70. Berlinale 2020
Das Publikum orientieren |
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Ivan Trojan, Juraj Loj in »Charlatan« von Agnieszka Holland, Sektion »Berlinale Special« | ||
(Foto: Berlinale Presseservice) |
»In the morning you have the journalists; in the night you have the sponsors.«
Carlo Chatrian
Es ist ein anderer Ton, ohne Frage, mit dem die Berlinale jetzt auftritt: Ruhiger, gelassener, zuhörend und cinephil. Äußerungen des neuen Berlinale-Chefs Carlo Chatrian fehlt alles Verkäufergehabe und die Vulgarität seines Vorgängers. Die stil- und instinktlosen Kosslick-Jahre sind erkennbar vorbei.
Die Frage ist allerdings, ob sich hinter dem Ton auch die Substanz verändert.
Einen ersten Einblick in das, was im Kopf der Spitze der Internationalen Filmfestspiele Berlin vorgehen könnte, über das hinaus, was die Programmpräsentation und das Programm selbst offenbaren, bot jetzt das 14. »Akademie Gespräch« an der Berliner Akademie der Künste. Betitelt mit »Wozu Filmfestivals?« und bestückt mit immerhin drei Direktoren verschiedener Festivals, war doch jedem klar, dass man die Runde auch hätte »Wozu Berlinale?« taufen können. So gesehen war es ein
Glück, dass der in der Ankündigung noch annoncierte Thierry Frémaux, künstlerischer Direktor der Cannes-Filmfestspiele, abgesagt hatte. Sein Besuch wäre zwar eine nachträgliche Spitze gegen Kosslick gewesen, er hätte Carlo Chatrian aber die Schau gestohlen.
Gemeinsam mit Chatrian debattierten die Viennale-Direktorin Eva Sangiorgi, Karlovy-Vary-Leiter Karel Och und die AdK-Präsidentin, Regisseurin Jeanine Meerapfel.
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Der Moderation von FAZ-Filmkritiker Andreas Kilb war kaum anzumerken, dass er wahrscheinlich noch lieber mit Chatrian allein gesprochen hätte. Er begann gleich mit einer Frage, die ins Zentrum von Eva Sangiorgis Kino-Verständnis führte: Nach der Aufhebung der Unterscheidung zwischen Spiel- und Dokumentarfilm, die sie vor zwei Jahren zum Verdruss nicht weniger Wiener eingeführt hatte. Als Sangiorgi meinte, alle Art von Filmen spiegele die Welt, und in gewissem Sinn sei auch
jede Film-Form manipulativ, konterte Kilb mit dem Hinweis, es mache doch einen essentiellen Unterschied, ob man eine Umweltkatastrophe mit tatsächlichen Toten nun dokumentiere, oder mit Schauspielern und Tricks der Maskenabteilung nachstelle. Darüber hätte man nun eine eigene Veranstaltung machen können, vielleicht unter dem Titel: »Wozu Wahrheit?« Mit dem Thema des Abends hatte das nichts zu tun.
Vielleicht, weil sie dies spürte, wich Sangiorgi derartigen
»philosophischen Themen« aus, und bemerkte, es ginge doch bei Filmen wie bei Festivals darum, »das Publikum zu orientieren«. Ein eleganter Formulierungsersatz für das Wort »Erziehung«, das längst auch in jenen bildungsbürgerlichen Kreisen verpönt ist, die einst ihr komplettes Selbstverständnis auf der Distinktion zwischen den Gebildeten und denen, die es nicht sind, stützten.
Denn selbstverständlich muss es Filmfestivals genau darum gehen: Darum, das Gegebene, also zuallererst den meist nicht vorhandenen Geschmack der Leute, nicht etwa hinzunehmen, sondern infrage zu stellen, herauszufordern, und zu formen. Also um Bildung und Erziehung des Publikums. Um seine Orientierung. Die hat aber nur der nötig, dem der Kompass fehlt.
Ein gutes Filmfestival ist wie ein gutes Programmkino: Es sucht sich sein Publikum selbst, es will ihm etwas zeigen,
was es noch nicht kennt, es will Lust machen, Horizonte erweitern, Tunnelblicke zersplittern. Je mehr ein Festival das bestätigt, was die Menschen sowieso schon meinen, desto schlechter ist es.
Der Volkstribun ist nur eine andere Art von Diktator.
