70. Berlinale 2020
Simultanistische Filmkritik 1-3 |
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Eröffnete den Wettbewerb: prófugo | ||
(Foto: ©Rei Cine SRL, Picnic Producciones SRL / Berlinale) |
Die Hauptfigur ist eine Synchronsprecherin, spezialisiert auf japanische Horrorfilme, und die scheinen gewisse Auswirkungen auf ihr Bewusstsein, ihren Bewusstseinszustand zu haben. Sie singt auch in einem Chor. Es geht um eine Frau, die an Schlaflosigkeit leidet, an Albträumen. Realität und Träume, dann auch die Traumebenen untereinander vermischen sich. Und irgendwann liegt eine Leiche in einem Hotelpool in Mexiko.
Dies ist ein überraschender Film in mehrfacher
Hinsicht: Als erster Film des Wettbewerbs, als Eröffnung der Wettbewerbs unter Carlo Chatrian. Natalia Meta ist ein junge Regisseurin. Ihr Film ist Genrekino, einerseits ein Psychothriller, andererseits auch eine Komödie. Man denkt ein bisschen an die Art von Filmen, wie sie Hitchcock gemacht hat, wo beides zusammengeht. Dieser Film ist etwas kleiner, es sind nicht große Hollywoodbilder, es gibt auch keine bekannten Stars. Dafür ist dies ein sehr argentinischer Film. Wenn man
Argentinien ein bisschen kennt, dann merkt man, dass dies sehr viele Bezüge hat zur Kultur und dem Lebensgefühl dieses Landes. Musik spielt eine große Rolle, nicht nur der Tango, sondern auch eine bestimmte Art von Schlagern.
Gleich am Anfang sieht man die Verdoppelung der Ebenen, die leicht verzerrten Bilder der Filme, die sie synchronisiert, den japanischen Ton hört man. Und man hört dann ihren spanischen Ton dazu.
Ein sehr beziehungsreicher, zugleich auch ein sehr
unterhaltsamer Film.
Wenn man diesen Film vorher gesehen hätte in anderen Zusammenhängen, hätte man nicht sofort gedacht: Ja, der muss in den Wettbewerb. Er ist deswegen nicht schlecht, aber er ist kein Film, der in Cannes oder Venedig, den anderen großen Festivals, an denen sich die Berlinale misst, laufen würde. Es ist etwas kleiner. Er kann hier sehr gut im Wettbewerb laufen, er hätte aber auch genauso unter dem Vorgänger und dem Vorvorgänger von Chatrian im Wettbewerb laufen können.
Dieser Film ist in Ordnung, aber er ist kein Film, der die Filmkunst oder die Filmgeschichte verändert. Dafür ist er zu konventionell. Das muss aber der Anspruch sein. Er ist überhaupt kein schlechter, sondern ein relativ normaler, wenig überraschender Film, ein Film, den man sich gut angucken kann und den man drei Tage später wahrscheinlich schon wieder vergessen hat. Was wirklich im Gedächtnis bleibt, ist die charmante Hauptdarstellerin und die schöne Musik.
»Geschnipsel«, sagte irgendjemand direkt an der Tür zum Kino, als der Film fertig war. So kann man es nennen; man kann aber auch sagen: Eine avancierte Montage.
Bettina Böhlers Film über den Ausnahmekünstler Christoph Schlingensief ist kein Ausnahmefilm. Sein Gegenstand ist immer stärker als der Film, das spricht nicht gegen ihn, sondern für Christoph Schlingensief.
Zweimal habe ich Christoph Schlingensief interviewt, ein paarmal mehr gesehen und mit ihm gesprochen. Die
Interviews waren großartig – als Erfahrung. Wenn man sie anhörte und abtippen, in pressetraugliche Form bringen musste, merkte man: Hier redete einer manchmal auch ziemlichen Mist, und sich selbst um Kopf und Kragen. Dann wieder kurze geniale Schübe.
Er war einer dieser Leute, der einem gleich die Handy-Nummer gab, voller Vertrauen, dass man damit kein Schindluder treibt. Und deswegen waren die allermeisten auch nett zu ihm.
Schlingensief – In das Schweigen hineinschreien zeigt zunächst einmal, dass man den Mann nicht auf den Punkt bringen kann.
Was war das für ein Regisseur! Theatermacher, Filmemacher, Performance-Künstler; »ein Provokateur« wollte er nicht sein, das sagt er gleich mehrmals in diesem Film. Nicht er sei provozierend, sondern die Verhältnisse seien es.
Schlingensief war selbst das Kunstwerk, er war eine »Institution in einem Fall« (Arnold Gehlen) und er fehlt uns heute mehr denn je. Das beweist dieser Film, da liegt seine Kraft und Schönheit. Wer diesen Film sieht, der bekommt große Lust zum
Unmöglichen: Nämlich selbst schlingensiefhaft Kunst zu machen, ihn nachzuahmen, ihm nachzufolgen selbst in seinen Irrtümern, selbst in den ganzen Müll, den auch produzierten.
Die Tugend des Christoph Schlingensief liegt im Unreinen. Seine Kunst war unrein, ungefügt, grobschlächtig, er war im allerbesten Sinn ein Verunreiniger der falschen Sauberkeit, der falschen Klarheiten.
