70. Berlinale 2020
Komplexes Kleinod |
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The Trouble with beeing born: Elaborierter, popcornbefreiter Futurismus | ||
(Foto: Berllinale | Sandra Wollner) |
Von Sedat Aslan
Sandra Wollner setzt an den Beginn ihres Filmes The Trouble with Being Born, der in der neuen Sektion »Encounters« läuft, das Bild eines leblos im heimischen Swimmingpool treibenden zehnjährigen Mädchens. Der besorgte Vater fischt es aus dem Wasser. Elli, so heißt das Mädchen, wird mittels eines elektronischen Device wiederhergestellt – sie ist ein Androide. Modelliert nach der
echten Elli, die vor 10 Jahren verschollen ist, und programmiert mit Erinnerungen, die Assoziationen bei Ellis Vater auslösen. Die Mutter ist nicht mehr da, Elli und ihr »Vater«, Georg ist sein Name, sind allein. Sie gehen, nennen wir es mal so, unüblich leidenschaftlich miteinander um – es ist wie eine Lolita-Geschichte im digitalen Zeitalter. Elli wird später zu Emil werden, ein ewig junger Bub bei seiner ergrauten Schwester.
So etwas hat man selten im Kino gesehen. The Trouble with Being Born ist ein Film über Pädophilie, Inzest, vermisste und verunfallte Kinder, nie verwundenen Schmerz, die Schwierigkeit des Loslassens, die Flüchtigkeit und Austauschbarkeit von Erinnerungen und die menschliche Hybris – und doch über nichts von alledem. Sandra Wollner erhebt die Irritation zum Prinzip, tut dies aber auf eine verführerische Weise. Der
Film läutet an lauter kleinen Glöckchen im Oberstübchen, lädt zur Auseinandersetzung mit ihm ein, ohne einem eine einzig richtige Lesart vorzuschreiben. Die wunderbare Kamera von Timm Kröger tut ein übriges, Standort der Kamera und die Kompositionen zeigen, dass hier ein Könner am Werk ist, wie er das 4:3-Format einsetzt, erzeugt die Assoziation eines Fotoalbums, außer der Bildgeometrie sind es aber auch diese tief im Unterbewusstsein verankerten flüchtigen Momente, wie
der Gang durch den heimischen Garten oder der durchs Wasser verzerrte Blick auf den Boden des Pools.
Die Androiden in Wollners Film sind gespenstisch, dies wird erreicht durch Silikonmasken, die der Schauspielerin Lena Watson (ein Künstlername), ein unbehaglich-realistisches Äußeres verleihen. Es sind aber auch in anderem Sinne Gespenster. Sie sind Geister vergangener Existenzen und Erinnerungen. Hier wird ein elaborierter, popcornbefreiter Futurismus gepflegt, der
ganz auf uns selbst als Menschen der Jetztzeit verweist. Es finden sich Anklänge an entsprechende Vertreter des Science-Fiction-Kinos, etwa Blade Runner, A.I. und Ex
Machina. Analog zu Philip K. Dicks Roman »Do Androids Dream of Sheep?«, der die Vorlage zu Ridley Scotts Klassiker ist, könnte man fragen: Haben Roboter auch Menschenrechte? Elli/Emil wird als emotionales Gefäß und physisches Spielobjekt von Menschen missbraucht, deutet im Film aber an, so etwas wie eigenes Handeln und Denken zu besitzen. Am Ende wird aufgeworfen, inwiefern tief sitzende Erinnerungen determinierend für unser Leben sind, ein unausweichliches Narrativ
erzeugen können.
Dies sind nur einige der Fragen, die sich aus diesem komplexen Kleinod ergeben. Sandra Wollner ist gleich mit ihrem Abschlussfilm visuell und narrativ ein großer Wurf gelungen, der nahelegt, dass die Regisseurin im europäischen Kino in Zukunft eine wichtige Rolle einnehmen wird.