70. Berlinale 2020
Mangelnde Resonanz |
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Der Cast müht sich ab, doch als Ensemble fügt es sich nicht zusammen | ||
(Foto: Berlinale | Frédéric Batier/2019 Sommerhaus/eOne GermanyBerlinale Presseservice) |
Von Sedat Aslan
»Ich bin Deutschland!«, spricht Flüchtling Francis, der »neue« Franz Biberkopf, in einer Schlüsselszene des Films – man denkt unweigerlich an Stanley Kubricks Spartacus (1960) mit dem kürzlich verstorbenen Kirk Douglas, in dem sich die Sklaven gegenüber ihren Herren erheben. Es ist der Moment, in dem es kurz so scheint, als könnte das mit dem Titel gegebene große Versprechen endlich eingelöst werden. Indem kurz etwas anklingt, das Resonanz erzeugen könnte.
Burhan Qurbani ist spätestens mit seinem zweiten Spielfilm Wir sind jung. Wir sind stark. in die erste Riege der ernstzunehmenden deutschen Regisseure vorgestoßen. Mit „Berlin Alexanderplatz“ liefert er seine mit Spannung erwartete Neuinterpretation des bereits bei seinem Erscheinen im Jahre 1929 als modernen Klassiker gefeierten Romans von Alfred Döblin ab, und setzt sich dabei Vergleichen mit Piel Jutzis Filmversion von 1931 und vor allem mit Rainer Werner Fassbinders monumentalem Fernsehmehrteiler von 1980 aus.
Qurbani versetzt den Stoff in die heutige Zeit; sein zentraler Kniff hierbei ist, den bei Döblin aus mehrjähriger Haft entlassenen Arbeiter Franz Biberkopf zu Francis aus Bissau (erstmals im deutschen Kino zu sehen: Welket Bungué) umzudeuten, der nach einer Flucht übers Meer in Berlin landet und mangels Papieren zunächst als Schwarzarbeiter Fuß fasst, um später ins Drogendealer-Milieu abzudriften. Aus seiner Perspektive verläuft die frei nach dem Roman bearbeitete Handlung. Die neun Bücher bei Döblin verdichtet Qurbani zu drei Stunden, die in fünf Teile plus Epilog gegliedert sind. Die Off-Stimme Miezes (Jella Haase) flankiert diese, was eine Art Bänkelsang oder Chor darstellt.
Man sieht und spürt, dass keine/r der Beteiligten sich geschont hat. Gerade technisch ist der Film hervorragend. Allem voran Szenenbild und Kostüm liefern großartige Arbeit ab. Auch die Kameraarbeit von Yoshi Heimroth und die Darsteller sind hervorzuheben. Hier fangen aber schon die Probleme an. Die Entscheidung, in Cinemascope zu drehen, erscheint aufgrund der in jederlei Hinsicht beabsichtigten epischen Breite naheliegend. Viele Einstellungen springen einen förmlich an mit ihrer grellen Farbigkeit, wahlweise auch mit gedämpften Tönen. Der Wille, Bilder mulitisemantisch aufzuladen, etwa mittels Neonfarben als Wiederkehr einer auf offener See aufflammenden Leuchtrakete, ist unübersehbar. Oft wirken die Bilder aber seltsam geleckt, oft auch leer, als sei der Bildinhalt zu klein für das Format, die Breite oder Tiefe des Bildes wird kaum entscheidend genutzt, um etwas zu vermitteln, das nicht an der Oberfläche ersichtlich ist, dafür kippt die Kamera manchmal effekthascherisch ab, man fragt sich, was das genaue Konzept hinter all dem ist, und ob die Wahl des breitestmöglichen Bildformats nicht der klaustrophobischen Situation der Hauptfigur entgegenwirkt.
