70. Berlinale 2020
Für eine Berlinale der Grausamkeit |
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Einer der Kannibalen aus »Encounters«: Camilo Restrepos »Los conductos« | ||
(Foto: Berlinale | Camilo Restrepo) |
»Grausamkeiten muss eine Regierung gleich am Anfang hinter sich bringen.«
Niccolo Machiavelli»I don›t know how the festival programming did it before, and frankly, I don‹t care.«
Carlo Chatrian
Die neue Berlinale sei fast die alte Berlinale, das habe ich irgendwo gelesen. So kann es wirken. Das ist aber auch genau das Problem der Berlinale-Macher: Dass man vor lauter Dingen, die gleich geblieben sind, die großen Veränderungen im Untergrund, die Richtungsänderungen nicht wahrnimmt, oder wahrhaben will. Und über der Haltung vermeintlicher Gelassenheit, dem »wait and see«, kann man halt auch leicht mal einschlafen...
Wenn wir aber unterstellen, dass die neue
Berlinale-Leitung einen klaren Bruch zur Kosslick-Vergangenheit ziehen will – und das kann man, wenn man ein paar Interviews liest, oder mit ihnen selber spricht –, dann ist ihr allerdings zu empfehlen, das auch zu tun, und zwar so, dass es selbst die stumpferen unter den Beobachtern auch merken.
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Für das neuberufene Berlinale-Leitungsteam Carlo Chatrian und Mariette Rissenbeek war das erste Jahr in der Nachfolge des Zampano-Direktors Dieter Kosslick kein leichtes: Der sowieso schon arg verspätete Amtszeit-Beginn im vergangenen Juni wurde durch logistische Missstände zusätzlich belastet, die die Neuen nicht zu verantworten hatten, nun aber ausbaden mussten: Fehlende oder defekte Kinos, ein eingeschränktes Zentrum an einem Potsdamer Platz der durch Bauarbeiten und zu drei Vierteln geschlossene Restaurants mehr einer Mondlandschaft ähnelt, als einem Ort, in der man im Namen von Marlene Dietrich und Billy Wilder das Kino feiern möchte.
Angesichts all dieser Vorbelastungen ist Chatrian und Rissenbeek ein guter Start geglückt. Die Qualität der Filme war besser, auch wenn längst noch nicht das Niveau von Venedig oder gar Cannes erreicht ist, und es weiterhin insgesamt viel zu viele Filme gibt.
Aber zunächst einmal muss hier Schmutzarbeit erledigt und Beton gegossen werden, überhaupt ein Fundament gelegt, auf dem aufgebaut werden kann. Immerhin gelang es Chatrian und seinem Auswahlteam, nach Jahren wieder einige
Top-Namen nach Berlin zu bringen: Einen Philippe Garrel, einen Rithy Panh, eine Kelly Reichardt hätte Kosslick schlicht und einfach nicht bekommen.
Egal was man über Carlo Chatrian zu Auswahlkommission sagen möchte: Zum allerersten Mal seit vielen Jahren gab es überhaupt eine ernsthafte Auswahl. Zum ersten Mal gab es überhaupt so etwas wie kuratorische Entscheidungen und nicht die reine Willkür, den schlichten Pragmatismus.
Worum es zumindest ging, und was die diesjährige Wettbewerbs-Auswahl erreichte, das ist eine gewisse Spannbreite verschiedenster Ansätze des Kinos zu zeigen und das auf hohem Niveau. Egal wie der eigene Geschmack ausgerichtet ist: fast jeder Wettbewerbsgänger konnte in der diesjährigen Auswahl eine Handvoll oder sogar mehr Filme für seinen Geschmack finden.
Chatrian selbst spricht von einem Lernprozess.
Hoffentlich führt der bald zu einer strengeren Einladungspolitik. Im Wettbewerb sollten keine Filme laufen, die vorher in Sundance oder Telluride oder Toronto zu sehen waren. Das müsste ein Prinzip sein, eine conditio sine qua non.
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Es gab auch sonst viele Herausforderungen für die 70 Berlinale, zu Jubiläumsfeiern stand wenigen der Sinn. Schon vage warf der Corona-Virus seine Schatten voraus. Der angebliche Skandal um Äußerungen des Jurypräsident Jeremy Irons standen im Raum, hinzu kamen die ebenso eher angeblichen Enthüllungen über den früheren Festival-Chef Alfred Bauer, nach dem die Berlinale 33 Jahre lang einen ihrer Hauptpreise benannt hatte.
