70. Berlinale 2020
Die Berlinale ist eine Baustelle |
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Schauspieler Alexander Scheer fährt mit einer Elektro-Kehrmaschine am Roten Teppich vor | ||
(Foto: Berlinale) |
»Es gibt einen amor intellectualis zum Küchenpersonal, die Versuchung für theoretisch oder künstlerisch Arbeitende, den geistigen Anspruch an sich selbst zu lockern, unter das Niveau zu gehen, in Sache und Ausdruck allen möglichen Gewohnheiten zu folgen, die man als wach Erkennender verworfen hat. Da keine Kategorie, ja selbst die Bildung nicht mehr dem Intellektuellen vorgegeben ist und tausend Anforderungen der Betriebsamkeit die Konzentration gefährden, wird die Anstrengung, etwas zu produzieren, was einigermaßen stichhält, so groß, daß kaum einer ihrer mehr fähig bleibt. Weiter setzt der Druck der Konformität, der auf jedem Produzierenden lastet, dessen Forderung an sich selbst herab.«
Adorno, Minima Moralia
Heute in genau vier Wochen, am 29. Februar, wird der Goldene Bär verliehen, der erste nach 18 Jahren Berlinale unter Dieter Kosslick.
Man kommt um den Vergleich mit dem Vorgänger im ersten Jahr ja gar nicht herum, wenn man derzeit über Kosslicks Nachfolger Carlo Chatrian als Künstlerischen Leiter und Mariette Rissenbeek als Geschäftsführerin redet. Auch Kosslick wurde seinerzeit mit seinem Vorgänger verglichen, man könnte das nachlesen.
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Was sie anders machen, ist die entscheidende Frage, schließlich wurden sie geholt, und Kosslicks Vertrag zuvor nicht verlängert, weil es Klagen und Kritik gab, weil deutsche Regisseure dutzendweise gegen den Direktor in Stellung gingen, weil objektive Mängel zu Ärger bei den internationalen Gästen führten.
Nach der Ära Kosslick – und es ist eine Ära, im Guten wie Schlechten – müssen bei der Berlinale nun erstmal viele Altlasten weggeräumt werden, vor allem solche, die das geneigte Publikum nicht sieht und die die Kosslick-Fans unter der Hauptstadtpresse nicht sehen wollen.
Es ist einerseits ein Großreinemachen, andererseits ein Umbau, und in gar nicht so weniger Hinsicht muss das Fundament neu gegossen werden.
Dieses Großreinemachen umfasst zunächst mal das, was neudeutsch »Wording« genannt wird, also das PR-Sprech, in dem die Berlinale über sich selber spricht. Die wohlbekannte »Floskel« vom »Publikumsfestival« zum Beispiel.
Da es kein Filmfestival gibt, das ohne Publikum stattfindet, stellt sich die Frage, was das heißen soll, außer einer Selbstverständlichkeit. Was zum Teufel ist ein »Publikumsfestival«?
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Publikumsfestival kann nicht nur heißen, dass man dem Publikum nach dem Mund redet, seinen Geschmack bestätigt und verfestigt – ein Geschmack, der sowieso immer nur ein angenommener und vermeintlicher Geschmack ist.
Publikumsfestival muss auch heißen, dass man das Publikum verunsichert, irritiert, verstört, provoziert. Genau damit wird man alte eingefahrene Gewohnheiten produktiv herausfordern, und auch neue Publikumsschichten gewinnen, von denen man zuvor nicht einmal wusste, dass es sie gibt.
Publikumsfestival sollte daher auch Publikumserziehung heißen.
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Es ist eigentlich ganz einfach.
Die Kiezkinogemütlichkeit, die sich in der Berlinale eingenistet hat, muss ein Ende haben. »Kiezkino« ist eine überaus beliebte Reihe im Berlinaleverständnis des alten Direktors, das bestenfalls ein populistisches Verständnis war.
