Benjamin
Rodriguez (jr.!) eine aberwitzige eigene Version aus Resten seines solide erzählten Nicholas Cage-Flops von 2015 geschaffen. In Anlehnung an Cages Gehirnkrankheit im Film, »frontotemporale Demenz«, drehen Schnitt und die Farbgebung psychedelisch komplett durch. Ein wirklich grimmiger Regisseur rächt sich an seinen fiesen Produzenten.