28.02.2020
70. Berlinale 2020

Mangelnde Resonanz

Berlin Alexanderplatz
Der Cast müht sich ab, doch als Ensemble fügt es sich nicht zusammen
(Foto: Berlinale | Frédéric Batier/2019 Sommerhaus/eOne GermanyBerlinale Presseservice)

Nach Burhan Qurbanis »Berlin Alexanderplatz«-Interpretation wird deutlich, dass Fassbinders Serien-Epos weiterhin die definitive Döblin-Verfilmung bleiben wird

Von Sedat Aslan

»Ich bin Deutsch­land!«, spricht Flücht­ling Francis, der »neue« Franz Biberkopf, in einer Schlüs­sel­szene des Films – man denkt unwei­ger­lich an Stanley Kubricks Spartacus (1960) mit dem kürzlich verstor­benen Kirk Douglas, in dem sich die Sklaven gegenüber ihren Herren erheben. Es ist der Moment, in dem es kurz so scheint, als könnte das mit dem Titel gegebene große Verspre­chen endlich eingelöst werden. Indem kurz etwas anklingt, das Resonanz erzeugen könnte.

Burhan Qurbani ist spätes­tens mit seinem zweiten Spielfilm Wir sind jung. Wir sind stark. in die erste Riege der ernst­zu­neh­menden deutschen Regis­seure vorge­stoßen. Mit „Berlin Alex­an­der­platz“ liefert er seine mit Spannung erwartete Neuin­ter­pre­ta­tion des bereits bei seinem Erscheinen im Jahre 1929 als modernen Klassiker gefei­erten Romans von Alfred Döblin ab, und setzt sich dabei Verglei­chen mit Piel Jutzis Film­ver­sion von 1931 und vor allem mit Rainer Werner Fass­bin­ders monu­men­talem Fern­seh­mehr­teiler von 1980 aus.

Qurbani versetzt den Stoff in die heutige Zeit; sein zentraler Kniff hierbei ist, den bei Döblin aus mehr­jäh­riger Haft entlas­senen Arbeiter Franz Biberkopf zu Francis aus Bissau (erstmals im deutschen Kino zu sehen: Welket Bungué) umzu­deuten, der nach einer Flucht übers Meer in Berlin landet und mangels Papieren zunächst als Schwarz­ar­beiter Fuß fasst, um später ins Drogen­dealer-Milieu abzu­driften. Aus seiner Perspek­tive verläuft die frei nach dem Roman bear­bei­tete Handlung. Die neun Bücher bei Döblin verdichtet Qurbani zu drei Stunden, die in fünf Teile plus Epilog geglie­dert sind. Die Off-Stimme Miezes (Jella Haase) flankiert diese, was eine Art Bänkel­sang oder Chor darstellt.

Man sieht und spürt, dass keine/r der Betei­ligten sich geschont hat. Gerade technisch ist der Film hervor­ra­gend. Allem voran Szenen­bild und Kostüm liefern groß­ar­tige Arbeit ab. Auch die Kame­ra­ar­beit von Yoshi Heimroth und die Darsteller sind hervor­zu­heben. Hier fangen aber schon die Probleme an. Die Entschei­dung, in Cine­ma­scope zu drehen, erscheint aufgrund der in jederlei Hinsicht beab­sich­tigten epischen Breite nahe­lie­gend. Viele Einstel­lungen springen einen förmlich an mit ihrer grellen Farbig­keit, wahlweise auch mit gedämpften Tönen. Der Wille, Bilder muli­ti­se­man­tisch aufzu­laden, etwa mittels Neon­farben als Wieder­kehr einer auf offener See aufflam­menden Leucht­ra­kete, ist unüber­sehbar. Oft wirken die Bilder aber seltsam geleckt, oft auch leer, als sei der Bild­in­halt zu klein für das Format, die Breite oder Tiefe des Bildes wird kaum entschei­dend genutzt, um etwas zu vermit­teln, das nicht an der Ober­fläche ersicht­lich ist, dafür kippt die Kamera manchmal effekt­ha­sche­risch ab, man fragt sich, was das genaue Konzept hinter all dem ist, und ob die Wahl des brei­test­mög­li­chen Bild­for­mats nicht der klaus­tro­pho­bi­schen Situation der Haupt­figur entge­gen­wirkt.