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Karel Och war eher fürs Anekdotische zuständig. Geschichten aus der guten alten Zeit des Staatssozialismus, als Festivalprogrammer auch noch selbst der Preis-Jury vorsaßen, und dergleichen. Tempi passati, und man weiß nicht, ob man das nicht doch bedauern sollte. Filme waren mehr wert damals, Demokratisierung bedeutet auch Inflationierung.
Man erfuhr auch, dass Karlovy Vary nicht öffentlich finanziert ist, sondern ein privatwirtschaftliches Unternehmen. »We try not
to upset our audience«, lächelte Och, der immerhin sein Filmprogramm kürzlich von 230 auf 180 Titel, also um über 20 Prozent reduziert hatte – wovon die Berlinale trotz deutlich über 300 Filmen weit entfernt ist. Ausgeblendet bleibt bei Ochs Verdrussvermeidungsstrategie aber die Möglichkeit, dass ein Teil des Publikums, gerade des gebildeten, zum Kulturevent geht wie zu einer Domina: Es will gepeitscht und drangsaliert werden, um sich richtig wohlzufühlen.
Dann wandte
sich die Debatte endlich Carlo Chatrian zu.
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Kilb fragte nach »dem neuen Gesicht« der Berlinale, »was könnte eine neue Idee des Festivals sein?« »Ich kann das nicht beantworten«, sagte Chatrian, hier immerhin ehrlich. Ihm sei diese Frage zu abstrakt, Festivals folgten schließlich dem Gang des Kinos. Und das Kino sei schneller als Festivals.
Dass solche Antworten (oder Überlegungen?) gut klingen und zwar nicht ganz falsch, aber eben auch nur allenfalls halb richtig sind, machte Jeanine Meerapfel in einer direkten, wenngleich höflich getarnten Gegenrede klar: Kino sei natürlich immer ein Spiegel der Gesellschaft. Aber »Kino findet nicht mehr im Kino statt. Sondern auf Festivals.« Das bedeutet in der Konsequenz, dass Festivals heute eine größere Verantwortung haben, denn je. Sie sind nicht nur Hüter der Kino-Erfahrung, einen Film gemeinsam mit vielen Fremden im dunklen Saal zu sehen, und später womöglich noch zu besprechen. Sie ersetzen auch die Programmkinos, die weniger werden, und wo sie verbleiben, oft dem Hang zum Wellness-Arthouse verfallen, also den niederen Instinkten des Publikums nachzulaufen, anstatt seine Neugier zu triggern, sein Gewissen und seinen Geschmack zu trainieren.
Chatrian betonte, dass er alle Arten von Kino liebe, und dass für ihn Filme Selbstzweck sind, nicht Träger von Botschaften. Er erwähnte seine Liebe zum Genre, zu Hollywood-Erzählweisen, ebenso wie die Gefahr, die allen Festivals dann droht, wenn sie zu viele jener Filme aussuchen, die nur noch eigens für Filmfestivals gemacht werden. Wer sein Programm in Locarno erlebt hat, kann das bestätigen. Zugleich kann die Berlinale kein zweites Locarno werden – zumindest hier muss man jenen Beobachtern zustimmen, für die jetzt schon »Locarno« und die »Locarnosierung« der Berlinale Codeworte ihrer Befürchtungen sind.
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Genau das ist allerdings die Frage, an der sich der Erfolg von Carlo Chatrian entscheiden wird. Wird es ihm und der kaufmännischen Geschäftsführerin Mariette Rissenbeek gelingen, der Berlinale eine Konzentration auf das Wesentliche zu geben, ihr klare »rote Fäden« zu verpassen? Je mehr Filme man weiterhin zeigen will, um so mehr wäre das nötig.
Wer die Antworten Chatrians am Mittwochabend hörte, wird bei aller Sympathie vorläufig skeptisch bleiben. Denn je länger Kilb fragte,
um so mehr schien der Berlinale-Boss abzuwiegeln: Zum Beispiel auf die Frage, ob es nicht zu viele Sektionen gebe – einer der zentralen Kritikpunkte vieler Berlinale-Beobachter. »The number of sections is a result of a demand«, erklärte Chatrian, als sei es das Publikum, das eine Unterscheidung von »Berlinale Panorama« und »Berlinale Gala« fordere, das sich eine Differenzierung zwischen »Forum« und »Forum Expanded« wünsche. Und als sei die Berlinale nur der erste Diener des
Publikums, sein Butler, der ihm jeden Wunsch von den Augen ablese. Tatsächlich ist die Berlinale eine nach Kriterien der Effizienz, Kostenreduzierung und Einnahmenmaximierung durchgeplante Maschinerie.