Der Cast müht sich ab, jede/r für sich genommen macht auch einen bemerkenswerten Job, doch als Ensemble fügt es sich nicht zusammen. Welket Bungué, Jella Haase und Albrecht Schuch (als Reinhold) als zentrale Darsteller scheinen in drei unterschiedlichen Filmen zu spielen. Besonders Schuch, der in Systemsprenger noch großartig zurückhaltend war, spielt hier launig auf und kostet seine exaltiert angelegte Rolle (neudeutsch: »sexy«) mit allzu großem Genuss aus, was aber keine Resonanz auf das durchweg stoische, physisch geprägte Spiel von Bungué erzeugt, während Jella Haase noch am ehesten das zeigt, was man vom deutschen Normalnull-Kino erwartet. Mangelnde Resonanz ist nicht nur auf dieser Ebene der entscheidende Begriff: Zwischen den Darstellern kommt es nie zu echten Schwingungen oder Vibrationen, es erklingt nichts auf einem humanen oder sinnlichen Level, was auf die Zuschauer überspringen könnte und nachwirkt. Die stellenweise lachhafte Dualität Frances-Reinhold gibt einem durch ihre Unglaubwürdigkeit Rätsel auf. Dies alles, weil die Figuren Konstrukte sind und sich darüber nicht erheben können, sondern tun, was sie tun sollen.
Das lässt sich auch auf die Handlungsebene übertragen. Francis geht im Verlauf des Films durch die Hölle, doch es lässt einen erstaunlich kalt. Man weiß natürlich, was passieren wird, und könnte das „episch“ nennen. Dennoch ist der Ansatz dramatisch, hier ist kein Brechtianer am Werk. Der Film will trotz aller Schauhaftigkeit seine Künstlichkeit, anders als Döblin, gerade nicht ausstellen, was man an realistischen Elementen wie dem angesprochenen Szenenbild oder etwa der Bilingualität sehen kann. Es ist zu bedauern, dass sich die Modernität des Romans auf keiner Ebene wiederfindet. Das deutsche Kino war bereits mit Lola rennt viel avantgardistischer. Hier wurde die große Chance vertan, auf dem Rücken einer bekannten und sich dazu anbietenden Vorlage konzeptuell endlich wieder einmal Experimentierfreude zu zelebrieren.
Über das gezeichnete Berlin-Bild muss auch gesprochen werden. Ein Vorbild für die überbordende Visualität und neuartige Montagetechnik des Romans ist Walther Ruttmanns Dokumentation Berlin – Die Sinfonie einer Großstadt. Wo Döblin, analog zu Ruttmanns Stummfilm-Klassiker, ein facettenreiches und bis heute nachwirkendes Zeitporträt einer Metropole in ihrer Glanzzeit einfängt, zeigt Qurbani bis auf die gesichts- und namenlosen Dealer der Hasenheide rein gar nichts von dem, was das heutige Berlin adäquat beschreibt. Es ist eine Anhäufung von Klischees, die Partys sind eine artifizielle Melange aus 20er- und 80er-Jahre-Kitsch, dunkelhäutige sowie transsexuelle Menschen stehen stellvertretend für ein diffuses Konzept von Diversität. Gerade der Drogensubplot lässt an »4 Blocks« denken und entlarvt, wie wenig man im Vergleich dazu über Berlin erfährt, und wie sehr der eigentliche Fokus in diesem Film doch wieder weißen Menschen gehört.
Wer seinen Film »Berlin Alexanderplatz« nennt, muss sich nun einmal dem Anspruch stellen, auch ein Film über die namensgebende Stadt zu sein, doch im Kontrast zu den vorherigen Versionen wirkt der Film sonderbar klein, es laufen trotz der behaupteten Breite immer dieselben Figuren durchs Bild, so dass sich die Frage stellt, ob die strenge Struktur dieses Films und seine Miniatur-Epik ihn nicht für eine Miniserie bzw. einen Sechsteiler prädestiniert hätten.