Der Cast müht sich ab, jede/r für sich genommen macht auch einen bemer­kens­werten Job, doch als Ensemble fügt es sich nicht zusammen. Welket Bungué, Jella Haase und Albrecht Schuch (als Reinhold) als zentrale Darsteller scheinen in drei unter­schied­li­chen Filmen zu spielen. Besonders Schuch, der in System­sprenger noch großartig zurück­hal­tend war, spielt hier launig auf und kostet seine exaltiert angelegte Rolle (neudeutsch: »sexy«) mit allzu großem Genuss aus, was aber keine Resonanz auf das durchweg stoische, physisch geprägte Spiel von Bungué erzeugt, während Jella Haase noch am ehesten das zeigt, was man vom deutschen Normal­null-Kino erwartet. Mangelnde Resonanz ist nicht nur auf dieser Ebene der entschei­dende Begriff: Zwischen den Darstel­lern kommt es nie zu echten Schwin­gungen oder Vibra­tionen, es erklingt nichts auf einem humanen oder sinn­li­chen Level, was auf die Zuschauer über­springen könnte und nachwirkt. Die stel­len­weise lachhafte Dualität Frances-Reinhold gibt einem durch ihre Unglaub­wür­dig­keit Rätsel auf. Dies alles, weil die Figuren Konstrukte sind und sich darüber nicht erheben können, sondern tun, was sie tun sollen.

Das lässt sich auch auf die Hand­lungs­ebene über­tragen. Francis geht im Verlauf des Films durch die Hölle, doch es lässt einen erstaun­lich kalt. Man weiß natürlich, was passieren wird, und könnte das „episch“ nennen. Dennoch ist der Ansatz drama­tisch, hier ist kein Brech­tianer am Werk. Der Film will trotz aller Schau­haf­tig­keit seine Künst­lich­keit, anders als Döblin, gerade nicht ausstellen, was man an realis­ti­schen Elementen wie dem ange­spro­chenen Szenen­bild oder etwa der Bilin­gua­lität sehen kann. Es ist zu bedauern, dass sich die Moder­nität des Romans auf keiner Ebene wieder­findet. Das deutsche Kino war bereits mit Lola rennt viel avant­gar­dis­ti­scher. Hier wurde die große Chance vertan, auf dem Rücken einer bekannten und sich dazu anbie­tenden Vorlage konzep­tuell endlich wieder einmal Expe­ri­men­tier­freude zu zele­brieren.

Über das gezeich­nete Berlin-Bild muss auch gespro­chen werden. Ein Vorbild für die über­bor­dende Visua­lität und neuartige Monta­ge­technik des Romans ist Walther Ruttmanns Doku­men­ta­tion Berlin – Die Sinfonie einer Großstadt. Wo Döblin, analog zu Ruttmanns Stummfilm-Klassiker, ein facet­ten­rei­ches und bis heute nach­wir­kendes Zeit­por­trät einer Metropole in ihrer Glanzzeit einfängt, zeigt Qurbani bis auf die gesichts- und namen­losen Dealer der Hasen­heide rein gar nichts von dem, was das heutige Berlin adäquat beschreibt. Es ist eine Anhäufung von Klischees, die Partys sind eine arti­fi­zi­elle Melange aus 20er- und 80er-Jahre-Kitsch, dunkel­häu­tige sowie trans­se­xu­elle Menschen stehen stell­ver­tre­tend für ein diffuses Konzept von Diver­sität. Gerade der Drogen­sub­plot lässt an »4 Blocks« denken und entlarvt, wie wenig man im Vergleich dazu über Berlin erfährt, und wie sehr der eigent­liche Fokus in diesem Film doch wieder weißen Menschen gehört.

Wer seinen Film »Berlin Alex­an­der­platz« nennt, muss sich nun einmal dem Anspruch stellen, auch ein Film über die namens­ge­bende Stadt zu sein, doch im Kontrast zu den vorhe­rigen Versionen wirkt der Film sonderbar klein, es laufen trotz der behaup­teten Breite immer dieselben Figuren durchs Bild, so dass sich die Frage stellt, ob die strenge Struktur dieses Films und seine Miniatur-Epik ihn nicht für eine Miniserie bzw. einen Sechs­teiler prädes­ti­niert hätten.