Kiezkino heißt: »Drei Damen vom Grill«; »Praxis Bülowbogen«, Westberliner Schrebergarten. Kiezkino heißt: Das Publikum kann sich darauf verlassen, dass ihnen nichts droht. Dass ihre Denkfaulheit nicht gestört wird. Dass ihr Geschmack
nicht infrage gestellt wird. Dass sie sich selber keine Fragen stellen müssen, dass sie auf alle Fragen, die möglicherweise im Berlinale-Kino auftauchen, mundgerechte Antworten serviert bekommen. Dass sie nach dem Film gut schlafen können, und vielleicht schon im Kino.
Filmfestival in meinem Verständnis bedeutet genau das Gegenteil: Mehr Fragen als Antworten. Irritation statt Gemütlichkeit. Beunruhigung statt Einschläferung. Unruhige Nachtgedanken.
Ins Kino am Kiez sollen die Menschen an 51 Wochen im Jahr gehen, und sich dort Wohlfühlfilme, Arthouse-Wellness und Entspannungsklamauk angucken. Spannung und Action und nicht süßstoffgetränkte Emotionen gibt es dort sowieso nicht, die gibt’s eh nur noch im Cineplex.
Aber während der einen Woche der Berlinale sollte es Platz für anderes geben dürfen und können. Und es sollte den Menschen von der Festivalleitung wie der Kulturpolitik nahegelegt werden, dass das auch gut so ist.
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Mittwochmorgen um 10.30 Uhr, Einlass bis 10 Uhr, hatten Mariette Rissenbeek und Carlo Chatrian ihre erste Pressekonferenz als Berlinale-Leiter angesetzt, also genau dann, wenn alle eigentlich gern über die neuen Filmstarts schreiben würden.
Vielleicht könnte man das ja in den nächsten Jahren wieder korrigieren, wieder am Dienstag, oder besser noch Donnerstag verkünden, wenn die Aufmerksamkeit, die innere, ganz den Offenbarungen der Film-Propheten gilt.
Es war also nicht
alles schlecht unter Kosslick.
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Mag man die Presse, vor allem die Filmkritik, nun wieder lieber, als in den letzten 18 Jahren, in der man uns nur wie lästige Kostgänger, wie Parasiten behandelte. Abwarten.
Manche Zeichen stehen auf Entspannung, auch wenn die Leiterin der Presseabteilung die gleiche ist, wie bereits in den kompletten Kosslick-Jahren und in den letzten unter seinem Vorgänger Moritz de Hadeln, auch wenn es kein ausländischer Beobachter, der mir bekannt ist, fassen kann, dass es hier nicht auch
eine gewisse Rotation, einen Neuanfang gibt, wie erst im letzten Jahr in Cannes.
Andererseits kam heute die Nachricht, dass Pressevertreter 50 Euro extra bezahlen sollen, zusätzlich zu den bereits mit 60 Euro horrenden Akkreditierungsgebühren, um eine Downloadmöglichkeit für Pressekonferenzen und Regisseursgespräche zu erhalten.
50 Euro extra! Für Pressekonferenzen und Filmgespräche, etwas, das komplett öffentlich ist. Das jeder einfach mitschneiden darf. Und
das staatlich mit Steuergeldern komplett gefördert wird. Eigentlich eine Frechheit. So etwas gibt es nirgendwo, nur hier.
Und doch werden wir deutschen Untertanen zahlen. Ich übrigens auch.
Wir alle aber sollten die Berlinale piratieren!
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Das Kino jedenfalls mag man nun lieber, als früher.
Schon in seinem ersten Jahr als neuer Berlinale-Direktor beweist Carlo Chatrian, wie leicht sich einige Dinge ändern lassen. Man muss noch nicht einmal die berühmten »Stellschrauben verschieben«, man muss noch nicht einmal die Zahl dieses aufgeblasenen Filmfestivals von rund 400 Filmen auf 150 kürzen (Obwohl das ganz bestimmt ein Ziel für die mittelfristige Zukunft wäre).
Man muss einfach mit etwas mehr Geschmack Filme auswählen. Man muss sich einfach mit etwas mehr Interesse fürs
Weltkino unter den Filmemachern der Welt umschauen. Man muss einfach ein paar Kontakte haben und diese auch spielen lassen, um ein besseres Programm zusammenzustellen.
