04.03.2020
70. Berlinale 2020

Mord und Karneval

Siberia
Ein Film wie vor 50 Jahren? Abel Ferraras »Siberia«
(Foto: © Federica Vagliati/2020 Vivo film, maze pictures, Piano, Berlinale Presseservice)

Berlinale-Rewind: Eröffnung, Filmbildung, der Anfang von allem und der grassierende Moralismus – Berlinale-Tagebuch, Folge 5

Von Rüdiger Suchsland

Abenteuer stellen sich nie auf Verlangen ein. Wer mit dem Vorsatz Abenteuer zu erleben auszieht wird nichts als Enttäu­schungen einheimsen, er müsste denn ein Liebling der Götter oder ein großer Held sein, wie der edle Ritter Don Quijote della Mancha. Gewöhn­liche Sterb­liche wie wir die wir nur also gern böse Riesen als brave Wind­mühlen links liegen lassen, werden von Aben­teuern unver­hofft heim­ge­sucht und in unserer Selbst­genüg­sam­keit gestört und wie unge­le­gene Besucher das so an sich haben, über­fallen Sie uns oft zu unge­le­gener Zeit. Auch erkennen wir sie zunächst nicht als solche und verstehen sie nicht zu würdigen.
Joseph Conrad: Die Tremolino

19.02.2020, am Tag vor der Berlinale. Heute Nacht hatte ich ein Angst­traum, was nicht oft vorkommt, aber doch zwei bis dreimal im Jahr. Aber wovor hatte ich Angst? Angst vor der Berlinale? Wimmernd bin ich aufge­wacht im Bett.
Erst am Abend wird es wirklich ernst.

Gestern, am Mittwoch vor der Berlinale gab es zum Auftakt unserer paral­lelen »Woche der Kritik« wieder eine Konferenz: »Cinema Plural« lautete der bewusst offen gewählte und plura­lis­ti­sche Titel. Zu den diversen Themen und Initia­tiven gehörte auch ein geschlos­sener Workshop zum Thema »Film gegen Rechts«. Mehrere Runden, eine davon von mir moderiert. Es gab gute Begeg­nungen und einen gewissen Enthu­si­asmus, nach der Berlinale weiter­zu­ma­chen.
Dann kamen die ersten Nach­richten aus Hanau....

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20.02.2020 Blau und klar war der Himmel noch am Morgen, kalt die Luft in der Stadt. Inzwi­schen weint der Himmel, kalt ist noch immer, aber aus anderen Gründen: Zehn Ermordete in Hanau, das nimmt einem die letzte Lust, die noch geblieben ist zum Anfang der Berlinale.
Ich scheue mich ein bisschen, das zuzugeben, aber als ich heute morgen im Radio nach Aufbruch­stim­mung gefragt wurde, oder danach, ob ich mich auf die Berlinale freue, da konnte ich nicht vollen Herzens mit ja jubeln. Verhalten ist allen­falls das richtige Wort für meine Laune.

Sie wurden gemordet, nur weil sie sind, wie sie sind. Weil sie sind wie wir, es aber nicht sein dürfen. Und wieder Hessen. Nach Kassel, nach Mendig, nach Alice Weidel und Alexander Gauland, die sämtlich aus dem Frank­furter Bürger­sumpf entschlüpft sind.

Gestern Morde, heute Weiber­fast­nacht und heute Abend dann Berlinale-Eröffnung, immerhin endlich eine oder Dieter Kosslick. Ich hatte noch Lust auf das Festival, aber durch die Nach­richten, deren Dimension erst nach einigen Stunden ganz klar wird, ging die Laune in den Keller. Kurz ein Gedanke an Kino­fasten, aber das lassen wir besser.

Dann beim Akkre­di­tie­rungs­ab­holen, gleich eine sehr nette, freund­liche Begrüßung des jungen Teams der Pres­se­ab­tei­lung.

