70. Berlinale 2020
Poverty Porn |
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Das Kind auf dem Arm | ||
(Foto: © Falko Lachmund/Flare Film / Berlinal) |
Von Sedat Aslan
Schon die ersten Minuten machen klar, dass man es hier mit einem klassischen Exemplar des Subgenres zu tun hat, das in der englischsprachigen Kritik polemisch unter dem Begriff »Poverty Porn« läuft: der Protagonist steht an der Wand; er ist notorisch pleite, hat drei Kinder von zwei Frauen, um die er sich nicht richtig kümmern kann; droht wegen Mietverzugs aus seiner schimmligen Wohnung im Plattenbau zu fliegen; war früher mal hoffnungsvoller Boxer, nun arbeitet er schwarz auf dem Bau.
Jannis Niewöhner spielt mit einer beeindruckenden physischen Präsenz diesen gesellschaftlichen Außenseiter namens Andi in Kids Run, dem Debütfilm von Barbara Ott, die mit ihrem Abschlussfilm Sunny 2013 von sich reden machte. Über die weitere Handlung lässt sich kaum interessantes mehr vermelden: Andi hustlet sich durch sein Leben, das man getrost als verpfuscht bezeichnen kann, und versucht dabei Sonja (macht aus wenig sehr viel: Lena Tronina), seine Ex und die Mutter seines kleinsten Kindes, zurückzugewinnen. Dabei schreckt er nicht einmal vor einer Rückkehr in den Ring zurück: ein Unterfangen, dass ihn, wie es fast schon einmal geschehen wäre, töten könnte.
Der Plot hält bis auf eine Lazarus-Szene keinerlei größere Überraschungen bereit, sein Mechanismus ist kaum befriedigend: sobald es nach Ärger riecht, gibt es dann auch gleich Ärger. Ein Beispiel: Andi bekommt irgendwann im Film einen Job als Türsteher. Er lässt drei seiner Jungs in den Club ein und ruft ihnen, Unheil ahnend, hinterher, sie sollen keinen Ärger machen. Der Film braucht dann auch nicht mal eine Minute, bis die Jungs einem seiner Kollegen mit einer abgebrochenen Bierflasche das Gesicht aufschlitzen. Alle vier hauen ab und landen ausgerechnet bei Sonjas Arbeitsstelle, mit der Bitte, sie zu verstecken, usw. – rinse, repeat. Was soll denn daran spannend oder enervierend sein?
Diese Vorhersehbarkeit und Monotonie wäre zu verschmerzen, wenn stattdessen Figuren oder Atmosphäre überraschend und/oder faszinierend genug wären, den Film zu tragen. Der Konjunktiv deutet an, dass dies nicht der Fall ist. Der Film verfolgt auf allen Ebenen eine plumpe Erzählstrategie. Insbesondere die Kinderfiguren stehen stellvertretend dafür, obwohl gut gecastet und geführt, werden sie rein funktional eingesetzt, als Resonanzkörper für emotionale Schwingungen gebraucht, die sich jedoch nicht einstellen mögen, bis hin ins fast schamlose Schlussbild. Auch die Protagonisten bleiben in ihrer Zeichnung flach: Andi ist an Schlüsselstellen des Films nichts weiter als ein Grobklotz, den der Zuschauer rational nicht verstehen kann, und Sonja paraphrasiert an mehreren Stellen über den gesamten Film allen Ernstes den Satz: »Ich möchte ein besseres Leben haben.« Das ist zu wenig. Vom Gehalt ist das nicht viel mehr als bei einem Kurzfilm.
Es gibt aber darüber hinaus etwas zu bemängeln: Dem Film fehlt, allen sicherlich hehren Absichten zum Trotz, ein klar humanistische Perspektive. Nur vereinzelt, und auch dann eben nur in Verbindung mit seinem Kleinkind, wird Andi zum Menschen. Wegen des Sozialrealismus bieten sich Vergleiche etwa mit Ken Loach oder den Gebrüder Dardennes an. Wo gerade bei Loach immer die Fehler des Systems, das dahinter steckt, miterzählt werden, wird diese Ebene in Kids Run nicht behandelt. Man ist angehalten, die Hauptfigur selber für ihre Misere verantwortlich zu machen, denn sie hat scheinbar nichts gescheites gelernt, und ist darüber hinaus ein unbelehrbarer Sturkopf. Die Figuren müssen sich wie Stereotype in einer sterilen Versuchsanordnung verhalten, atmen nicht, leben nicht. Es geht nur ums Ergebnis. Diese Haltung gegenüber den eigenen Figuren grenzt an Zynismus. Wie leicht hätte man ihnen ein Motiv des Träumens einräumen können, um dem zu begegnen. Folgerichtig bleibt ihnen am Ende, wie auch der Regisseurin, nur die Flucht: und zwar die aus den künstlich angelegten Daumenschrauben der Geschichte.