70. Berlinale 2020
Mord und Karneval |
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Ein Film wie vor 50 Jahren? Abel Ferraras »Siberia« | ||
(Foto: © Federica Vagliati/2020 Vivo film, maze pictures, Piano, Berlinale Presseservice) |
Abenteuer stellen sich nie auf Verlangen ein. Wer mit dem Vorsatz Abenteuer zu erleben auszieht wird nichts als Enttäuschungen einheimsen, er müsste denn ein Liebling der Götter oder ein großer Held sein, wie der edle Ritter Don Quijote della Mancha. Gewöhnliche Sterbliche wie wir die wir nur also gern böse Riesen als brave Windmühlen links liegen lassen, werden von Abenteuern unverhofft heimgesucht und in unserer Selbstgenügsamkeit gestört und wie ungelegene Besucher das so an sich haben, überfallen Sie uns oft zu ungelegener Zeit. Auch erkennen wir sie zunächst nicht als solche und verstehen sie nicht zu würdigen.
Joseph Conrad: Die Tremolino
19.02.2020, am Tag vor der Berlinale. Heute Nacht hatte ich ein Angsttraum, was nicht oft vorkommt, aber doch zwei bis dreimal im Jahr. Aber wovor hatte ich Angst? Angst vor der Berlinale? Wimmernd bin ich aufgewacht im Bett.
Erst am Abend wird es wirklich ernst.
Gestern, am Mittwoch vor der Berlinale gab es zum Auftakt unserer parallelen »Woche der Kritik« wieder eine Konferenz: »Cinema Plural« lautete der bewusst offen gewählte und pluralistische Titel. Zu den diversen Themen und Initiativen gehörte auch ein geschlossener Workshop zum Thema »Film
gegen Rechts«. Mehrere Runden, eine davon von mir moderiert. Es gab gute Begegnungen und einen gewissen Enthusiasmus, nach der Berlinale weiterzumachen.
Dann kamen die ersten Nachrichten aus Hanau....
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20.02.2020 Blau und klar war der Himmel noch am Morgen, kalt die Luft in der Stadt. Inzwischen weint der Himmel, kalt ist noch immer, aber aus anderen Gründen: Zehn Ermordete in Hanau, das nimmt einem die letzte Lust, die noch geblieben ist zum Anfang der Berlinale.
Ich scheue mich ein bisschen, das zuzugeben, aber als ich heute morgen im Radio nach Aufbruchstimmung gefragt wurde, oder danach, ob ich mich auf die Berlinale freue, da konnte ich nicht vollen Herzens mit ja jubeln.
Verhalten ist allenfalls das richtige Wort für meine Laune.
Sie wurden gemordet, nur weil sie sind, wie sie sind. Weil sie sind wie wir, es aber nicht sein dürfen. Und wieder Hessen. Nach Kassel, nach Mendig, nach Alice Weidel und Alexander Gauland, die sämtlich aus dem Frankfurter Bürgersumpf entschlüpft sind.
Gestern Morde, heute Weiberfastnacht und heute Abend dann Berlinale-Eröffnung, immerhin endlich eine oder Dieter Kosslick. Ich hatte noch Lust auf das Festival, aber durch die Nachrichten, deren Dimension erst nach einigen Stunden ganz klar wird, ging die Laune in den Keller. Kurz ein Gedanke an Kinofasten, aber das lassen wir besser.
Dann beim Akkreditierungsabholen, gleich eine sehr nette, freundliche Begrüßung des jungen Teams der Presseabteilung.
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Auf Twitter wird die Parole des Tages ausgegeben: »Wir müssen dafür sorgen, dass das hier keine Blase ist, in der wir uns unserer fantastischen Meinung und unserer Multikulturalität versichern, sondern dass wir das überall machen.«
Dann folgt die Eröffnung. Im Fernsehen sieht man Roten-Teppich-Journalismus. Die Berlinale hat zwar eine neue Leitung, »3sat« aber keine neue Filmexpertin. Die ältere Dame feiert auf ihre sehr eigene Art auch Weiberfastnacht und bezeichnet die Berlinale als ältere Dame. Dann macht sie fragwürdige Witze über das neue Leitungsteam: »Ernie und Bert«, »Fix und Foxi« – solcher Humor ist dann doch ein bisschen sehr unter Niveau. Warum eigentlich? Gibt es da etwa irgendwelche
persönlichen Ressentiments?
