24.02.2020
70. Berlinale 2020

Simul­ta­nis­ti­sche Film­kritik 1-3

prófugo
Eröffnete den Wettbewerb: prófugo
(Foto: ©Rei Cine SRL, Picnic Producciones SRL / Berlinale)

Schnell nach dem Sehen notiert: El prófugo, Schlingensief, Kokon

Von Rüdiger Suchsland

El prófugo (The Intruder) (Wett­be­werb) – Simul­ta­nis­ti­sche Film­kritik 01

Die Haupt­figur ist eine Synchron­spre­cherin, spezia­li­siert auf japa­ni­sche Horror­filme, und die scheinen gewisse Auswir­kungen auf ihr Bewusst­sein, ihren Bewusst­seins­zu­stand zu haben. Sie singt auch in einem Chor. Es geht um eine Frau, die an Schlaf­lo­sig­keit leidet, an Albträumen. Realität und Träume, dann auch die Traum­ebenen unter­ein­ander vermi­schen sich. Und irgend­wann liegt eine Leiche in einem Hotelpool in Mexiko.
Dies ist ein über­ra­schender Film in mehr­fa­cher Hinsicht: Als erster Film des Wett­be­werbs, als Eröffnung der Wett­be­werbs unter Carlo Chatrian. Natalia Meta ist ein junge Regis­seurin. Ihr Film ist Genrekino, einer­seits ein Psycho­thriller, ande­rer­seits auch eine Komödie. Man denkt ein bisschen an die Art von Filmen, wie sie Hitchcock gemacht hat, wo beides zusam­men­geht. Dieser Film ist etwas kleiner, es sind nicht große Holly­wood­bilder, es gibt auch keine bekannten Stars. Dafür ist dies ein sehr argen­ti­ni­scher Film. Wenn man Argen­ti­nien ein bisschen kennt, dann merkt man, dass dies sehr viele Bezüge hat zur Kultur und dem Lebens­ge­fühl dieses Landes. Musik spielt eine große Rolle, nicht nur der Tango, sondern auch eine bestimmte Art von Schlagern.
Gleich am Anfang sieht man die Verdop­pe­lung der Ebenen, die leicht verzerrten Bilder der Filme, die sie synchro­ni­siert, den japa­ni­schen Ton hört man. Und man hört dann ihren spani­schen Ton dazu.
Ein sehr bezie­hungs­rei­cher, zugleich auch ein sehr unter­halt­samer Film.

Wenn man diesen Film vorher gesehen hätte in anderen Zusam­men­hängen, hätte man nicht sofort gedacht: Ja, der muss in den Wett­be­werb. Er ist deswegen nicht schlecht, aber er ist kein Film, der in Cannes oder Venedig, den anderen großen Festivals, an denen sich die Berlinale misst, laufen würde. Es ist etwas kleiner. Er kann hier sehr gut im Wett­be­werb laufen, er hätte aber auch genauso unter dem Vorgänger und dem Vorvor­gänger von Chatrian im Wett­be­werb laufen können.

Dieser Film ist in Ordnung, aber er ist kein Film, der die Filmkunst oder die Film­ge­schichte verändert. Dafür ist er zu konven­tio­nell. Das muss aber der Anspruch sein. Er ist überhaupt kein schlechter, sondern ein relativ normaler, wenig über­ra­schender Film, ein Film, den man sich gut angucken kann und den man drei Tage später wahr­schein­lich schon wieder vergessen hat. Was wirklich im Gedächtnis bleibt, ist die charmante Haupt­dar­stel­lerin und die schöne Musik.

