29.02.2020
70. Berlinale 2020

Mensch­lich und univer­sell

NEVER RARELY SOMETIMES ALWAYS
Unprätentiös, gleichwohl poetisch
(Foto: © 2019 Courtesy of Focus Features, Berlinale Presseservice)

Eliza Hittmans NEVER RARELY SOMETIMES ALWAYS im Wettbewerb sollte auf der Liste jedes Filmliebhabers stehen und ist der beste Film dieser Berlinale und eine Erfahrung, auf die sich man sich unbedingt einlassen sollte

Von Sedat Aslan

Wieder einmal schafft es das Kino, einem die Ahnung einer Erfahrung zu vermit­teln, die man selber nie machen wird: Eine 17-jährige Frau aus einem kleinen Ort in Penn­syl­vania wird ungewollt schwanger. Sie kann sich ihren Eltern nicht anver­trauen, und entschließt sich zur Abtrei­bung. Um den Fötus loszu­werden, boxt sie sich selbst in den Bauch. Ich spüre fast ihre Schläge. Als sie später mit geöff­neten Beinen im OP liegt, hält eine Vertrau­ens­person ihre Hand und man selbst den Atem an.

Kino ist natürlich nicht das einzige Medium, das immersiv erzählen kann, aber es ist viel­leicht das am besten dafür geeignete. Eliza Hittmans dritter Lang­spiel­film nutzt diese Macht des Mediums und erzählt eine mini­ma­lis­tisch anmutende und doch so große Geschichte mit einer zärt­li­chen Empathie. Autumn heißt die junge Frau (eine Entde­ckung: Newco­merin Sidney Flanigan), die sich entschließt, mit ihrer Kusine Skylar (Talia Ryder) über die Bundes­staa­ten­grenze nach New York City zu fahren, weil die Abtrei­bung dort legal wäre. Der geplante Tagestrip dehnt sich unver­hofft aus und wird Autumn an ihre Grenzen bringen.

Eliza Hittmans Wett­be­werbs­bei­trag »Never Rarely Sometimes Always« ist kein Thesen­film, auch wenn man das ange­sichts des Themas meinen könnte, aber einer, der ein sehr reales Problem sinnlich erfahrbar bloßlegt. Anders als Cristian Mungius Meis­ter­werk 4 Monate, 3 Wochen und 2 Tage, der das Thema Abtrei­bung in einen strengen Forma­lismus bettet, erlaubt Hittman viele kleine und flüchtige Elemente, die trotz des exis­ten­zi­ellen Kontextes die intensive Zeit dieses jugend­li­chen Alters lebendig werden lassen, wo es einer kleinen Kata­strophe gleichkam, wenn man den letzten Bus nach Hause nicht mehr bekommen hat, oder wenn das Taschen­geld aufge­braucht ist und man niemanden hat, zu dem man gehen kann. Ihre konge­niale Kame­ra­frau Hélène Louvart, die u. a. Alice Rohr­wa­chers Lazzaro felice foto­gra­fiert hat, fängt diese Momente unprä­ten­tiös, gleich­wohl poetisch ein.

Hittman kommt ihren Prot­ago­nis­tinnen nah, ohne sie auszu­stellen. In der inten­sivsten Szene des Films, von der sich sein Titel ableitet, entblät­tern sich über eine routi­ne­mäßige Befragung glei­cher­maßen Vorge­schichte und Haupt­figur, und das in meis­ter­hafter Manier. Auch das Berlinale-Programm­heft, das in früheren Zeiten mehr falsche Verspre­chungen machte als solche, die sich erfüllten, und in diesem Jahr einen uner­wartet positiven Eindruck hinter­lässt, hebt diese Schlüs­sel­szene hervor. Der Film, der trotz einer Sundance-Premiere Ende Januar in der Haupt­sek­tion laufen darf, ist im Programm sehr zutref­fend beschrieben, nur das Prädikat »femi­nis­tisch« ist irre­füh­rend. Dieser Film braucht keine ideo­lo­gi­schen Bezeich­nungen. Er ist mensch­lich und univer­sell, und sollte auf der Liste jedes Film­lieb­ha­bers stehen. Für mich ist es der beste Film dieser Berlinale und eine Erfahrung, auf die sich man sich unbedingt einlassen sollte.