Und die Behauptung, kein größeres Festival außer der Berlinale würde von einer Frau geführt, stimmt auch einfach nicht: Locarno hat eine Chefin, Rotterdam auch, Telluride auch. So schlicht liegen die Dinge also nicht.
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Um Filmbildung war es bereits bei »Cinema Plural« gegangen. Zusammen mit Stefan Butzmühlen und dem »Hauptverband Cinephilie« hatten wir eine Runde geplant zur Vielfalt und Größe von Filmbildung und zu den vielen Aspekten des Themas.
Denn es ist sehr aktuell. Alle reden von Filmbildung. Keine Frage: Ein Publikum, das Lust auf das Kino hat, das über die Vielfalt und die Möglichkeiten des Mediums Film und über seine Geschichte informiert ist, ist für eine funktionierende
Kinokultur essentiell. Wir waren uns einig, dass Filmbildung in jedem Fall mehr ist, als mit der Schulklasse gelegentlich gemeinsam einen Film zu sehen. Filmbildung verstanden als Vermittlung von Filmkultur in allen ihren Facetten ist ein Prozess. Sie betrifft alle Teile des Publikums, und sie sollte nicht nur in eine Richtung gedacht werden, sondern als Bildung ernst genommen werden.
Auch wenn seit letzten Sommer die Frage der Zukunft von »Vision Kino« besonders auf der
filmpolitischen Agenda steht, sollte es explizit nicht nur um dieses Projekt der Bundesregierung gehen. Es sollte vielmehr auch gezeigt werden, was jenseits von Vision Kino sonst noch alles schon an Projekten und Initiativen besteht. Und es sollte auch gezeigt werden, was Filmbildung alles heißen könnte.
Wir wollten ausloten, wie Filmbildung aussehen kann, was in diesem Bereich möglich sein könnte, was nötig ist, was funktioniert, und was sich ändern muss. Vor allem wollen wir
selbst Lust darauf machen, sich mit den Möglichkeiten von Filmbildung zu beschäftigen.
Diese Diskussionsrunde war ein großer Erfolg. Über 40 Leute saßen oder standen in einem viel zu kleinen Saal und diskutierten ziemlich aktiv mit. Es gab zu wenig Zeit – wie immer. Es gab zu viel Redebedarf – wie immer. Es gab verschiedene lose Fäden, die nicht alle zusammen geknüpft werden konnten – wie immer. Aber immerhin eines war klar: Es gibt viel Bedarf an Filmbildung
und es gibt sehr viele gutwillige Menschen in allen Organisationen und allen Initiativen, die Lust haben, hier weiter zu arbeiten. Diese Lust sollten wir alle fruchtbar machen, diese Energie sollten wir alle in produktive Kanäle lenken und genau das war das Ziel der Veranstaltung »Cinema Plural«.
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Was für ein alberner Eröffnungsfilm.
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Berlinale, das ist diesmal vom ersten Tag an ein Kreuz und Quer durch die Stadt. Ein Jagen bei kaltem, oft genug feuchtem Wetter. Sind die Menschen jetzt noch nicht erkältet, werden sie es morgen oder in den nächsten Tagen sein.
Man könnte hier natürlich einfach über die Berlinale-Filme schreiben, aber über ein Filmfestival zu schreiben bedeutet, das Festival als Ganzes in den Blick zu nehmen, die Situation zu erfassen, den Zustand der Menschen, die auf diesem Festival sind, es
besuchen, egal ob wir sie nun Publikum nennen oder Professionelle oder Kritiker. Über die Filmer an und für sich werden wir noch schreiben, wenn sie herauskommen.