Es stellt sich zudem die Frage, ob sich das singuläre Trauma einer Fluchterfahrung, was der Film als Motiv für Francis‘ unerschütterlichen Antrieb deutet, sich in die Gesellschaft zu integrieren, so gut als Substitut für eine mehrjährige Prägung durch einen menschenverachtenden Gefängnisaufenthalt wie bei Döblin eignet. Qurbanis eigener Antrieb wird durch ein unlängst erschienenes Interview mit der Süddeutschen Zeitung deutlich. Er wolle das Klischee »Schwarzer Mann = Dealer«, das Menschen in den Sinn komme, wenn sie über die Hasenheide spazieren gingen, aufbrechen. Aus der Annahme, dass ein solcher Film aber nicht wahrgenommen werden würde, kam ihm der Gedanke, dies mit »Berlin Alexanderplatz« in Beziehung zu setzen. Deswegen nennt die Süddeutsche den Film auch treffend ein »Trojanisches Pferd« (ein Kollege nannte ihn gar eine »Mogelpackung«). Ich denke, dass der oben wiedergegebene grundlegende Gedanke schon einmal nicht stimmt: Das rassistische Klischee vom schwarzen Dealer wird von den meisten Menschen nicht unreflektiert übernommen. Dies anzunehmen, halte ich für problematisch. Zweitens könnte man behaupten, dass sich auch der Film diverser Klischees bedient, um seine Geschichte zu erzählen, denn die Drogenbande wird geführt von weißen Herren, die beides missglückte Karikaturen sind (Joachim Król gibt eine Art Joe Pesci für Arme), und die meisten Schwarzen bleiben namen- und charakterlos wie ihre realen Pendants – bis auf Ottu, der auch noch ein klassischer „Onkel Tom“ ist. Drittens hätte Qurbani natürlich auch direkt etwas über sein Sujet machen können, ohne über diese gewaltige Bande zu spielen. Eine Reportage des SZ-Magazin von Patrick Bauer aus dem Jahre 2017 über die komplexe Lage im Görlitzer Park ist mir präsent geblieben. Sie schafft das, was der Film nicht schafft – sie zeigt das wahre Dilemma von Menschen aus Fleisch und Blut, sie gibt vorverurteilten Menschen eine Stimme, sie eröffnet neue Perspektiven – und sie klingt nach.
Natürlich ist trotz aller Kritik anzuerkennen, dass dies ein unbestritten persönlicher Film ist – die Auseinandersetzung mit den großen Themen Migration und Ausgrenzung sowie der Wille, Barrieren niederzureißen, sind in Qurbanis Werk omnipräsent.
So sehr mir dieses hehre Anliegen und die eingangs erwähnte Proklamation eines »neuen« Deutschland aus politischen Gründen sympathisch sind, um so mehr verstört mich der gewählte künstlerische Ansatz. Dies ist nicht ein Film der Bilder oder Töne. Dies ist nicht ein Film der Schauspieler. Dies ist noch nicht einmal ein Film, in dem eine persönliche und/oder politische Haltung im Zentrum steht. Vielmehr ist dies ein Film der Ambition. Der Hang zu großen Statements, zum großen
Gestus, zum breiten Pinselstrich steht einer sinnlichen, subtilen, empathischen Wahrhaftigkeit im Wege, der Film will Herz und Eier haben, kann sich aber nie davon lösen, eine Kopfgeburt zu sein, der Regisseur ist wagemutig, aber ihm fehlt doch das Vertrauen, auch mal loszulassen. Hier will jemand nichts weniger als sein Meisterwerk schaffen, und gerade deswegen kann es niemals eins werden.
Qurbani würde eine unforcierte Selbstverständlichkeit gut zu Gesicht stehen, denn
wir haben mit ihm jemanden, der sonst alles mitbringt, um das deutsche Kino auch international wieder stärker zu repräsentieren – und dessen mangelnde Resonanz im Ausland zu überwinden. Bis es aber dazu kommt, wird Fassbinders Epos die definitive Döblin-Verfilmung bleiben und diesen neuerlichen Versuch, die Prognose kann man getrost wagen, lange überdauern.