Schlin­gen­sief – In das Schweigen hinein­schreien (Panorama Dokumente) – Simul­ta­nis­ti­sche Film­kritik 02

»Geschnipsel«, sagte irgend­je­mand direkt an der Tür zum Kino, als der Film fertig war. So kann man es nennen; man kann aber auch sagen: Eine avan­cierte Montage.
Bettina Böhlers Film über den Ausnah­mekünstler Christoph Schlin­gen­sief ist kein Ausnah­me­film. Sein Gegen­stand ist immer stärker als der Film, das spricht nicht gegen ihn, sondern für Christoph Schlin­gen­sief.
Zweimal habe ich Christoph Schlin­gen­sief inter­viewt, ein paarmal mehr gesehen und mit ihm gespro­chen. Die Inter­views waren großartig – als Erfahrung. Wenn man sie anhörte und abtippen, in pres­se­traugliche Form bringen musste, merkte man: Hier redete einer manchmal auch ziem­li­chen Mist, und sich selbst um Kopf und Kragen. Dann wieder kurze geniale Schübe.
Er war einer dieser Leute, der einem gleich die Handy-Nummer gab, voller Vertrauen, dass man damit kein Schind­luder treibt. Und deswegen waren die aller­meisten auch nett zu ihm.
Schlin­gen­sief – In das Schweigen hinein­schreien zeigt zunächst einmal, dass man den Mann nicht auf den Punkt bringen kann.

Was war das für ein Regisseur! Thea­ter­ma­cher, Filme­ma­cher, Perfor­mance-Künstler; »ein Provo­ka­teur« wollte er nicht sein, das sagt er gleich mehrmals in diesem Film. Nicht er sei provo­zie­rend, sondern die Verhält­nisse seien es.
Schlin­gen­sief war selbst das Kunstwerk, er war eine »Insti­tu­tion in einem Fall« (Arnold Gehlen) und er fehlt uns heute mehr denn je. Das beweist dieser Film, da liegt seine Kraft und Schönheit. Wer diesen Film sieht, der bekommt große Lust zum Unmög­li­chen: Nämlich selbst schlin­gen­sief­haft Kunst zu machen, ihn nach­zu­ahmen, ihm nach­zu­folgen selbst in seinen Irrtümern, selbst in den ganzen Müll, den auch produ­zierten.
Die Tugend des Christoph Schlin­gen­sief liegt im Unreinen. Seine Kunst war unrein, ungefügt, grob­schlächtig, er war im aller­besten Sinn ein Verun­rei­niger der falschen Sauber­keit, der falschen Klar­heiten.
Was man kriti­sieren könnte, viel­leicht auch muss an diesem Film: Das er zu chro­no­lo­gisch vorgeht. Etwas mehr Wildheit, etwas mehr Schlin­gen­sief-Ungestüm hätte dem Film gut getan. Die Drama­turgie bzw. der Aufbau des Films ist recht grob in bestimmte Kapitel und Zusam­men­hänge geordnet: Sein Verhältnis zum Natio­nal­so­zia­lismus z.B. und zur Vergan­gen­heit, sein Verhältnis zu Familie, sein Verhältnis zu sich selbst und dann natürlich schließ­lich der Tod.
Die Erklärungen von ihm, die der Film zeigt, sind durchweg öffent­liche Erklärungen. Wie war der Mann als Mensch, als Liebhaber, als Freund. Hatte er Freunde, konnte er sie haben? Gab es den privaten Schlin­gen­sief? Ist das wichtig? Offene Fragen.
Es ist natürlich eine Grund­satz­ent­schei­dung, dass der Film auf jeden Wort-Kommentar verzichtet, seinen Kommentar ganz in die Bilder und ihre Montage legt. Aber viel­leicht wird man da mit einem Wort-Künstler wie Schlin­gen­sief auch nicht zu hundert Prozent gerecht, viel­leicht hätte man schon versuchen müssen, sei es durch Inserts, sei es durch einen Erzäh­ler­kom­mentar der Autoren, sei es durch Gespräche mit Wegbe­glei­tern oder Inter­preten, einen etwas klaren Stand­punkt und Haltung in den Film hinein zu bringen.
Aber so etwas, insbe­son­dere Erzähl-Kommen­tare, ist komplett aus der Mode geraten.
Was der Zuschauer hier geliefert bekommt, ist ein Wimmel­bild aus lauter kleinen inter­es­santen Eindrü­cken, zugleich aber wird man mit diesem Ganzen, den wilden Eindrü­cken, den vielen Ideen des Gedan­ken­chao­ti­kers Schlin­gen­sief allein gelassen.
Dann ist man ein isoliertes Indi­vi­duum auf der Insel Egomania, über die Schlin­gen­sief auch einen Film gemacht hat – und das ist dann vermut­lich ganz gegen den Willen der Autorin auch ein ziemlich neoli­be­raler Zustand.

