70. Berlinale 2020
Mau, lau, grau, wau, dau und dann: Ein Hoch auf Franz Biberkopf |
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Der neue Franz in Burhan Qurbanis »Berlin Alexanderplatz« | ||
(Foto: Stefanie Kulbach/2019 Sommerhaus/eOne Germany) |
Von Axel Timo Purr
Die Kunst der Komödie wird oft unterschätzt und da man sich, wie das Sprichwort sagt, ja über Humor nicht streiten kann, warum dann noch Worte darüber verlieren? Warum also Worte über Benoît Delépines und Gustave Kerverns Effacer l’historique verlieren? Weil er für mich eine der ganz großen Enttäuschungen ist, denn drei Opfern des Web 2.0 dabei zuzusehen, wie sie sich nach ihren digitalen Niederlagen im Alltag verbünden, um gemeinsam aufzubegehren und sich gegen die großen Internet-Konzerne zu verschwören, schmeckt nach treffendem Zeitgeist, nach einer Revolte, die es viel zu selten gibt, ist eine tolle Idee, um unser digitales Dogma gnadenlos zu hinterfragen. Doch was in diesem Fall dabei entsteht, ist so dämlich und inspirationslos, so abgehangen, wie alter Schinken. Denn Delépine und Kervern zeigen tatsächlich nur Abgehängte und Frührentner und pseudo-aktuell auch ein paar Ex-Gelbwestler, die so naiv und plakativ dargestellt werden, dass die eigentliche Kritik an unserer digitalen Gegenwart an der grenzenlosen, mauen Oberflächlichkeit, die hier inszeniert wird, verpufft wie Wasser auf dem heißen Stein.
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Auch bei Stéphanie Chuats und Véronique Reymonds Schwesterlein schmeckt alles es ein wenig nach altem Schinken, wenn auch der Gourmet-Variante. Zwar wird hier das Krebstod-Genre zumindest schauspielerisch in Höchstform präsentiert, laufen Nina Hoss und Lars Eidinger zu expressiv leidender Höchstform auf, gibt die Schweizer Schauspielerin Marthe Keller eine wundervoll egomanische Mutter, werden Referenzen zur Romantik und altem Liedgut, zum modernen Theater, zu Hamlet und den inzestuösen Verhältnissen an der Berliner Schaubühne gesetzt, aber die im Kern inszenierte Geschichte um ein im besten Sinne bildungsbürgerliches Zwillingspaar, das nie gelernt hat, sich voneinander zu emanzipieren und in ihrer symbiotischen Selbstbezüglichkeit wie an einer neuen Form von Beziehungskrebs leidet, ist dann doch alles andere als überraschend. Alles schon mal gesehen, alles schon mal gehabt, vor allem weniger lau und hölzern.
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Wie unbefangen und alles andere als hölzern man das Leiden in unserem bildungsbürgerlichen, grauen Alltag auch inszenieren kann, zeigt der herrlich überkurze, fast schon wie ein Aquarell-Gemälde inszenierte neue Film vom koreanischen Altmeister Hong Sang-soo. Frauen reden hier viel, Männer, wenn sie denn überhaupt zu Wort kommen, leiden an ihrer Bedeutungslosigkeit. Eine Frau besucht Freundinnen und redet mit ihnen über ihre Probleme, ihr Leben, den unmerklichen Verlust von Sinnhaftigkeit. Das mag ein wenig beiläufig klingen, doch bei Sang-soos The Woman Who Ran sitzt jeder Pinselstrich, ist jede Leerstelle Grundierung für ein weiteres Gemälde, ist es dann fast so wie in Elliot Perlmans Seven Types of Ambiguity, erfahren wir mit jedem Besuch, den Gamhee unternimmt nicht nur vom Leben ihrer Freundinnen, sondern wird Gamhees eigene Geschichte aus immer neuen Perspektiven beleuchtet und weitererzählt. Das ist subtil und feinsinnig und dabei fast schon grandios alltäglich.
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Auch Kelly Reichardt hat mit ihrem Frauen-Western Meek’s Cutoff schon gezeigt, wie alltäglich der Wilde Western sein konnte, und dass es mit einer neuen Perspektive, einer Geschichte nur um Frauen, sogar zu einer brennglasartigen Perspektivierung auf unsere Gegenwart kommen kann. In ihrem neuen Film First Cow ist es wieder ein Western, und fast noch eindeutiger zieht Reichardt auch dieses Mal den Bogen in unsere Gegenwart. Doch dieses Mal ist es eine Welt von Männern, eine von Trappern und Siedlern, ein paar Indianern und Chinesen, in denen Frauen so sehr am Rande vorkommen wie die Männer in Meek’s Cutoff. Reichardt erzählt über den Fortschritt und von Freundschaft und beweist auch in ihrem zweiten »Western«, dass dieses Genre noch lange nicht auserzählt ist, dass auch dieser Alltag um einen Bäcker, einen chinesischen Geschäftsmann und ein Fort im Nirgendwo es allemal wert ist erzählt zu werden, neu und überraschend, subtil humorvoll und filigran tragisch.