Das Fazit nach elf Tagen Festival ist nicht ganz eindeutig, die Tendenz allerdings schon: Verbesserung, Entspannung, Umbruch – das waren die wichtigsten Schlüsselworte, die ich immer wieder in Gesprächen hörte.
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Das ist alles auch bitter nötig. Denn man darf sich keine Illusionen machen: Die Berlinale, die unter den wichtigsten Filmfestivals in Europa einst unbestreitbar eines der großen Dreien war, neben Cannes und Venedig, hat nach 18 Jahren Dieter Kosslick einen großen Teil ihres Renommees verloren. Bestenfalls steht die Berlinale nach Cannes und Venedig auf Platz drei, aber selbst dieser Platz ist gefährdet: Zum einen durch andere Festivals, die mindestens weitaus charmanter sind und
möglicherweise nicht weniger wichtig, wie San Sebastian und Locarno. Zum zweiten aber auch durch die neuen Player, die die gewissermaßen die Hechte im Karpfenteich sind, sich aber um »A-Festival«-Kriterien nicht scheren, aber trotzdem dabei sind und wichtig – ob sie nun Sundance heißen oder Toronto oder Telluride oder gar Dubai und Doha.
Die Festivallandschaft ist zurzeit in Bewegung. Sie verwandelt sich immer schneller und schon binnen fünf Jahren kann ein Festival absteigen
oder eben aufsteigen. Man muss hier wachsam sein, man muss auch enge Kontakte zur Festivalbranche haben und zu den Filmemachern und den Weltvertrieben, man muss neue Entwicklungen erkennen, aber die Spreu vom Weizen und die Mode vom Nachhaltigen trennen können. All das ging Dieter Kosslick ab.
18 Jahre lang regierte er die Berlinale; länger als jeder Bundeskanzler die Bundesrepublik, länger als je ein US-Präsident die Vereinigten Staaten. Trotzdem dauert es 17 Jahre, bis die
Kritik, die untergründig immer simmerte, schon von den allerersten Kosslick-Jahren an, endlich die Öffentlichkeit erreichte und über einzelne Stimmen der Presse – unter anderem in unserem Magazin – hinaus auch breitenwirksam wurde, und in einem Protestbrief eskalierte, den über 80 deutsche Filmemacher an die formal und juristisch zuständige Kulturstaatsministerin adressierten. Nun konnte sie nicht länger die Augen verschließen.
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In einem sehr informativen Artikel auf »Indiewire« ist diese Diagnose noch einmal zusammenfassend aus US-amerikanischer Sicht nachzulesen. Hier [https://www.indiewire.com/2020/02/berlinale-2020-analysis-carlo-chatrian-1202214435/] steht zunächst einmal unübersehbar, dass das Festival eine »bad reputation« habe, also einen schlechten Ruf. Von »Jahren des Rückschlags« ist die Rede. Es sind also nicht nur ein paar »deutsche Berlinale-Kritiker«, oder böse Blogger, die hier meckern – im Gegenteil ist es die provinzielle Westberliner Presse, die die Berlinale, der sie in von Außen intransparenten Medienpartnerschaften verbunden ist, mit Jubelperser-Gestus begleitet.
Die Berlinale ist auf den Hund gekommen, das ist überhaupt keine Frage. Sie ist in einem hundsmiserablen Zustand, und erst der Abgang des großen Zampanos machte sichtbar, dass seine krachlederne, gefallsüchtige Persönlichkeit und sein Gockelgehabe vor allem eine Ruinenlandschaft verdeckt hatten.
Einige Festivals können sich mit einem durchschnittlichen Programm am Leben erhalten, weil die Leute sowieso kommen, anderen genügen hohe Ticketverkäufe. Für die Berlinale genügt
das nicht, da mag man noch so oft von »Publikumsfestival« schwadronieren. Dieses Lieblingswort der Kossklick-Zeit ist inzwischen zu einem geradezu ideologischen Begriff geworden. Es dient vor allem dazu, zu verdecken was fehlt. Es dient dazu, sich mit dem Gestus eines Volkstribuns dem Publikum anzubiedern, mitunter aber auch mit dem Gestus eines Gebrauchtwagenhändlers schlechte oder zumindest halbseidene Ware noch irgendwie an den Mann zu bringen.