Philippe Garrell, Kelly Reichardt, Hong Sang soo, Abel Ferrara – Filmemacher von vergleichbarer Qualität hat es in den letzten 15 Jahren in der Fülle nicht in einem Berlinale-Wettbewerb gegeben.
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Das erste Programm unter Chatrian ist dabei keineswegs perfekt. Es gibt zu viele neue, unbekannte Namen, es ähnelt zu sehr einem Nachwuchs-Festival oder einer Nebenreihe in Cannes oder Venedig.
Aber es zeugt auch von einer grundsätzlichen Neugier und von einem grundsätzlichen Interesse an der Geschichte und Tradition des Autorenfilms. Es zeugt von einer Offenheit für verschiedene Weltregionen und es zeugt von Kontakten mit den wichtigen Produzenten und Regisseuren des
Autorenkinos.
Man muss die Filme von Hong sang soo oder von Ricky Phan erst einmal bekommen, man muss einen Philippe Garrell erst einmal überreden, seinen Film nicht wie bisher fast immer in Frankreich zu zeigen, sondern in Deutschland; man muss die amerikanische Regisseurin Kelly Reichardt, die mit ihren Filmen bisher immer in Venedig oder in Cannes Premiere hatte, dazu bringen, sich in den kalten Winter der grauen Metropolis Berlin zu wagen.
Chatrian hat es geschafft!
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Alexander Kluge war mit einem neuen Film zuletzt vor über 20 Jahren auf der Berlinale unter dem Vorgänger von Dieter Kosslick. Dazwischen liefen seine neuen Filme in Venedig oder auf anderen Festivals in der Welt. Es lag eben nicht daran, dass Kluge, inzwischen 88 Jahre alt, keine neuen Filme mehr machen würde, sondern daran, dass den bisherigen Berlinale-Chefs das Kino Kluges und die Intellektualität, mit der es verbunden ist, offenkundig nicht interessierte, oder – das wäre mein Verdacht – er sie sogar gefürchtet hat, sie ihm sogar zuwider war. Sie störte seine Vorstellung einer mittleren Wohlfühlharmonie und der gesüßten Kino-Welt zwischen Kiezkino und Publikumsfestival. Das ist jetzt anders.
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Es gibt auch negative Überraschungen. Viele hatten mit dem neuen Film von Oskar Röhler gerechnet, ein Biopic zu Fassbinder, das nach allem, was man hört, auch fertig geworden wäre, und zu »Berlin Alexanderplatz« natürlich super gepasst hätte. Dieser Film wurde von der Berlinale allem Anschein nach abgelehnt. Ebenso wie die Filme von Jan Ole Gerster, der dann bereits im letzten Jahr in München Premiere hatte, und von der Schwedin Carolina Hellsgaard, der gerade in Saarbrücken gezeigt
wurde, und die beide zumindest einen gehobenen Premiereplatz im Panorama verdient gehabt hätten.
Stattdessen läuft mit »Undine« nun auch der fünfte Film von Christian Petzold im Berlinale-Wettbewerb – vielleicht auch, weil dieser wieder einmal von Cannes abgelehnt wurde. Aber die Frage ist, ob eigentlich jeder Film Petzolds auch in Zukunft eine Art automatisches Wettbewerbs-Abonnement haben wird?
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350 Filme statt 400, das sind immerhin gut zehn Prozent weniger. Da braucht Chatrian noch 15 Jahre, bis er bei der Größenordnung von Cannes angekommen ist. Man wünscht ihm mehr Mut.
Die wahre Baustelle liegt bei den offenen Raumfragen, bei der Frage nach Profil und Unabhängigkeit gegenüber amerikanischen Willkürentscheidungen, wie den Oscar-Terminen.
Ohne Mut wird Chatrian die Berlinale auch nicht zeitlich oder räumlich verlegen können – das wird er aber müssen, wenn er diesen kaum beweglichen und an einigen Stellen leck geschlagenen, unzeitgemäßen Tanker wieder flottmachen will.
(to be continued)