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Wegen der russischen Stellungnahme, Ilja Chrschanowskis und Jekaterina Oertels Stalinzeit-»Reenactment« DAU. Natasha wegen pornografischer Szenen zu verbieten, weil außerdem bekannt geworden ist, dass Hannah Schygulla sich ihres Synchron-Job für diesen Film verweigerte, weil sie die Folterszenen nicht ertragen konnte, und weil dann auch noch einmal die taz mit dem anonymisierten Protokoll einer der beteiligten Schauspielerinnen nachlegte, in dem von Machtmissbrauch und übergriffigem Verhalten während der Dreharbeiten berichtet wird, ist „Dau. Natascha“ im Vorfeld und noch einmal mehr nach den ersten Screenings als Skandalfilm abgetan worden.
Völlig zu unrecht.
Die Sex-Szenen mögen expliziter sein als wir es in unseren restaurativen Zeiten inzwischen gewöhnt sind, und auch die Foltermethoden des stalinistischen Geheimdienstapparats sind in dieser dichten, immer wieder kammerspielartigen Inszenierung, die nicht nur in ihrer unterkühlten, graugrünlicher Bildästhetik an Tarkowkis Stalker erinnern, zwar grausam, erinnern dafür aber nur umso notwendiger daran, was war, sondern auch, was in vielen Ländern nie verschwunden ist, und was nicht nur in Russland gerade wieder neu zum Leben erwacht.
Doch darüber hinaus erzählt DAU. Natascha eben und ganz explizit nicht nur von Sex und Folter, sondern in viel größeren Teilen auch von einem völlig sinnentleerten Leben eines sowjetischen Mikrokosmos, von zwei Kellnerinnen in einer russischen Kantine eines geheimen Forschungsinstituts und ihren Gästen.
Das wirklich Unheimliche an diesem Film ist aber nicht nur das düster-gespenstische Auferstehen des stalinistischen Apparats und seiner Gesellschaft dahinter, sondern die völlig unausgesprochenen, aber offensichtlichen Bezüge zu unserer Gegenwart. Wie die Leute hier miteinander reden und in Bezug zueinander stehen, das ist nicht anders als in unseren sozialen Medien: Inseln und Blasen der Selbstbezüglichkeit, der unterdrückten Trauer, fehlender Anerkennung und einer nagenden Sehnsucht nach Liebe, in die plötzlich die immer schon anwesende Überwachung einschlägt wie ein Schlag mit dem Filzhammer.
Es gebe noch so viel mehr über dieses Projekt zu schreiben, über diese erste Spielfilm-Auskopplung aus 700 Stunden Rohmaterial, von dem ein Teil schon als Kunstinstallation und Serie verwertet worden ist und auf den noch drei weitere Teile folgen sollen und der auch schauspielerisch – trotz oder vielleicht wegen der Laiendarsteller – unter die Haut geht. Die Hauptdarstellerin der Natascha, Natalja Bereschnaja, hätte allemal einen Bären verdient.
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Die schauspielerische Dichte und Brillanz findet sich auch in Sally Potters The Roads Not Taken, ein melancholisches Demenz-Drama, in dem aber nicht nur Javier Bardem, Elle Fanning, Salma Hayek und Laura Linney groß aufspielen, sondern in dem neben dem verzweifelten Umgang mit Demenz ein wichtiger erzählerischer Überbau eingezogen wird – die Suche nach den Stellen im Leben, die die eigene Zukunft nachhaltig anders gestaltet hätten und in der auch der Tod eines Kindes eine wichtige Rolle spielt. Immer wieder findet Potter dafür eindrückliche Bilder und Passagen, die gnadenlos gegen eine Gegenwart geschnitten sind, die unerträglicher nicht sein könnte. Potters Film ist zwar kein Manchester by the Sea und reicht auch nicht an Sarah Polleys dichtes Demenz-Drama An ihrer Seite heran, geht aber dennoch über ein simples „Demenzdrama“ weit hinaus.