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Dass die erst unter seinem Vorgänger aufgeblähte Zahl der Sektionen nicht reduziert werden könnte, konnte Chatrian ebenso wenig triftig begründen, wie er erklären konnte, warum unbedingt 360 Filme gezeigt werden müssen. Zur Erinnerung: In Cannes und Venedig, der unbestrittenen Hauptkonkurrenz zu Berlin (oder findet man sich inzwischen selbst nicht mehr satisfaktionsfähig?) laufen in allen Sektionen zusammen zwischen 100 und 120 Filmen. Eine Einladung dorthin ist also gut dreimal
so viel wert. Derartige Arithmetik mag etwas schlicht sein, wie mir Eva Sangiorgi später im persönlichen Gespräch gut erklären konnte. Man muss sie aber einsetzen, weil die Berlinale selbst gern mathematisch argumentiert: 300.000 Zuschauer müssten schließlich irgendwo unterkommen, sagte Chatrian allen Ernstes, um die Zahl der Filme zu verteidigen. Aber warum müssen überhaupt 300.000 Menschen auf die Berlinale gehen?
Die Berlinale sei ein demokratisches Festival, behauptete
Chatrian – man muss da widersprechen, denn derartige Rhetorik ist vor allem populistisch. Ein Festival ist auch dann nicht undemokratisch, wenn nur Professionelle und Akkreditierte Zugang haben. Es ist anders. Und auch die Berlinale muss viele Zuschauer wegschicken, wenn eine Vorstellung ausverkauft ist. Ist sie dann undemokratisch? Chatrian hätte die Übergröße auch anders, mit gewachsener Tradition zum Beispiel verteidigen können.
»Demokratie« ist hier ein
Totschlagwort, mit dem Kritik und Diskussion erstickt werden sollen.
Aber was spricht dagegen, dass statt 300.000 Karten nur noch 150.000 Karten gekauft werden könnten? Die Ideologie des »Publikumsfestivals«.
Wer aber wirklich der Kinokultur etwas Gutes tun will, der würde versuchen, ihr nicht durch ein Megaevent das Wasser abzugraben, und lieber etwas dafür zu tun, dass die übrigen 150.000 Zuschauer die auf der Berlinale gezeigten Filme dann später im Kino sehen. Zu entgegnen, wie es gelegentlich geschieht, dass das ja eh nicht passieren werde,
ist eine zu bequeme Ausrede.
Das alles passt ins Gesamtbild: Grundsätzliche Verbesserungen sind bei der Berlinale einstweilen nicht zu erwarten. Wesentliche Mängel werden bis auf Weiteres bleiben.
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Auf die Frage, ob ein Festival subversiv sein könne, erklärte Chatrian, Kino habe einst eine Relevanz gehabt, die heute verloren gegangen sei. In den 80ern habe ein Bruch stattgefunden, der Weg zu den alten Verhältnissen sei für immer verbaut. Subversion sei ein Begriff vergangener Zeiten. Er wolle lieber von »Überraschung« sprechen.
Wieder kam die Gegenrede von Jeanine Meerapfel. Sie habe erst kürzlich das Filmfestival im kubanischen Havanna besucht. Unter den dortigen
wirtschaftlich wie politisch belasteten Bedingungen sei Kino selbstverständlich subversiv. Dort gebe es großen Hunger nach den Bildern und Erfahrungen, wie sie das Kino vermitteln kann.
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Man könnte ähnliche Geschichten nicht nur aus ganz Lateinamerika, sondern ebenso aus China, aus dem Iran, aus Russland und dem kompletten Nahen Osten erzählen. Neben dem Verdummungs-Mainstream der Kulturindustrie, die in ihrer größten Schamlosigkeit aber längst das Fernsehen und das Internet für sich reserviert hat, gibt es in all diesen Regionen ein starkes Autorenkino individuellen Zuschnitts, das den Verhältnissen ästhetischen Widerstand entgegensetzt.
Die
europäischen Verhältnisse, wo das nicht passiert, sind der eigentliche Sonderfall.