Kokon (Gene­ra­tion 14plus) – Simul­ta­nis­ti­sche Film­kritik 03

Kokon, ein Film von Leonie Krip­pen­dorff. Die hat vor ein paar Jahren einen ausge­zeich­neten Film gemacht: Looping. Die Haupt­dar­stel­lerin war damals Jella Haase, und Jella Haase spielt auch in diesem Film die zentrale Rolle – gewis­ser­maßen ein Medium, eine Madeleine, einen Stein des Anstoßes.
Haase hat ganz ausge­zeich­nete Fähig­keiten als Darstel­lerin und noch viel wichtiger: Sie hat Charisma.
An seiner Ober­fläche erinnert dieser Film ein bisschen an Prin­zes­sin­nenbad mit dem vor bald 15 Jahren Bettina Blümner Furore machte. Das waren noch Berlinale-Zeiten, als ein Film zum Ausdrucks­organ einer ganzen Stadt und ihres Lebens­ge­fühls wurde. Ob Berlin heute überhaupt noch so ein Lebens­ge­fühl hat, da habe ich persön­lich meine Zweifel. Dieser Film hätte das Zeug dazu, schafft es aber dann doch nicht – was in diesem Fall nicht in der Regis­seurin oder dem Film, sondern an der der Stadt liegt.

Es geht um drei Mädchen. Im Zentrum stehen aber eigent­lich zwei Schwes­tern: Jule und Nora, und hier wiederum die jüngere Nora. Die Mutter trinkt zu viel und kümmert sich zu wenig, die Mädchen sind sich selbst über­lassen. Sie wohnen irgendwo am Kotti in einem Hochhaus mit Blick steil runter auf dem Platz. Fast zu schön, um wahr zu sein, aber nicht wirklich schön.
Nora bricht sich die Hand, kann nicht mit auf Klas­sen­fahrt, muss in der Klasse ihrer älteren Schwester in die Schule gehen. Es sind wichtige zwei Wochen; es ist total heiß, der Sommer 2018. Die Luft hat 37 Grad ist also genauso warm wie der Körper. Die Haut keine Grenze mehr, auch sonst steigt die Hitze. Nora bekommt zum aller­ersten Mal ihre Tage. Es ist nicht leicht, damit umzugehen. Die, die ihr hilft, ist Romy, ebenfalls eine Neue. Zweimal sitzen geblieben, paar mal von irgend­wel­chen Schulen geflogen. Jella Haase spielt diese Figur ohne Prol­lig­keit. Eine Wilde, Unab­hän­gige, trotzdem auch Verletz­liche.
Was mir tatsäch­lich am besten gefällt, ist die Insze­nie­rung von Dingen, wie sie alles im Fluss hält, in Bewegung, im Gleich­ge­wicht, wie sie die Perspek­tiven vertauscht, zwischen den Ebenen wechselt, es trotzdem nie an Orien­tie­rung fehlen lässt, wo es nötig ist. Die Haupt­figur ist klar Nora, trotzdem bekommen wir ein Gefühl für die anderen, eine Vorstel­lung, was deren Sorgen und Nöte sind. Gele­gent­lich, aber nie aufdring­lich, setzt die Regis­seuren Elemente von Handy­auf­nahmen, YouTube-Clips, Instagram-Bilder ein. Es geht darum, das Lebens­ge­fühl in ästhe­ti­sche Erschei­nung zu fassen.
Ein sehr schöner deutscher Film. Seltsam, im guten Sinn.