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Und dann, ganz am Ende, kommt die böse Königin, kommt Burhan Qurbani mit seinem Franz Biberkopf, ein Film, der einen eigenen Text verdient hätte, den er auch noch bekommen wird. Denn Qurbani, der ja schon mit Wir sind jung. Wir sind stark. gezeigt hat, welche bitterböse Wucht in ihm steckt, hat sich tatsächlich eines der größten Romane der Moderne und Deutschlands sowieso, Alfred Döblins »Berlin Alexanderplatz« angenommen und ihn – jawohl: großartig »missbraucht«, d.h. in unsere Moderne transponiert. Hat ihm einen Franz Biberkopf spendiert, der nicht mehr aus Berlin kommt, sondern aus Guinea-Bissau, hat sich also Weket Bungue zu seinem Hauptdarsteller erkoren und ihn zu Frances gemacht, einen Migranten, der es nach Europa geschafft hat und der im Laufe des Films dann neu getauft wird, aus dem Sklavennamen Frances wird Franz und aus Franz der bessere Deutsche.
Allein schon die Idee, Döblins Biberkopf am Anfang nicht aus dem Gefängnis kommen zu lassen, sondern aus dem Mittelmeer entsteigen zu lassen, ist eine fantastische, großartige Idee, ist großes Kino. Denn genau das sind ja heutzutage die viel größeren Gefängnisse, aus denen alle, die nichts mehr verlieren zu haben, zu entkommen versuchen, ihrer eigene »Heimat«. Und das erklärt dann auch, dass Qurbani aus Döblins großem Stadtroman die Stadt fast völlig entfernt hat. Was für Döblin noch Ausdruck der Moderne war, die moderne Stadt, das moderne Berlin, das Döblin dann ja auch so kongenial zu Sprache verhäckselt hat, das ist bei Burahani nicht mehr die Stadt, sondern ist die Welt, die Welt der Migranten, die Welt, die keine Städte mehr kennt, die alle völlig austauschbar sind.
Das und die fragilen Gleichgewichte interkultureller Freundschaften hat im letzten Jahr auch schon Sebastian Schipper auf ganz andere Weise in seinem viel zu wenig beachteten Roads gezeigt. Doch Qurbani hat nicht einen originären Stoff im Rücken, sondern er hat die Macht von Döblin im Rücken, einen Döblin, den Jella Haase immer wieder einspricht, der den Film und seine Bilder und seine Schauspieler in Flammen setzt. Aber er hat auch Gegenwind, er hat den von Heinrich George verkörperten Ur-Biberkopf vor sich (1931), und er hat die 930 Minuten von Rainer Werner Fassbinders Fernsehserie (1979/80) gegen sich. Besteht Qurbani diesem wüsten Sturm? Ich würde sagen, ja, er besteht, auch wenn er dann und wann auch einmal scheitern mag, so wie das für jedes Gesamtkunstwerk gilt. Denn man kann natürlich fragen, ob eine Serie nicht doch besser gewesen wäre, um diesem Romababel ganz gerecht zu werden und man könnte fragen, ob nicht doch die ganz großen Gefühle fehlen (die erst in den letzten zwanzig Minuten eingelöst werden), weil wie in Döblins Roman natürlich auch hier zu viel Überbau ist, steht Franz B. ja auch hier bei Qurbani nicht nur für sich, sondern für einen Teil der Gesellschaft. Und man könnte fragen, ob die klassischen Gangsterszenen wirklich so sein müssen, wie sie sind, so wie bei Döblin?
Aber das sind im Grunde nur vielleichtige »Vielleichts«, denn vielleicht sind ja gerade wegen dieser rasant inszenierten kleinen Suspense-Zugeständnisse an eine andere Ära des Films und unserer eigenen Geschichte die drei Stunden nie zu lang, ist dann sogar Jella Haase, mit der ich bislang nur wenig anfangen konnte, eine »Mieze«, die in ihrer Rolle so zerbricht, wie sie Döblin angelegt hat, ist das ein Film der großen Bilder, ein Film mit großem, epischem Impetus, einer ewigen Geschichte, wie wir an dieser Adaption besonders gut sehen können.
Denn Döblins Charaktere sind ewige Charaktere, Scheiternde, die immer wieder scheitern werden, und sie sind alle ein Wucht, waren es immer. Bei Piel Jutzi 1931 waren sie das und bei Fassbinder ebenso und nun auch bei Burhan Qurbani und Weket Bungue als Franz B. Weshalb ich genau mit ihm, mit Franz, der müssen muss, immer wieder müssen muss, enden will. In einer Romanverfilmung, die den Nerv der Zeit bloßlegt, die den Bogen aus den kritischen 1920er Jahren in die ebenso kritischen 2020er spannt, und die deshalb zurecht sich selbst zitieren soll: »Ein Hoch auf den neuen Franz.«