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Filmfestivals müssen sich entscheiden, wo sie sich hier positionieren. Der übliche Weg ist der, sich zur Bühne für die Widerstandsgesten aus dem Rest der Welt zu machen, die Verhältnisse, die darin bekämpft werden, aber zuhause zu bestätigen. Dort huldigt die Kunst am Abend dann den Politikern und den Sponsoren, die tagsüber mit den Folterknechten der Künstler paktieren. Dieter Kosslick war ein solcher Kerkermeister, der die Berlinale in einen Ort verwandelt hat, wo das
Publikum in verschiedene Einzelzellen sortiert und aller gemeinsamen Erfahrung, ja der Erfahrung der Vergesellschaftung selbst beraubt war. Die Leute wollen es so, war die Entschuldigung – die alte Ausrede aller Volkstribune.
Adorno hat das den »Einbau der Barbarei« genannt: »Dabei aber kann der Wille der Verfügenden auf den Weltwillen sich berufen. Ihre Massengesellschaft hat nicht erst den Schund für die Kunden, sondern die Kunden selber hervorgebracht.«
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Vielleicht hat sich ja das Kino doch gar nicht verändert. Vielleicht haben die Menschen der Wohlstandsgesellschaften nur verlernt, an das Kino – und damit an sich selbst – bestimmte Erwartungen anzulegen. Und Filmfestivals im modischen postmodernen Zuschnitt haben dazu beigetragen. Sie haben aktiv an diesem Verlernen, am Zustand des Vergessens und Geschmacksverlusts, der ein Geschichtsverlust ist, mitgewirkt.
Filmfestivalforschung hätte, anstatt im Bund
mit den Gewerkschaften Arbeitsbedingungen zu erforschen, zuallererst dem gesellschaftlichen Auftrag, also der politischen und ökonomischen Funktion von Festivals sich zuzuwenden. In diesem Rahmen versteht man dann auch die (Selbst-)Ausbeutung von Praktikanten besser.
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Es gibt keinen Grund zur politischen Paranoia. Festivals mögen ein Instrument im Auftrag eines immer rigideren filmindustriellen Regimes sein. Aber sie haben in einer nach wie vor vergleichsweise offenen Gesellschaft genug Spielraum und viele Möglichkeiten. Zudem tun im gerade zerfallenden Rahmen der alten Verhältnisse immer neue Löcher und Leerstellen sich auf, die von Initiativen grundsätzlich gefüllt werden könnten. Ein Chancenmangel ist also weniger zu beklagen, als ein
Mangel an Ideen.
Die real existierenden Filmfestivals tragen zu diesem nun wesentlich bei. Nichts wird in den Gesellschaften des Westens heute noch wirklich ernst genommen, schon gar nicht die Politik, in der entsprechend auch die Clowns regieren. Am wenigsten aber nehmen die Menschen sich selbst ernst. Dies spiegelt Verhältnisse, in denen leutseliger Humor zur Maske von Rohheit und Stumpfsinn geworden ist, und die Glätte der Oberflächen die Ahnung des Grauens, das unter ihnen
verborgen liegt, eher noch verstärkt.
Wenn im breiten Publikum und selbst in den interessierteren Kreisen der »Filmszene« Dekadenz und Snobismus sich breitmachen und mit wohlfeiler Elitenkritik (an der »Arroganz von Cannes« z.B.) paaren, dann ist dies das Ergebnis einer verengten Vorstellung von »Filmfestival« und »Filmkultur«. Diese wieder zu erweitern, und aus dem Gefängnis der eigenen Borniertheit zu befreien, ist die wesentliche Aufgabe. Erst recht auch für ein
Filmfestival, das als politisch sich verstehen will.
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Ein Filmfestival sollte vor allem eine gemeinsame Erfahrung sein. Seine Besucher, egal ob »professionell« oder nicht, sollten sich auch in ihren Erlebnissen begegnen, diese miteinander teilen können. So wie es Städte gibt, die zu groß werden und zum Moloch degenerieren können, kann das auch Festivals geschehen.
Ein Festival ist im Unterschied zum normalen Kino kein Supermarkt, sondern ein Ort für freundschaftlichen Austausch, mal konzentriert, mal in Trance, mal driftend,
voller Vertrauen in die Kuratoren. Es wäre schön, wenn die Berlinale dies eines Tages wieder sein könnte.
(to be continued)