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Diese Haltung ist schwer in einem Jahr abzuschaffen und ins Gegenteil zu verkehren. Womöglich ist das auch nicht gewollt, denn unzählige Tickets müssen verkauft werden, und entgegen den Jubelmeldungen sind in vielen Berlinale-Kinos Plätze frei.
343 Filme laufen 2020 bei der Berlinale. Zieht man die Kurzfilme ab, sind des immer noch 268. Rechnet man ohne Retrospektive, »Classics« und »Hommage« bleiben immer noch 220, mehr als doppelt so viele wie in Cannes inklusive aller Klassiker und Kurzfilme.
Neben den 18 Wettbewerbsfilmen (entgegen Gerüchten keineswegs weniger als unter Kosslick) gibt es je nach Zählweise 12 bis 14 Sektionen: Berlinale Spezial; Berlinale Series; Encounters; Berlinale Shorts; Panorama; Forum; Forum
Expanded; Generation; Perspektive; Retrospektive; Classics; Hommage
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Ein großes Problem ist das Verhältnis zur Presse – wenn es sich nicht gerade um besagte Berliner Lokalpatrioten handelt. Man braucht sie, aber man liebt sie nicht, und man tut institutionell wenig für sie – im Gegenteil wird gern gegängelt, und wie in einer Bananenrepublik mit Zuckerbrot und Peitsche agiert: Missliebige Berichterstattung führt zu kleinen Schikanen, oder auch mal – bei »unwichtigen« Medien – zu Akkreditierungsentzug. Freundliche
Berichterstattung führt zu unaufgeforderten Einladungen zu begehrten Vorführungen oder internen Empfängen.
Die Chefin der Presseabteilung, schon seit Zeiten von Kosslick-Vorgänger de Hadeln bei der Berlinale, hat von Außen gesehen bei der Berlinale einen deutlich größeren Einfluss, als es bei anderen Festival üblich ist, wo eine solche Funktion eindeutig dienend ist. Davon ist bei der Berlinale wenig zu spüren. Nach innen führt der enorme Erfahrungsvorsprung dazu, dass die neue
Doppelspitze geradezu als eine Dreierspitze erscheint – wenig sichtbar aber um so mächtiger thront die dritte Kraft im Hintergrund.
Die anderenorts üblichen Dienstleistungen für Medienvertreter wurden bereits unter Kosslick auf ein Minimum reduziert. Es gibt keine Kataloge mehr, noch nicht einmal gegen Gebühr und auch nicht als umweltschonendes pdf – eine beispiellose Einschränkung, nicht nur, weil für viele Berlinale-Gänger, auch unter dem umworbenen Publikum, der Katalog jahrzehntelang ein begehrtes Sammelstück war.
Noch wichtiger: Es gibt kaum noch Pressevorführungen. Nur Wettbewerbsfilme und Shorts werden komplett gezeigt, auch die Encounters nahezu komplett, jedoch parallel zum Wettbewerb. Wie kann man eine neue Sektion einführen und sie dann derart unsichtbar machen? Von 36 Panorama-Filmen bekommen nur 13 eine Pressevorführung, nur acht der 27 Generation-Filme, kein einziger Film aus der Retrospektive – auch hier, ebenso in einem klareren Programmflyer, sollte sich die Berlinale ein Beispiel an Cannes und den anderen europäischen A-Festivals nehmen.
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Noch eine Bemerkung zur neuen »Encounters«-Reihe. Gerade deren Qualität und Erfolg hat einen großen Nachteil: Er kannibalisiert alle anderen Sektionen, sogar den Wettbewerb. Denn wo, wenn nicht hier sollten die tatsächlich besten, mutigsten, visionärsten Filme laufen?
Nun aber machen sich zwei Wettbewerbe Konkurrenz, und diese befruchtet nicht, sondern schadet. Trotzdem sollte man nicht vorschnell urteilen: Die Berlinale 2020 wird in Erinnerung bleiben als ein Jahr des Übergangs, als Wanderungen im Kosslick-Ruinenfeld. Die Handschrift der neuen Leiter wird man erst in ein bis zwei Jahren wirklich erkennen. Dann allerdings muss sie auch sichtbar werden.
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Man wünscht sich daher in Zukunft den Mut zu echten, erkennbaren Veränderungen, dazu, es nicht allen recht machen zu wollen. Disruption. Positive Irritation. Revolution statt Reform. Sonst wird alles halbherzig bleiben.
Für eine Berlinale der Grausamkeit!
(to be continued)