Was man kritisieren könnte, vielleicht auch muss an diesem Film: Das er zu chronologisch
vorgeht. Etwas mehr Wildheit, etwas mehr Schlingensief-Ungestüm hätte dem Film gut getan. Die Dramaturgie bzw. der Aufbau des Films ist recht grob in bestimmte Kapitel und Zusammenhänge geordnet: Sein Verhältnis zum Nationalsozialismus z.B. und zur Vergangenheit, sein Verhältnis zu Familie, sein Verhältnis zu sich selbst und dann natürlich schließlich der Tod.
Die Erklärungen von ihm, die der Film zeigt, sind durchweg öffentliche Erklärungen. Wie war der Mann als Mensch, als
Liebhaber, als Freund. Hatte er Freunde, konnte er sie haben? Gab es den privaten Schlingensief? Ist das wichtig? Offene Fragen.
Es ist natürlich eine Grundsatzentscheidung, dass der Film auf jeden Wort-Kommentar verzichtet, seinen Kommentar ganz in die Bilder und ihre Montage legt. Aber vielleicht wird man da mit einem Wort-Künstler wie Schlingensief auch nicht zu hundert Prozent gerecht, vielleicht hätte man schon versuchen müssen, sei es durch Inserts, sei es durch einen
Erzählerkommentar der Autoren, sei es durch Gespräche mit Wegbegleitern oder Interpreten, einen etwas klaren Standpunkt und Haltung in den Film hinein zu bringen.
Aber so etwas, insbesondere Erzähl-Kommentare, ist komplett aus der Mode geraten.
Was der Zuschauer hier geliefert bekommt, ist ein Wimmelbild aus lauter kleinen interessanten Eindrücken, zugleich aber wird man mit diesem Ganzen, den wilden Eindrücken, den vielen Ideen des Gedankenchaotikers Schlingensief
allein gelassen.
Dann ist man ein isoliertes Individuum auf der Insel Egomania, über die Schlingensief auch einen Film gemacht hat – und das ist dann vermutlich ganz gegen den Willen der Autorin auch ein ziemlich neoliberaler Zustand.
Kokon, ein Film von Leonie Krippendorff. Die hat vor ein paar Jahren einen ausgezeichneten Film gemacht: Looping. Die Hauptdarstellerin war damals Jella Haase, und Jella Haase spielt auch in diesem Film die zentrale Rolle – gewissermaßen ein Medium, eine Madeleine, einen Stein des
Anstoßes.
Haase hat ganz ausgezeichnete Fähigkeiten als Darstellerin und noch viel wichtiger: Sie hat Charisma.
An seiner Oberfläche erinnert dieser Film ein bisschen an Prinzessinnenbad mit dem vor bald 15 Jahren Bettina Blümner Furore machte. Das waren noch Berlinale-Zeiten, als ein Film zum Ausdrucksorgan einer ganzen Stadt und ihres Lebensgefühls wurde. Ob Berlin heute überhaupt
noch so ein Lebensgefühl hat, da habe ich persönlich meine Zweifel. Dieser Film hätte das Zeug dazu, schafft es aber dann doch nicht – was in diesem Fall nicht in der Regisseurin oder dem Film, sondern an der der Stadt liegt.
Es geht um drei Mädchen. Im Zentrum stehen aber eigentlich zwei Schwestern: Jule und Nora, und hier wiederum die jüngere Nora. Die Mutter trinkt zu viel und kümmert sich zu wenig, die Mädchen sind sich selbst überlassen. Sie wohnen irgendwo am Kotti in einem Hochhaus mit Blick steil runter auf dem Platz. Fast zu schön, um wahr zu sein, aber nicht wirklich schön.
Nora bricht sich die Hand, kann nicht mit auf Klassenfahrt, muss in der Klasse ihrer älteren Schwester in die Schule gehen.
Es sind wichtige zwei Wochen; es ist total heiß, der Sommer 2018. Die Luft hat 37 Grad ist also genauso warm wie der Körper. Die Haut keine Grenze mehr, auch sonst steigt die Hitze. Nora bekommt zum allerersten Mal ihre Tage. Es ist nicht leicht, damit umzugehen. Die, die ihr hilft, ist Romy, ebenfalls eine Neue. Zweimal sitzen geblieben, paar mal von irgendwelchen Schulen geflogen. Jella Haase spielt diese Figur ohne Prolligkeit. Eine Wilde, Unabhängige, trotzdem auch
Verletzliche.
Was mir tatsächlich am besten gefällt, ist die Inszenierung von Dingen, wie sie alles im Fluss hält, in Bewegung, im Gleichgewicht, wie sie die Perspektiven vertauscht, zwischen den Ebenen wechselt, es trotzdem nie an Orientierung fehlen lässt, wo es nötig ist. Die Hauptfigur ist klar Nora, trotzdem bekommen wir ein Gefühl für die anderen, eine Vorstellung, was deren Sorgen und Nöte sind. Gelegentlich, aber nie aufdringlich, setzt die Regisseuren Elemente von
Handyaufnahmen, YouTube-Clips, Instagram-Bilder ein. Es geht darum, das Lebensgefühl in ästhetische Erscheinung zu fassen.
Ein sehr schöner deutscher Film. Seltsam, im guten Sinn.