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Auf Twitter wird die Parole des Tages ausge­geben: »Wir müssen dafür sorgen, dass das hier keine Blase ist, in der wir uns unserer fantas­ti­schen Meinung und unserer Multi­kul­tu­ra­lität versi­chern, sondern dass wir das überall machen.«

Dann folgt die Eröffnung. Im Fernsehen sieht man Roten-Teppich-Jour­na­lismus. Die Berlinale hat zwar eine neue Leitung, »3sat« aber keine neue Film­ex­pertin. Die ältere Dame feiert auf ihre sehr eigene Art auch Weiber­fast­nacht und bezeichnet die Berlinale als ältere Dame. Dann macht sie frag­wür­dige Witze über das neue Leitungs­team: »Ernie und Bert«, »Fix und Foxi« – solcher Humor ist dann doch ein bisschen sehr unter Niveau. Warum eigent­lich? Gibt es da etwa irgend­welche persön­li­chen Ressen­ti­ments?
Und die Behaup­tung, kein größeres Festival außer der Berlinale würde von einer Frau geführt, stimmt auch einfach nicht: Locarno hat eine Chefin, Rotterdam auch, Telluride auch. So schlicht liegen die Dinge also nicht.

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Um Film­bil­dung war es bereits bei »Cinema Plural« gegangen. Zusammen mit Stefan Butz­mühlen und dem »Haupt­ver­band Cine­philie« hatten wir eine Runde geplant zur Vielfalt und Größe von Film­bil­dung und zu den vielen Aspekten des Themas.
Denn es ist sehr aktuell. Alle reden von Film­bil­dung. Keine Frage: Ein Publikum, das Lust auf das Kino hat, das über die Vielfalt und die Möglich­keiten des Mediums Film und über seine Geschichte infor­miert ist, ist für eine funk­tio­nie­rende Kino­kultur essen­tiell. Wir waren uns einig, dass Film­bil­dung in jedem Fall mehr ist, als mit der Schul­klasse gele­gent­lich gemeinsam einen Film zu sehen. Film­bil­dung verstanden als Vermitt­lung von Film­kultur in allen ihren Facetten ist ein Prozess. Sie betrifft alle Teile des Publikums, und sie sollte nicht nur in eine Richtung gedacht werden, sondern als Bildung ernst genommen werden.
Auch wenn seit letzten Sommer die Frage der Zukunft von »Vision Kino« besonders auf der film­po­li­ti­schen Agenda steht, sollte es explizit nicht nur um dieses Projekt der Bundes­re­gie­rung gehen. Es sollte vielmehr auch gezeigt werden, was jenseits von Vision Kino sonst noch alles schon an Projekten und Initia­tiven besteht. Und es sollte auch gezeigt werden, was Film­bil­dung alles heißen könnte.
Wir wollten ausloten, wie Film­bil­dung aussehen kann, was in diesem Bereich möglich sein könnte, was nötig ist, was funk­tio­niert, und was sich ändern muss. Vor allem wollen wir selbst Lust darauf machen, sich mit den Möglich­keiten von Film­bil­dung zu beschäf­tigen.
Diese Diskus­si­ons­runde war ein großer Erfolg. Über 40 Leute saßen oder standen in einem viel zu kleinen Saal und disku­tierten ziemlich aktiv mit. Es gab zu wenig Zeit – wie immer. Es gab zu viel Rede­be­darf – wie immer. Es gab verschie­dene lose Fäden, die nicht alle zusammen geknüpft werden konnten – wie immer. Aber immerhin eines war klar: Es gibt viel Bedarf an Film­bil­dung und es gibt sehr viele gutwil­lige Menschen in allen Orga­ni­sa­tionen und allen Initia­tiven, die Lust haben, hier weiter zu arbeiten. Diese Lust sollten wir alle fruchtbar machen, diese Energie sollten wir alle in produk­tive Kanäle lenken und genau das war das Ziel der Veran­stal­tung »Cinema Plural«.

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Was für ein alberner Eröff­nungs­film.

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Berlinale, das ist diesmal vom ersten Tag an ein Kreuz und Quer durch die Stadt. Ein Jagen bei kaltem, oft genug feuchtem Wetter. Sind die Menschen jetzt noch nicht erkältet, werden sie es morgen oder in den nächsten Tagen sein.
Man könnte hier natürlich einfach über die Berlinale-Filme schreiben, aber über ein Film­fes­tival zu schreiben bedeutet, das Festival als Ganzes in den Blick zu nehmen, die Situation zu erfassen, den Zustand der Menschen, die auf diesem Festival sind, es besuchen, egal ob wir sie nun Publikum nennen oder Profes­sio­nelle oder Kritiker. Über die Filmer an und für sich werden wir noch schreiben, wenn sie heraus­kommen.

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Vor dem Festival haben viele Menschen nicht gewusst, wie man Carlo Chatrian ausspricht oder noch viel schlimmer sie haben ihn schatterä' ausge­spro­chen, als ob er Franzose wäre, sie haben die Stimme angehoben gegen Ende seines Namens. Aber seit dem Anfang des Festivals wissen glaube ich alle, dass der Mann Chatrian heißt, mit einem starken N am Ende. Er ist eben Italiener, kein Franzose,

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Mit der Urania wurde ein alter Spielort jetzt wieder belebt. Wenigs­tens ein bisschen macht sich der alte Charme der Nach­kriegs­ber­li­nale wieder bemerkbar.

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Wir müssen wegkommen von dieser Hertha BSC Berlinale, von einer Berlinale, die schlecht gemanagt ist, die nur funk­tio­niert in den Augen derje­nigen, die keine Ahnung haben und der Groß­kop­ferten, wie man das in München sagt. Wir müssen hinkommen zu einer Berlinale, mit der sich wirklich jeder iden­ti­fi­ziert, einer Berlinale, die für alle ist und die alle gleich behandelt, wir müssen hinkommen zu einer Berlinale um im Bild zu bleiben die mehr ist wie Union Berlin.
Zu einer Berlinale, die weiß, was sie ist und was sie nicht ist, und die sich selbst nicht mehr klein macht.

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22.02.2020 Schnaps­zahl­datum. Vorfüh­rung von Phillippe Garrels Wett­be­werbs­film »Le Sel des Larmes«.

»Es ist ein Spaß, hier zu sein« schreibt eine Schau­spie­lerin auf die Fotowand. Zuschauer-Kommentar zwei Reihen hinter mir: »Ein Spaß, Haupt­sache Spaß« und das nicht berli­ne­risch, sondern auf Schwei­zer­deutsch.

Unten im Parkett ist ganz vieles frei, aber die Zuschauer werden trotzdem nach oben geschickt in den Rang. Samstag Abend, 22 Uhr, ein fran­zö­si­scher Film und dann ein nicht-ausver­kaufter Berlinale Palast, das in der Millio­nen­stadt Berlin, bei dem nach eigenen Angaben welt­größten Publi­kums­fes­tival. Es ist also noch Luft nach oben offen.

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23.02.2020. Die Stimmung ist schlecht, das Wetter tut sein übriges Dauer­regen Hamburger Schiet­wetter passend zur Hamburger Wahl am heutigen Sonntag.
Eine Kollegin: »Das ist unsäglich, es wird immer schlimmer, man weiß gar nicht mehr, wo man hingehen soll. Es gibt keine Cafes, aber die Leute nehmen es ja hin, die Kinos sind voll wie eh und je.«

Die Rettung kommt wieder einmal aus Öster­reich. Im Pavillon von Film Austria ist alles gut

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Der Doku­men­tar­film über Schlin­gen­sief von Bettina Böhler weckt wunder­bare Erin­ne­rungen, Ausschnitte mit Alfred Edel, Dietrich Kuhlbrodt, alte Super 8 Filme aus der Kindheit. Die Eltern wollten eigent­lich sechs Kinder, bekamen aber nur eins. »Dann bin ich eben diese sechs Kinder.« sagte Schlin­gen­sief.

Seine Methode wird mit dieser Frage beschrieben: Was passiert, wenn man Dinge über­ein­ander legt und inein­ander legt, die nichts mitein­ander zu tun haben.

Ein WDR-Redakteur bei der Abnahme des ersten gemein­samen Films sagte zu Schlin­gen­sief: »Du wirst niemals einen Menschen lieben können.
Die HFF München hat Schlin­gen­sief zweimal abgelehnt.
Film als Über­for­de­rung. Kunst als Gegengift. Für den Apothe­kers­sohn war das alles nur eine Frage der Dosis.«

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Es ist einfach, Schlin­gen­sief heute zu lieben, denn Schlin­gen­sief ist tot. Es war schwer, ihn zu lieben, als er noch lebte, zumindest für sehr viele Spieß­bürger, Mora­listen und Main­stream-Anhänger, für alle, die die sich heute empören über Roman Polanski, die sich empören über Ben Gibson den dffb-Direktor, für all dieje­nigen, die sich heute darüber empören, dass ein Film wie »DAU«, eine Art Stali­nismus-Big-Brother insze­niert und die Erfahrung des Stali­nismus nach­emp­findet, und die sich wundern, dass der Stali­nismus nicht politisch korrekt ist, für alle die sich darüber wundern, dass es im Berlin des Alfred Döblin und dem Reload seiner Roman­vor­lage keine Frauen gibt, die sich so benehmen, wie man das im schwarz-grünen Milieu von Berlin Mitte gerne hätte, dass da die Frauen vor allem Huren sind – alle, die sich über so etwas empören, haben sich früher auch über Christoph Schlin­gen­sief empört, und heute sitzen sie in diesem Film in der Berlinale und ergötzen sich und sagen »Christoph, wir brauchen dich!«

Im Augen­blick bekommt das Ressen­ti­ment der Spieß­bürger, bekommt der Mora­lismus des Main­stream viel zu viel Stimmen, viel zu viel Aufmerk­sam­keit und leider Gottes vor allem auch in den öffent­lich-recht­li­chen Medien.

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Nehmen wir mal diesen Twit­ter­text von 3sat Kultur­zeit. Ich zitiere: Dass, was Carlo Chatrian der neue künst­le­ri­sche Leiter verspro­chen hat, nämlich mehr verschie­dene Perspek­tiven und Diver­sität mit rein­zu­bringen, das sieht man tatsäch­lich. Viele Filme erzählen Geschichten von Unter­drückten, von Ausge­beu­teten, von Menschen mit Behin­de­rungen, und das durchaus aus aus ihrer auch aus ihrer Perspek­tive.
Wirklich ärgerlich waren die Filme der alten Regie-Haudegen Abel Ferrara »Siberia« mit Willem Dafoe und »Das Salz der Tränen« von Philippe Garrel. Das sind Filme wie vor 50 Jahren – die sich immer noch um den gleichen zwei­felnden feigen Helden drehen, der sich nicht entscheiden kann zwischen den Frauen, dafür dann aber doch an ziemlich viele ran darf. So plappert die Kultur­zeit-Frau.

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Wer schreibt diese Texte? Und wer kommt auf so was? Da könnte man ja auch einen Kirchentag besuchen, um solche Perspek­tiven zu hören und zu sehen. Die Frage ist aller­dings auch, warum uns diese Themen überhaupt inter­es­sieren sollten. Was uns diese Perspek­tiven erzählen sollten? Warum es inter­es­sant ist, wenn wir von den Ausge­beu­teten hören, aus der Perspek­tive der Ausge­beu­teten und von den Behin­derten aus der Perspek­tive der Behin­de­rung. Die Frage ist vor allem: Was hat das eigent­lich mit einem Kunst­fes­tival zu tun? Es ist doch eigent­lich nur ein Offen­ba­rungseid, eine Kapi­tu­la­tion vor dem Zeitgeist und vor den Inhalten, eine Kapi­tu­la­tion der Ästhetik und des Stil­ge­fühls. Eine Kapi­tu­la­tion insbe­son­dere auch der Kunst­kritik, die überhaupt keine Kriterien für sich selber hat, und sich auch nicht die Mühe macht, welche aufzu­stellen oder an ihnen zu arbeiten, weil das Aufstellen solche Kriterien natürlich auch nicht so einfach ist.

Was einfacher ist, das sind plakative Gefühls­state­ments wie dies, dass man auf Seiten der Unter­drückten steht, der Behin­derten – das ist erst recht einfach, wenn man eine unbe­hin­derte und unun­ter­drückte Frau ist, die bei 3sat eine festen Job hat. Viel­leicht wäre es wichtiger, dass diese Frau einmal nicht die Unter­drü­ckung anderer kriti­sieren würde, sondern dass sie uns etwas über ihre eigenen Arbeits­be­din­gungen erzählen würde. Dass sie uns etwas erzählen würde, darüber, welche Menschen sie bei ihrem Karrie­reweg hinter sich gelassen hat es wäre viel inter­es­santer, von solchen Leuten wie ihr etwas über den bürger­li­chen Main­stream des Jour­na­lismus zu erfahren.
Der Tweet hat aller­dings auch nur sechs »gefällt mir«-Angaben, insofern kann man den teuer mit öffent­li­chen Geldern finan­zierten »3sat Kultur­zeit«-Tweet mal voll vergessen. Viel­leicht sollte sich die 3sat Redaktion ein Beispiel an artes­hocks arteshots nehmen. Da geht es nämlich um Kunst und um Kultur und wenn man »Kultur­zeit« heißt, und nicht »Moralzeit«, dann sollte doch die Kultur im Zentrum stehen.

(to be continued)