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Vor dem Festival haben viele Menschen nicht gewusst, wie man Carlo Chatrian ausspricht oder noch viel schlimmer sie haben ihn schatterä' ausgesprochen, als ob er Franzose wäre, sie haben die Stimme angehoben gegen Ende seines Namens. Aber seit dem Anfang des Festivals wissen glaube ich alle, dass der Mann Chatrian heißt, mit einem starken N am Ende. Er ist eben Italiener, kein Franzose,
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Mit der Urania wurde ein alter Spielort jetzt wieder belebt. Wenigstens ein bisschen macht sich der alte Charme der Nachkriegsberlinale wieder bemerkbar.
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Wir müssen wegkommen von dieser Hertha BSC Berlinale, von einer Berlinale, die schlecht gemanagt ist, die nur funktioniert in den Augen derjenigen, die keine Ahnung haben und der Großkopferten, wie man das in München sagt. Wir müssen hinkommen zu einer Berlinale, mit der sich wirklich jeder identifiziert, einer Berlinale, die für alle ist und die alle gleich behandelt, wir müssen hinkommen zu einer Berlinale um im Bild zu bleiben die mehr ist wie Union Berlin.
Zu einer Berlinale,
die weiß, was sie ist und was sie nicht ist, und die sich selbst nicht mehr klein macht.
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22.02.2020 Schnapszahldatum. Vorführung von Phillippe Garrels Wettbewerbsfilm »Le Sel des Larmes«.
»Es ist ein Spaß, hier zu sein« schreibt eine Schauspielerin auf die Fotowand. Zuschauer-Kommentar zwei Reihen hinter mir: »Ein Spaß, Hauptsache Spaß« und das nicht berlinerisch, sondern auf Schweizerdeutsch.
Unten im Parkett ist ganz vieles frei, aber die Zuschauer werden trotzdem nach oben geschickt in den Rang. Samstag Abend, 22 Uhr, ein französischer Film und dann ein nicht-ausverkaufter Berlinale Palast, das in der Millionenstadt Berlin, bei dem nach eigenen Angaben weltgrößten Publikumsfestival. Es ist also noch Luft nach oben offen.
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23.02.2020. Die Stimmung ist schlecht, das Wetter tut sein übriges Dauerregen Hamburger Schietwetter passend zur Hamburger Wahl am heutigen Sonntag.
Eine Kollegin: »Das ist unsäglich, es wird immer schlimmer, man weiß gar nicht mehr, wo man hingehen soll. Es gibt keine Cafes, aber die Leute nehmen es ja hin, die Kinos sind voll wie eh und je.«
Die Rettung kommt wieder einmal aus Österreich. Im Pavillon von Film Austria ist alles gut
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Der Dokumentarfilm über Schlingensief von Bettina Böhler weckt wunderbare Erinnerungen, Ausschnitte mit Alfred Edel, Dietrich Kuhlbrodt, alte Super 8 Filme aus der Kindheit. Die Eltern wollten eigentlich sechs Kinder, bekamen aber nur eins. »Dann bin ich eben diese sechs Kinder.« sagte Schlingensief.
Seine Methode wird mit dieser Frage beschrieben: Was passiert, wenn man Dinge übereinander legt und ineinander legt, die nichts miteinander zu tun haben.
Ein WDR-Redakteur bei der Abnahme des ersten gemeinsamen Films sagte zu Schlingensief: »Du wirst niemals einen Menschen lieben können.
Die HFF München hat Schlingensief zweimal abgelehnt.
Film als Überforderung. Kunst als Gegengift. Für den Apothekerssohn war das alles nur eine Frage der Dosis.«
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Es ist einfach, Schlingensief heute zu lieben, denn Schlingensief ist tot. Es war schwer, ihn zu lieben, als er noch lebte, zumindest für sehr viele Spießbürger, Moralisten und Mainstream-Anhänger, für alle, die die sich heute empören über Roman Polanski, die sich empören über Ben Gibson den dffb-Direktor, für all diejenigen, die sich heute darüber empören, dass ein Film wie »DAU«, eine Art Stalinismus-Big-Brother inszeniert und die Erfahrung des Stalinismus nachempfindet, und die sich wundern, dass der Stalinismus nicht politisch korrekt ist, für alle die sich darüber wundern, dass es im Berlin des Alfred Döblin und dem Reload seiner Romanvorlage keine Frauen gibt, die sich so benehmen, wie man das im schwarz-grünen Milieu von Berlin Mitte gerne hätte, dass da die Frauen vor allem Huren sind – alle, die sich über so etwas empören, haben sich früher auch über Christoph Schlingensief empört, und heute sitzen sie in diesem Film in der Berlinale und ergötzen sich und sagen »Christoph, wir brauchen dich!«
Im Augenblick bekommt das Ressentiment der Spießbürger, bekommt der Moralismus des Mainstream viel zu viel Stimmen, viel zu viel Aufmerksamkeit und leider Gottes vor allem auch in den öffentlich-rechtlichen Medien.
