70. Berlinale 2020
Menschlich und universell |
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Unprätentiös, gleichwohl poetisch | ||
(Foto: © 2019 Courtesy of Focus Features, Berlinale Presseservice) |
Von Sedat Aslan
Wieder einmal schafft es das Kino, einem die Ahnung einer Erfahrung zu vermitteln, die man selber nie machen wird: Eine 17-jährige Frau aus einem kleinen Ort in Pennsylvania wird ungewollt schwanger. Sie kann sich ihren Eltern nicht anvertrauen, und entschließt sich zur Abtreibung. Um den Fötus loszuwerden, boxt sie sich selbst in den Bauch. Ich spüre fast ihre Schläge. Als sie später mit geöffneten Beinen im OP liegt, hält eine Vertrauensperson ihre Hand und man selbst den Atem
an.
Kino ist natürlich nicht das einzige Medium, das immersiv erzählen kann, aber es ist vielleicht das am besten dafür geeignete. Eliza Hittmans dritter Langspielfilm nutzt diese Macht des Mediums und erzählt eine minimalistisch anmutende und doch so große Geschichte mit einer zärtlichen Empathie. Autumn heißt die junge Frau (eine Entdeckung: Newcomerin Sidney Flanigan), die sich entschließt, mit ihrer Kusine Skylar (Talia Ryder) über die Bundesstaatengrenze nach New York
City zu fahren, weil die Abtreibung dort legal wäre. Der geplante Tagestrip dehnt sich unverhofft aus und wird Autumn an ihre Grenzen bringen.
Eliza Hittmans Wettbewerbsbeitrag »Never Rarely Sometimes Always« ist kein Thesenfilm, auch wenn man das angesichts des Themas meinen könnte, aber einer, der ein sehr reales Problem sinnlich erfahrbar bloßlegt. Anders als Cristian Mungius Meisterwerk 4 Monate, 3 Wochen und 2 Tage, der das Thema Abtreibung in einen strengen Formalismus bettet, erlaubt Hittman viele kleine und flüchtige Elemente, die trotz des existenziellen Kontextes die intensive Zeit dieses jugendlichen Alters lebendig werden lassen, wo es einer kleinen Katastrophe gleichkam, wenn man den letzten Bus nach Hause nicht mehr bekommen hat, oder wenn das Taschengeld aufgebraucht ist und man niemanden hat, zu dem man gehen
kann. Ihre kongeniale Kamerafrau Hélène Louvart, die u. a. Alice Rohrwachers Lazzaro felice fotografiert hat, fängt diese Momente unprätentiös, gleichwohl poetisch ein.
Hittman kommt ihren Protagonistinnen nah, ohne sie auszustellen. In der intensivsten Szene des Films, von der sich sein Titel ableitet, entblättern sich über eine routinemäßige Befragung
gleichermaßen Vorgeschichte und Hauptfigur, und das in meisterhafter Manier. Auch das Berlinale-Programmheft, das in früheren Zeiten mehr falsche Versprechungen machte als solche, die sich erfüllten, und in diesem Jahr einen unerwartet positiven Eindruck hinterlässt, hebt diese Schlüsselszene hervor. Der Film, der trotz einer Sundance-Premiere Ende Januar in der Hauptsektion laufen darf, ist im Programm sehr zutreffend beschrieben, nur das Prädikat »feministisch« ist
irreführend. Dieser Film braucht keine ideologischen Bezeichnungen. Er ist menschlich und universell, und sollte auf der Liste jedes Filmliebhabers stehen. Für mich ist es der beste Film dieser Berlinale und eine Erfahrung, auf die sich man sich unbedingt einlassen sollte.