Es stellt sich zudem die Frage, ob sich das singuläre Trauma einer Flucht­er­fah­rung, was der Film als Motiv für Francis‘ uner­schüt­ter­li­chen Antrieb deutet, sich in die Gesell­schaft zu inte­grieren, so gut als Substitut für eine mehr­jäh­rige Prägung durch einen menschen­ver­ach­tenden Gefäng­nis­auf­ent­halt wie bei Döblin eignet. Qurbanis eigener Antrieb wird durch ein unlängst erschie­nenes Interview mit der Süddeut­schen Zeitung deutlich. Er wolle das Klischee »Schwarzer Mann = Dealer«, das Menschen in den Sinn komme, wenn sie über die Hasen­heide spazieren gingen, aufbre­chen. Aus der Annahme, dass ein solcher Film aber nicht wahr­ge­nommen werden würde, kam ihm der Gedanke, dies mit »Berlin Alex­an­der­platz« in Beziehung zu setzen. Deswegen nennt die Süddeut­sche den Film auch treffend ein »Troja­ni­sches Pferd« (ein Kollege nannte ihn gar eine »Mogel­pa­ckung«). Ich denke, dass der oben wieder­ge­ge­bene grund­le­gende Gedanke schon einmal nicht stimmt: Das rassis­ti­sche Klischee vom schwarzen Dealer wird von den meisten Menschen nicht unre­flek­tiert über­nommen. Dies anzu­nehmen, halte ich für proble­ma­tisch. Zweitens könnte man behaupten, dass sich auch der Film diverser Klischees bedient, um seine Geschichte zu erzählen, denn die Drogen­bande wird geführt von weißen Herren, die beides miss­glückte Kari­ka­turen sind (Joachim Król gibt eine Art Joe Pesci für Arme), und die meisten Schwarzen bleiben namen- und charak­terlos wie ihre realen Pendants – bis auf Ottu, der auch noch ein klas­si­scher „Onkel Tom“ ist. Drittens hätte Qurbani natürlich auch direkt etwas über sein Sujet machen können, ohne über diese gewaltige Bande zu spielen. Eine Reportage des SZ-Magazin von Patrick Bauer aus dem Jahre 2017 über die komplexe Lage im Görlitzer Park ist mir präsent geblieben. Sie schafft das, was der Film nicht schafft – sie zeigt das wahre Dilemma von Menschen aus Fleisch und Blut, sie gibt vorver­ur­teilten Menschen eine Stimme, sie eröffnet neue Perspek­tiven – und sie klingt nach.

Natürlich ist trotz aller Kritik anzu­er­kennen, dass dies ein unbe­stritten persön­li­cher Film ist – die Ausein­an­der­set­zung mit den großen Themen Migration und Ausgren­zung sowie der Wille, Barrieren nieder­zu­reißen, sind in Qurbanis Werk omni­prä­sent.

So sehr mir dieses hehre Anliegen und die eingangs erwähnte Prokla­ma­tion eines »neuen« Deutsch­land aus poli­ti­schen Gründen sympa­thisch sind, um so mehr verstört mich der gewählte künst­le­ri­sche Ansatz. Dies ist nicht ein Film der Bilder oder Töne. Dies ist nicht ein Film der Schau­spieler. Dies ist noch nicht einmal ein Film, in dem eine persön­liche und/oder poli­ti­sche Haltung im Zentrum steht. Vielmehr ist dies ein Film der Ambition. Der Hang zu großen State­ments, zum großen Gestus, zum breiten Pinsel­strich steht einer sinn­li­chen, subtilen, empa­thi­schen Wahr­haf­tig­keit im Wege, der Film will Herz und Eier haben, kann sich aber nie davon lösen, eine Kopf­ge­burt zu sein, der Regisseur ist wagemutig, aber ihm fehlt doch das Vertrauen, auch mal loszu­lassen. Hier will jemand nichts weniger als sein Meis­ter­werk schaffen, und gerade deswegen kann es niemals eins werden.
Qurbani würde eine unfor­cierte Selbst­ver­s­tänd­lich­keit gut zu Gesicht stehen, denn wir haben mit ihm jemanden, der sonst alles mitbringt, um das deutsche Kino auch inter­na­tional wieder stärker zu reprä­sen­tieren – und dessen mangelnde Resonanz im Ausland zu über­winden. Bis es aber dazu kommt, wird Fass­bin­ders Epos die defi­ni­tive Döblin-Verfil­mung bleiben und diesen neuer­li­chen Versuch, die Prognose kann man getrost wagen, lange über­dauern.