70. Berlinale 2020
An Pinocchio denken |
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Vorhandene Bilder durch neue ersetzen | ||
(Foto: ©Greta de Lazzaris, Berlinale Presseservice) |
Von Sedat Aslan
Wenn Sie an Pinocchio denken, welches Bild kommt Ihnen als erstes in den Sinn? Eine Illustration aus einem alten Buch? Eine Puppe, die Sie als Kind besaßen? Oder doch die zumindest im englischsprachigen Raum kanonische Disney-Version?
Bei mir ist es der Pinocchio aus der japanischen Zeichentrickserie, die sich ganz tief in mein Hirn gebrannt hat, als ich sie mit 4-5 Jahren im ZDF sah – zu einer Zeit, in der es nur drei Programme gab, die damals ungelogen auch noch eine
Mittagspause einlegten.
Ausgerechnet Matteo Garrone, der Regisseur von nicht gerade zimperlich zu nennenden Werken wie Gomorrha und zuletzt Dogman, widmet sich dieses universellen Stoffes vom Holzbub, der zum Jungen aus Fleisch und Blut werden möchte, und nimmt dabei die Herausforderung an, gegen all die vorhandenen Bilder neue zu setzen. Ihm zur Seite steht Roberto Benigni als Gepetto, der 2002 in seinem eigenen, letztlich unbefriedigend gebliebenen Versuch selbst die Titelfigur gab. Soviel kann man schon vorwegnehmen, als alter und gutherziger Holzschnitzer ist er natürlich viel passender besetzt, es macht Freude, ihm zuzusehen und es ist schade, dass er nur am Anfang und am Ende präsent ist.
Dies liegt an Garrones Ansatz, sich nah an Carlo Collodis Vorlage zu halten und diese nur behutsam zu bearbeiten – und dort ist Pinocchio die meiste Zeit eben auf sich alleine gestellt. Der erzieherische Geist eines pädagogischen Märchens des späten 19. Jahrhunderts, das in diesem Fall zuerst als Fortsetzungsgeschichte erschien, findet sich hier unbestritten wieder, auch die für die Vorlage charakteristische episodische Struktur bleibt in Garrones Adaption erhalten. Die stellenweise unheimliche Tonalität ist beim Medienwechsel auch nicht verloren gegangen, es finden sich unbehagliche Bilder wie ein am Galgen baumelnder Pinocchio, so dass der Film für die ganz Kleinen zu aufregend sein könnte.
In diesem neuesten Werk zeigt sich nämlich eher der Garrone von »Tale of Tales«, der eine fantasievolle und vor merkwürdigen Kreaturen überbordende Welt schafft. Hervorzuheben sind hierbei das Oscar-würdige Make-Up und Kostüm. Die grotesken Tierwesen und Marionetten sind in dieser Weise tatsächlich selten im Kino zu sehen. Dort, wo man mit traditionellen Mitteln nicht weiterkam, helfen CGI-Elemente, die aber längst nicht so essentiell für die visuelle Wirkung sind wie etwa die naturgemäß pittoresken toskanischen und apulischen Schauplätze. Man merkt, dass dies kein mit digitalen Effekten vollgemüllter Hollywood-Film ist, und das ist gut.
Man sollte allerdings nicht erwarten, ein für Erwachsene gleichermaßen herausforderndes oder gar verstörendes Werk zu sehen, wie es etwa Guillermo del Toro vormacht. Die allzu saubere Bildsprache, das behäbige Erzähltempo sowie der permanente Musikeinsatz erinnern bisweilen sogar an einen der ARD-Märchenfilme, die häufig an Feiertagen laufen. Er bleibt in dieser Hinsicht also durch und durch ein Familienfilm, auch wenn „Pinocchio“ dafür mit 124 Minuten recht lang geraten ist.
Das Ensemble ist ausnahmslos hervorragend, neben Benigni ziehen insbesondere Massimo Ceccherini und Rocco Papaleo als Fuchs und Kater alle Register. Was ist mit Pinocchio selbst? Sein Darsteller Federico Ielapi agiert keineswegs „hölzern“ (kleiner Scherz), sondern sprüht vor Energie. Was sein Character Design angeht, darf man schon eher zwiegespalten sein: Einerseits haben sich die laut Garrone vier Stunden in der Maske, die der kleine Federico täglich auf sich nehmen musste, gelohnt, denn die aufgeschminkte Maserung des Holzes gepaart mit der Geräuschuntermalung, die jede Bewegung des Buben mit Quietschen und Knarzen unterstützt, ist nah an der Illusion, eine lebendige Marionette zu sehen; andererseits kratzt die Figur dadurch auch bedenklich nah am „Uncanny Valley“, der einen eher befremdlichen Effekt hat. Sollte dies beabsichtigt gewesen sein, ist es geglückt.
Fazit: Garrones Version ist wirklich gut gemacht und deutlich werkgetreuer als etwa die Disney-Adaption, diese bleibt jedoch aufgrund ihrer meisterhaften Verdichtung des Stoffes und ihres ewig jungen Charmes ungeschlagen. Müssen Sie Ihr althergebrachtes Pinocchio-Bild schlagartig durch ein neues ersetzen? Sicher nicht – ich meinen liebgewonnenen japanischen Pinocchio sowieso nicht. Ein kleiner Triumph ist es dennoch, dass unsere europäischen Freunde es sich nicht haben entgehen lassen, noch vor den übermächtigen Amerikanern ein aufwändiges Live-Action-Remake fürs Kino, wie es ja gerade in Mode ist, realisiert zu haben.