06.02.2020
Cinema Moralia – Folge 210

Weimarer Verhält­nisse...

Von Caligari zu Hitler
Rüdiger Suchslands Von Caligari zu Hitler
(Foto: Realfictionfilme)

»Caligari«, »Nerven«, Politische Seuchenfilme und anderes zur Stunde, die es geschlagen hat – Cinema Moralia, Tagebuch eines Kinogehers, 210. Folge

Von Rüdiger Suchsland

»In der Präten­tion des Profes­sors liegt etwas tief Lächer­li­ches. Was riskieren wir? Eine schlechte Rezension durch einen anderen Professor. Aber das ist kein sehr großes Lebens­ri­siko. Der Künstler riskiert seine ganze Hoffnung seine spes humana. Ein schlechtes Kunstwerk ist etwas selbst­mör­de­risch Gefähr­li­ches.«
George Steiner, geboren 1930, gestorben am 4. Februar 2020

»Den größten Erfolg erzielten wir in Thüringen. Dort sind wir heute wirklich die ausschlag­ge­bende Partei. ... Die Parteien in Thüringen, die bisher die Regierung bildeten, vermögen ohne unsere Mitwir­kung keine Majorität aufzu­bringen.«
Adolf Hitler, am 02.02.1930

»Oh my god. What‘s that?« – »Should I call anyone?« – »Call everyone.«
Aus: »Contagion« von Steven Soder­bergh

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Es ist bitter aktuell geworden, auf das Kino der Weimarer Republik zu blicken und über »Weimarer Verhält­nisse« zu sprechen. Beides werde ich tun, lange geplant an diesem Donnerstag und gleich doppelt dann morgen, am Freitag, jeweils in Heidel­berg.

Es geht heute eher politisch los, in der Friedrich-Ebert-Gedenks­tätte (nicht zu verwech­seln mit der Ebert-Stiftung). Der erste Reich­sprä­si­dent der Weimarer Republik kam nämlich aus Heidel­berg. Dort werde ich Ausschnitte aus meinem Film »Von Caligari zu Hitler. Das deutsche Kino im Zeitalter der Massen« zeigen, und darüber sprechen, ob die wieder in Mode gekommene Metapher von den Weimarer Verhält­nissen ange­messen ist, ob der Satz »Bonn ist nicht Weimar« auch für die »Berliner Republik« noch gilt. Um die Antwort sehr grob vorweg­zu­nehmen: Ich glaube, er gilt nicht mehr – was ande­rer­seits nicht heißt, dass die Rede von den »Weimarer Verhält­nissen« nicht mitunter verein­fa­chender und inter­es­se­ge­leiteter Unsinn ist.
Diesen Donnerstag ab 19 Uhr – mit Film­aus­schnitten und anschließendem Publi­kums­ge­spräch.

Morgen dann gibt’s zwei Filme/Film­ge­spräch komplett im Heidel­berger Programm­kino/Karls­tor­kino.
Zunächst um 17.00 Uhr den Film Von Caligari zu Hitler (diesmal komplett).
Dann ab 19.30 Uhr »Das Cabinet des Dr. Caligari« von Robert Wiene mit Gele­gen­heit zur Diskus­sion und der Präsen­ta­tion weiterer Film­aus­schnitte (open end...)

Der Anlass zu der Sonder­ver­an­stal­tung ist das 25-jährige Jubiläum des Karls­tor­kinos.

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Die Emotio­na­li­sie­rung des Poli­ti­schen, der Verlust der Nüch­tern­heit, Hyste­ri­sie­rung und Infan­ti­li­sie­rung der Öffent­lich­keit und die Zerset­zung der hete­ro­genen, diversen Gesell­schaft in Lager und Homo­ge­ni­täts-Blasen – das ist es, was mit »Weimar« und »Weimarer Verhält­nissen« gemeint ist.
Ihre aktuelle Gestalt ist der gesell­schaft­liche Wandel und Entwick­lungen, die unter dem nicht sehr präzisen Marker »Political Correct­ness« subsum­miert werden. Man muss aufpassen, dass man bei diesem Schlag­wort nicht auf den Zug der Rechts­extremen aufspringt. Umgekehrt dient das aber schnell einer reak­ti­onären Linken oder naiven Millen­nials als Totschlag­ar­gu­ment, um Einwände zu ersticken.
Wie kaputt die Debat­ten­kultur, und wie verfahren der Zustand der Öffent­lich­keit auch gerade in liberalen Gesell­schaften ist, zeigt sich an »#MeToo«.

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Jetzt hat sich hier eine zu Wort gemeldet, die in »#MeToo«-Fragen auch nicht gerade ihre »finest hour« hatte, dafür aber so bitter bestraft wurde, wie kaum eine andere: Asia Argento.
»#MeToo ist dumm, fake und reak­ti­onär geworden«, sagte die Schau­pie­lerin/Regis­seurin jetzt in einem Interview mit »Le Monde«. Der Kampf gegen Sexual-Verbre­chen und Miss­brauch sei durch Mani­pu­la­tionen unter­mi­niert worden, so Argento. Was als Kampf gegen Macht­miss­brauch begonnen habe, sei zu etwas komplett anderem geworden.
»#MeToo ist ein Hollywood-Produkt geworden: Etwas dummes, verlo­genes und reak­ti­onäres: Ein Badge, ein Abend­kleid.«

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Reak­ti­onäre Mora­li­sie­rung aller­orten. Gerade sind im Kino und um es herum wieder lauter Heilige unterwegs: Greta Gerwig und Terrence Malick, um mal die Promi­nen­testen zu nennen. Auch ihre Figuren stehen auf unan­ge­nehme Weise immer für das Richtige, so sehr, dass man es gar nicht mehr angucken kann.
Das Moral­pre­digen ist in, leider auch in den Filmen. Gute Frauen, gute Wider­s­tändler, alles Vorbilder: Die Frauen, die Figuren, die Schau­spieler. Es packt einen der Ekel.

Im Kino geht es aber nicht um Heilige und Propheten. Sondern um die Apostaten. Es geht nicht um das Reine, sondern um das Schmut­zige und Unreine. Perfek­tion ist der Terror, Imper­fek­tion ist die Tugend. Hölle statt Himmel: Gute Regis­seure sind Judas ähnlicher als Jesus.

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Auch sehr aktuell ist es, mal wieder ein paar Filme zum Thema Seuche anzu­schauen. Aus Weimarer Zeiten würde ich da F.W.Murnaus Nosferatu empfehlen, in dem die Ratten das sinkende Deutsch­land verseu­chen.
Ansonsten ist natürlich Steven Soder­berghs Contagion der Film der Stunde, nicht nur weil Holly­woods Vorzeige-Veganerin Gwynneth Paltrow in diesem Film als aller­erste stirbt, was natürlich nichts mitein­ander zu tun hat.
Etwas vergessen ist dagegen Outbreak von Wolfgang Petersen. Alle Arten des Zombie­genres bieten sich natürlich auch an, wenn man erstmal auf den Geschmack gekommen ist. Am passendsten viel­leicht World War Z.
Mich wundert es, dass darüber noch keiner geschrieben hat.

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Gute Seuchen-Geschichten stellen unser gesamtes Gesell­schafts­ge­füge infrage. Die Seuche funk­tio­niert wie das Leben: Dumm und ungelenkt, aber massiv. Durch keine soziale Bindung, ob Emotionen oder Vernunft gehemmt. Man kann mit ihr auch nicht kommu­ni­zieren. Genau deshalb ist »Seuche«, »Epidemie«, »Pandemie«, oder ganz klassisch »Die Pest« auch ein arche­ty­pi­scher Popmythos: Schreck­ge­spenst und Projek­ti­ons­figur zugleich. Ein bisschen, man muss das so sagen, wie die AfD.
Ähnelt Bernd (oder Björn oder Bastian?) Höcke nicht in seiner Schlak­sig­keit auch ein wenig Nosferatu?

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Wer heute noch ange­messen und kennt­nis­reich über Kinofilme schreiben will, der muss Serien anschauen. Zumindest gele­gent­lich.
Dieje­nigen unter den selbst­er­nannten »Cine­philen« (und ich meine hier ausdrück­lich nicht den namens­glei­chen »Haupt­ver­band Cine­philie«) und »Kino-Akti­visten«, die sich zu schade sind für Serien, Fernsehen und Streams, die können zum Beispiel auch über Paula Beer übernächste Woche als Schwimm­bad­jung­frau in Christian Petzolds neuestem Berlinale-Märchen »Undine« nichts Substan­ti­elles aussagen, wenn sie nicht »Bad Banks« gesehen haben.
Das gibt es jetzt in der ZDF-Mediathek – eine Alter­na­tive, wenn im Kino um die Ecke wieder nur Senio­ren­filme und Wellness-Arthouse läuft.

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Man kann es aber auch über­treiben: In der »Süddeut­schen« stehen unter der Rubrik »Neue Filme« neuer­dings auch Werke, die bei Netflix heraus­kommen. Als ob es nicht schon genug Filme im Kino gäbe. Aber warum? Und warum nicht auch die Filme von Amazon und den anderen Streaming-Diensten. Warum nicht die vom ZDF. Das ist alles hoch­pro­ble­ma­tisch, gerade auch moralisch.
Und dazu dann noch die völlig über­trie­benen Hymnen: »Schon jetzt ein Klassiker« weiß der Kriti­ker­papst. Na dann – aber hat er den Caligari schon mal gesehen? Und dessen noch viel besseres Münchner Pendant Nerven in der vom Film­mu­seum restau­rierten Fassung, zur Not auf DVD?

(to be continued)