70. Berlinale 2020
»Auf der Suche nach dem Echten, auch wenn ich dabei zutiefst unecht wirke...« |
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Berührend, aggressiv und überraschend: Schlingensief – In das Schweigen hineinschreien | ||
(Foto: Berlinale Presseservice) |
Von Axel Timo Purr
»Ich sehe mich in der Tradition des Neuen Deutschen Films. Der ist mal angetreten mit dem Vorsatz, Filme zu machen , innovativ zu sein, aber dann wurde er wehleidig. Der Autor ruft mea culpa, und die Kritiker nicken. Trotzdem sehe ich mich in dieser Tradition, aber ich glaube, dass meine einzige Berechtigung im Moment in der Drastik liegt: 75 Minuten mit der Faust auf die Leinwand.«
(Christoph Schlingensief im filmischen Interview mit Frieder Schlaich, 2004)
2014, vier Jahre nach Christoph Schlingensiefs Krebstod, hatte er es im Grunde schon einmal geschafft, wiederaufzuerstehen, hatte er es mit der Schlingensief-Retrospektive im New Yorker PS1 in den künstlerischen Pantheon geschafft, weit über sein ursprünglich deutsch-sprachiges Wirkungszentrum hinaus. Ich hatte damals meine Zweifel, als ich mir die Werkschau in New York ansah, vor allem sein filmischer Nachlass erschien mir wie ein schlechter Witz aus alten Zeiten, sein Gesamtwerk völlig aus der Zeit gefallen.
Wie man sich doch täuschen kann.
Denn pünktlich zu Schlingensiefs 60. Geburtstag hat Bettina Böhler, die großartige Editorin, die u.a. mit Christian Petzold und Valeska Grisebach zusammengearbeitet hat, ihre erste Regie-Arbeit vorgelegt, eine zweistündige Montage, die das Leben und Werk von Schlingensief rasant montiert wiedererzählt und ihn zum zweiten Mal zum Leben erweckt. Von Schlingensiefs ersten Super-8-Filmen bis zum Fluxus-Oratorium »Eine Kirche der Angst vor dem Fremden in mir«, umspannt Böhlers Film das 40-jährige Schaffen Schlingensiefs. Privatvideos, Theatermitschnitte und unveröffentlichtes, neu digitalisiertes Material fügen sich zu einem Mosaik zusammen, das überraschender nicht sein könnten.
Denn was mir vor sechs Jahren noch völlig aus der Zeit gefallen schien, was in meinen Augen aufgesetzter Sponti-Quatsch war, verdreht sich durch Böhlers wild auf dem Fluss der Zeit treibenden Film und der in den letzten Jahren so drastisch zugenommen »Politisierung des Alltags« zu einem fast schon prophetischen »Back-to-the-Future-Kommentar zu unserer Gegenwart. Denn alles, was heute relevant ist – sei es der Populismus in der Politik, sei es das Dilemma um die Asylpolitik, sei es die ostdeutsche Verzweiflung oder der eigene Nazi in jedem von uns, all das findet sich in Schlingensiefs Werk nicht nur wieder, sondern ist mehr noch: überraschende kreative Handlungsanweisung für eine Welt, die keiner mehr versteht. Allein schon der Diskurs darüber, ›wie mit Rechten zu reden sei‹ – bei Schlingensief ist er berührend, aggressiv und überraschend in die Tat umgesetzt.«
Und auch wenn Schlingensief am Ende die Kunst immer weniger in die Quere kommt, er in fast schon Knausgardscher Manier die Welt immer weniger ausschließlich als Manipulation bzw. Film ertragen will, er dem Echo seiner eigenen Schöpfung und seiner Erlösung immer verzweifelter folgt, dann wird auch das gerade in unserer gegenwärtig so totalitär-sozial-medialer Ich-Bezüglichkeit zur schillernden Vignette. Und man kann nur von Glück reden, das Schlingensiefs Vater seinen Sohn nicht – wie von aggressiven Schlingensief-Kritikern an ihn herangetragen wurde – vor Zeugung in die Ruhr abgespritzt hat.
Und ein Glück ist es dann sowieso, dass Bettina Böhler diesen Film gemacht hat.