12.03.2020
Cinema Moralia – Folge 211

Das Leben ist kein Zombie­film

Diagonale
Schmerzlich werden wir dich dieses Frühjahr vermissen: geliebte Diagonale in Graz. Abgesagt
(Foto: Diagonale Graz)

Oder doch? Corona und die Folgen für das Kino, nackte Fakten und Ideologie – Cinema Moralia, Tagebuch eines Kinogehers, 211. Folge

Von Rüdiger Suchsland

»Er träumte, die ganze Welt sei zu einer furcht­baren neuen fremden Plage verur­teilt, die aus den Tiefen Asiens nach Europa gekommen sei.«
Raskol­nikow in Dosto­jew­skis »Schuld und Sühne«

»Das moderne Leben gewöhnt uns daran, mit dem inter­mit­tie­renden Bewusst­sein mons­tröser undenk­barer – aber wie man uns sagt, recht wahr­schein­li­cher – Kata­stro­phen zu leben.«
Susan Sontag

»Life is what happens when you're busy making other plans.«
John Lennon

Wieder mal Panik auf der Titanic. Corona gönnt der »German Angst« eine will­kom­mene Erleich­te­rung, darum muss das anal­fi­xierte Volk der Germanen auch vor allem Klopapier einkaufen, um die Folgen wegzu­wi­schen.
Und Dosen­ra­violi, um nach­zu­legen. Und Gips, Kantholz und den Stachel­draht im Baumarkt, um am coro­na­si­cheren Garten­bunker weiter­zu­bauen.

Le vertige allemand – die Deutschen lieben es, sich zu ängstigen, zu gruseln, Geister zu beschwören. Deutsche (nicht: schwarze) Romantik ist auch eine Schmier­in­fek­tion...

Medi­en­wis­sen­schaftler wie Marcus Stig­legger weisen zwar (auf Facebook) darauf hin, dass es noch nie »eine so medi­en­ge­machte Panik wegen eines Virus­aus­bruchs gab«.
Aber es hilft ja nichts.
Die Grippe, von der die aller­meisten ja zum Glück gar nichts merken, und auch die schwer Infi­zierten größ­ten­teils wieder genesen, wird in der Sicher­heits­ge­sell­schaft mit einer Zombie-Apoka­lypse verwech­selt.

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Buchmesse in Leipzig wird abgesagt, Fußball­spiel in Leipzig nicht; Kultur­ver­an­stal­tungen werden geschlossen, Kauf­häuser nicht; Theater werden dicht­ge­macht, Großraum­büros nicht; Film­fes­ti­vals werden abgesagt, ICE-Züge nicht – jetzt wird es klar, was in diesem Staat entbehr­lich ist und was nicht; damit ist auch klar, was der Panik geopfert werden darf und was nicht.

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Vor drei Wochen schon hatten wir auf poli­ti­sche Seuchen­filme hinge­wiesen. Zu diesen spontanen Notizen sind weitere Einfälle dazu­ge­kommen: Wer Meta­phern­futter im Kino sucht, dem würde ich unbedingt [REC] empfehlen, Jaume Bala­gueros packenden Horror­film, der sehr realis­tisch mit einer Viren­in­fek­tion und der Quaran­täne eines Miets­hauses beginnt, bevor er sich in spiri­tu­elle Etagen hoch­schwingt. Litera­ri­scher und völlig unent­behr­lich ist natürlich Luchino Viscontis Thomas-Mann-Adaption Tod in Venedig. Wer sich in den gleichen Gefilden zum Thema Krankheit weiter­be­wegen will, dem kann man trotz kleinerer Einschrän­kungen auch Hans W. Geißen­dör­fers Der Zauber­berg empfehlen. Thomas Mann war ja sowieso der Ansicht, ohne Krankheit sei keine Krea­ti­vität möglich.
Viel weniger bekannt ist dagegen, dass auch Albert Camus' Roman »Die Pest« verfilmt wurde, und das gleich mehrfach: Erstmals ausge­rechnet in Hongkong, gut dreißig Jahre vor SARS. Yesterday Today Tomorrow heißt der 1970 entstan­dene Film von Kong Lung, einem Routinier, der auch als Schau­spieler arbeitete, und zuerst in den Sech­zi­gern durch A Better Tomorrow bekannt wurde, dessen Remake dann John Woo welt­berühmt machte.
1992 versetzte der Argen­ti­nier Luis Puenzo die Handlung in eine nicht näher benannte latein­ame­ri­ka­ni­sche Stadt. William Hurt spielt die Haupt­rolle, in weiteren Auftritten sind Sandrine Bonnaire, Jean-Marc Barr und Robert Duvall zu sehen.

Nicht vergessen darf man in diesem Zusam­men­hang auch Pasolinis Decameron nach Bocc­ac­cios spät­mit­tel­al­ter­li­chem Erzähl­band, in dem eine Handvoll Menschen vor der Pest aufs Land flieht – um sich so wie heute manche Deutschen zuhause zu verschanzen, um sich nicht mit dem Coro­na­virus anzu­ste­cken.

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Bocc­ac­cios »Deca­me­rone« dient auch dem Kultur­theo­re­tiker Bazon Brock als Beispiel – und zwar positiv. Kollek­tive Abschot­tung sei eine Chance für die Krea­ti­vität, argu­men­tierte der Mann dieser Tage im Deutsch­land­funk. »Statt Panik also Konzen­tra­tion nach innen, die dann auch zur Beru­hi­gung führt, nicht zur Still­stel­lung, aber eben zur Beru­hi­gung unter der Vorgabe: Aus dieser Situation lässt sich für uns etwas Produk­tives machen. ... Diese Balance zwischen Panik­ge­fühl durch Einge­schlos­sen­sein, Behin­dert­sein und ande­rer­seits, sich dadurch zu konzen­trieren, ist etwas Fantas­ti­sches.« Entschei­dend sei aller­dings, »die Betei­ligten zusam­men­zu­führen zu einer Art von gemein­samem Projekt, das alle tatsäch­lich einbindet, und durch diese Einbin­dung in das Projekt die entspre­chende Dynamik oder seelische Stärke oder Wirkungs­stärke erzeugt«.
Wahr­schein­lich würde Brock das gerne selber tun. Im Zwei­fels­fall ist aber wieder Mutti Merkel und Nanny-Staat gefordert.

Alter­na­tivlos ist das nicht. Die Alter­na­tive wäre: »Keine Opern spielen, mal kein Theater mehr, keine Galerie zu betreiben et cetera, um den Leuten klar­zu­ma­chen, was sie eigent­lich davon haben, dass überall dieses kultu­relle Angebot vorhanden ist.«
Oder viel­leicht mal keine Film­för­de­rung? Auch so könnte man den Dauer­be­trieb des Belang­losen in Frage stellen.

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Keine Frage: Corona nervt. Wie der Brexit. Corona ist eine Tatsache, aber vor allem ist sie eine Sau, die gerade durchs mediale Dorf getrieben wird, und dies, auch wie der Brexit, voraus­sicht­lich noch eine ganze Weile.
Corona geht alle an, aber die Epidemie betrifft doch nur außer­or­dent­lich wenige. Ein Reali­tät­scheck: 0,2-0,4 Prozent aller unter 50-jährigen unter den Infi­zierten (!) sterben, unter den Infi­zierten 50-60-jährigen sind es auch nur 1,3 Prozent. Erst bei den über 70-jährigen gehen die Zahlen signi­fi­kant hoch. Und das sind die Statis­tiken aus China – im besser ernährten, besser versorgten Europa dürften die Zahlen noch besser ausfallen.
Man sollte also allen­falls Eltern­be­suche in naher Zukunft etwas redu­zieren.

Menschen ertrinken im Mittel­meer, erfrieren in Flücht­lings­la­gern in Europa, oder verhun­gern in Afrika: Jedes Jahr etwa neun Millionen Menschen, davon über drei Millionen Kinder. Deswegen wurde aber noch nie ein Film­fes­tival oder ein Fußball­spiel abgesagt. Oder sie werden im Jemen und in anderen Teilen des Nahen Ostens von Bomben und Granaten zerfetzt, die über Umwege in deutschen Fabriken herge­stellt werden. Weil das offenbar auch in Pande­mie­zeiten system­re­le­vant ist, werden diese Fabriken offen­ge­halten.
Aber lassen wir das mit der Moral. Es geht um Fakten: Menschen sterben. Auch in Zukunft.

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An diesen Fakten gemessen ist alles komplett über­trieben, was auf Corona proji­ziert wird. 20.000 Grip­pe­tote gibt es pro Jahr. Allein in Deutsch­land. