70. Berlinale 2020
Durch die Wand |
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Berlin Alexanderplatz: Mieze und Francis / Franz | ||
(Foto: © Stephanie Kulbach/2019 Sommerhaus/eOne Germany) |
»Während man in den ästhetischen Teezirkeln Berlins über den heruntergekommenen Ritter die Nase rümpfte, fand ich, in einer kleinen Harzstadt, ein wunderschönes Mädchen, welches von Fouqué mit entzückender Begeisterung sprach und errötend gestand, daß sie gern ein Jahr ihres Lebens dafür hingäbe, wenn sie nur einmal den Verfasser der ›Undine‹ küssen könnte. – Und dieses Mädchen hatte die schönsten Lippen, die ich jemals gesehen. Aber welch ein wunderliebliches Gedicht ist die ›Undine‹! Dieses Gedicht ist selbst ein Kuß.«
Heinrich Heine: »Die Romantische Schule«
20.02.2020 – Gleich zum Auftakt, kurz vor der Berlinale-Eröffnung hat Kulturstaatsministerin Grütters den deutschen Film kritisiert. Das ist natürlich nie falsch.
Man müsse selbstkritisch sein, sagte die CDU-Politikerin der Rhein-Neckar-Zeitung. Es sei noch nie so viel Geld für Filmförderung ausgegeben worden wie heute. Dennoch gebe es zu wenige erfolgreiche deutsche Filme.
Frau Grütters redet gern von Selbstkritik. Sie meint nur nie sich selber damit.
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24.02.2020 – »Was ist das geringere Übel? ›Das Boot‹ oder ›Tatort‹?« fragt mich der zuletzt erfolgreiche Regisseur. Natürlich »Tatort«, sage ich.
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26.02.2020 – »Da steht mein Franz und fragt sich: ›Was tun? Soll ich gehen, soll ich bleiben?‹ Als wenn ihn einer in'nen Teig geschmissen hätte und nu kriegt er das Zeug nicht los. Er möchte fort, aber es geht nicht. Franz, man hat dich reingelegt.«
Das ist ein Ton im deutschen Film, wie man ihn seit vielen Jahren nicht gesehen hat: Episch, mit langem Atem und Geduld, ein Ton, der sich nicht heranschmeisst an die Zuschauer, der auch nicht Angst hat vor ihnen, der sie nicht belehren will. Ein Ton der über sich hinausblickt, biblisch ist, mythisch, aber realistisch, und jedenfalls nie romantisch oder verkitscht.
Es ist expressionistische Ton von Alfred Döblin und seinem Jahrhundertroman »Berlin Alexanderplatz«. Aber es
ist auch der Ton von Burhan Qurbani. Qurbani, nach seinem Debüt Shahada 2008 und einem weiteren Film nun zum zweiten Mal im Berlinale-Wettbewerb, hat Döblins Vorlage in die Gegenwart verpflanzt, aktualisiert, auch verpoppt, ohne ihr aber etwas von ihrer archaischen Kraft zu nehmen, ihrem Fremdartigen. Qurbani modernisiert Döblin, aber er beraubt ihn nie seines epischen Atems, er behält die
mythische Komponente ebenso bei, wie die expressionistische Sprache.
Besonders einfallsreich und schlüssig ist dabei der Kniff, Mieze zur Erzählerin zu machen, die große Liebe von Franz Biberkopf, die Hure des Babylon Berlin, die von sich selber sagt, sie sei nicht aus Zucker, sie sei aus Marmor.
Jella Haase ist in dieser doppelten Funktion der Gravitationspunkt des Films. Zusammen mit Albrecht Schuch als Reinhold, der Teufel und Gegenspieler im Leben von Franz Biberkopf. Sein Reinhold ist ein Unhold, ein Verführer mit dem Charme des Irrsinns.
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Hauptfigur Franz heißt hier eigentlich Francis, ein Afrikaner, der als Flüchtling nach Berlin kam,. sich als »Sans-papiers« ohne Passdokumente auf illegalen Baustellen verdingt, und dann von Reinhold für Drogendeals und Schlimmeres angeheuert wird, und in das Dunkel der Großstadt Berlin eintaucht. Aber innerlich ein guter Naivling, ein Lazarus. Gespielt vom Brasilianer Welvet Bungué.
Dies ist ein weiterer großer Kniff des Regisseurs: Ein Afrikaner, ein Flüchtling, ein Schwarzer ist Franz Biberkopf, nicht mehr ein proletarischer Arbeiter aus den 20er Jahren. So aktualisiert er seinen Stoff. So macht Quarbani aus »Berlin Alexanderplatz« eine Geschichte des Kampfes um Anerkennung und Würde.
Er zeigt Menschen eines bunten Deutschland, die nicht länger gegen die Wand prallen, sondern durch sie hindurchbrechen.
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So wird die Geschichte von Franz zur Geschichte aus einem Neuen Deutschland, das so Multi-Kulti ist, wie das Berlin der zwanziger Jahre, in dem Döblins Roman spielt. Nur für die Rechtsextremisten von heute ist das eine Freak-Show – was Qurbani ironisch aufgreift.
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Hervorzuheben sind Qurbanis Mitarbeiter: Ein junges Team um die »Sommerhaus«-Produzenten Jochen Laube und Fabian Maubach, das mit einem jungen Zugang belegt, wie frisch und unverstaubt Döblins Stoff ist: Etwa die Filmmusikerin Dascha Dauenhauer, der Kameramann Yoshi Heimrath. Und die Montage von Phillipp Thomas, die adäquat Döblins Montagetechnik auf die Leinwand überträgt. Eine tolle Schnittfolge ist beispielsweise die Szene, in der Francis und Mieze jeweils allein in ihrem Apartment umherstreifen – doch ihre Bewegungen so aufeinander abgestimmt sind, dass es ist, als wären sie zusammen im Zimmer.
So ist dies ein ganz ausgezeichneter Film und ein Favorit auf höchste Auszeichnungen bei dieser Berlinale. Spätestens mit diesem Werk beweist Qurbani, das er einer der wichtigsten Filmemacher des aktuellen deutschen Gegenwartkinos ist.
Dieser Film hat einen epischen Atem. Und er erzählt vom Deutschland der Gegenwart. Wer hätte das gedacht?
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28.02.2020 – Vielleicht war das sogar ein ganz typisches Berlinale Erlebnis: Zum ersten Mal war ich ins »Cubix« gefahren, das neue Berlinale-Kino, das diesmal mehr schlecht als recht das komplett geschlossene achtsälige »Cinestar«-Kino am Potsdamer Platz ersetzen musste. Dort im Cubix lief ein Film, den ich unbedingt sehen wollte: Speer Goes to Hollywood über den Naziarchitekten und
Rüstungsminister Hitlers.
Die sehr zuvorkommende und hilfsbereite Presseabteilung der Berlinale, bzw. das Protokoll-Büro hatte mir, nachdem alle Presse-Karten vergriffen waren, extra noch eine Karte besorgt. Ich war rechtzeitig da, allerdings tatsächlich nicht zehn Minuten vorher, auch nicht fünf Minuten vorher, sondern drei Minuten. Mit mir sechs weitere Karteninhaber. Wir standen in einer eigenen Reihe. Die Mitarbeiter des »Cubix«, wie sich auf Nachfrage herausstellte,
allesamt Berlinale-Mitarbeiter, nicht Kinomitarbeiter ließen uns warten und sagten, es dauere einen Moment, die »Saal-Chefin« sei gerade im Saal, und gucke nach, wie viele Karten beziehungsweise Plätze noch frei seien. Nach fünf Minuten, also nun drei nach kam die »Saal-Chefin« tatsächlich und erklärte, es seien keine weiteren Plätze mehr frei. Protestieren half nichts, Wut und Ärger kumulierten und man hätte sich fast zu schlimmeren Taten und Worten hinreißen lassen, aber da war ja
noch die Erziehung und andere zivilisatorische Restbestände davor.
Es wurden also mindestens sieben Karteninhaber weggeschickt, nur weil man berlinaleseits den Saal bereits vor Beginn des Screenings aufgefüllt hatte. Nun ist es natürlich vollkommen richtig, einen Saal aufzufüllen, aber vielleicht besser nicht schon viele Minuten vor der Anfangszeit des Films. Und genauer als genau, also mit dem Gestus irgendwelcher Postbeamter, die um Punkt 18 Uhr die Tür
abschließen. In normale Kinos darf man übrigens jederzeit, wenn man eine Karte gekauft hat, später kommen. Das gehört zur traditionellen Kinokultur, aber zu glauben, das sei nicht längst vergessen, ist wohl zuviel verlangt,
Vollkommen unangemessen ist das auch angesichts der Stimmung eines Filmfestivals, wo man halt spontan und fix von Kino zu Kino hoppt.
Schließlich ist – apropos »Publikumsfestival« – noch zu bemerken, dass hier Menschen, die teilweise im
Gegensatz zu mir sich ziemlich lange angestellt hatten, um überhaupt eine Karte zu kriegen und die diese auch mit 12 Euro überdurchschnittlich teuer bezahlt hatten, enttäuscht wurden. Ich war allerdings auch enttäuscht.
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Erst ein paar Tage später nach Berlinale-Schluss linderte sich das, als mir die Rechteinhaber des Films dankenswerterweise eine Sichtungsmöglichkeit verschafft haben. Merci!