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Nehmen wir mal diesen Twittertext von 3sat Kulturzeit. Ich zitiere: Dass, was Carlo Chatrian der neue künstlerische Leiter versprochen hat, nämlich mehr verschiedene Perspektiven und Diversität mit reinzubringen, das sieht man tatsächlich. Viele Filme erzählen Geschichten von Unterdrückten, von Ausgebeuteten, von Menschen mit Behinderungen, und das durchaus aus aus ihrer auch aus ihrer Perspektive.
Wirklich ärgerlich waren die Filme der alten Regie-Haudegen Abel Ferrara
»Siberia« mit Willem Dafoe und »Das Salz der Tränen« von Philippe Garrel. Das sind Filme wie vor 50 Jahren – die sich immer noch um den gleichen zweifelnden feigen Helden drehen, der sich nicht entscheiden kann zwischen den Frauen, dafür dann aber doch an ziemlich viele ran darf. So plappert die Kulturzeit-Frau.
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Wer schreibt diese Texte? Und wer kommt auf so was? Da könnte man ja auch einen Kirchentag besuchen, um solche Perspektiven zu hören und zu sehen. Die Frage ist allerdings auch, warum uns diese Themen überhaupt interessieren sollten. Was uns diese Perspektiven erzählen sollten? Warum es interessant ist, wenn wir von den Ausgebeuteten hören, aus der Perspektive der Ausgebeuteten und von den Behinderten aus der Perspektive der Behinderung. Die Frage ist vor allem: Was hat das eigentlich mit einem Kunstfestival zu tun? Es ist doch eigentlich nur ein Offenbarungseid, eine Kapitulation vor dem Zeitgeist und vor den Inhalten, eine Kapitulation der Ästhetik und des Stilgefühls. Eine Kapitulation insbesondere auch der Kunstkritik, die überhaupt keine Kriterien für sich selber hat, und sich auch nicht die Mühe macht, welche aufzustellen oder an ihnen zu arbeiten, weil das Aufstellen solche Kriterien natürlich auch nicht so einfach ist.
Was einfacher ist, das sind plakative Gefühlsstatements wie dies, dass man auf Seiten der Unterdrückten steht, der Behinderten – das ist erst recht einfach, wenn man eine unbehinderte und ununterdrückte Frau ist, die bei 3sat eine festen Job hat. Vielleicht wäre es wichtiger, dass diese Frau einmal nicht die Unterdrückung anderer kritisieren würde, sondern dass sie uns etwas über ihre eigenen Arbeitsbedingungen erzählen würde. Dass sie uns etwas erzählen würde, darüber,
welche Menschen sie bei ihrem Karriereweg hinter sich gelassen hat es wäre viel interessanter, von solchen Leuten wie ihr etwas über den bürgerlichen Mainstream des Journalismus zu erfahren.
Der Tweet hat allerdings auch nur sechs »gefällt mir«-Angaben, insofern kann man den teuer mit öffentlichen Geldern finanzierten »3sat Kulturzeit«-Tweet mal voll vergessen. Vielleicht sollte sich die 3sat Redaktion ein Beispiel an arteshocks arteshots nehmen. Da geht es nämlich um Kunst und um Kultur und wenn man »Kulturzeit« heißt, und nicht »Moralzeit«, dann sollte doch die Kultur im Zentrum stehen.
(to be continued)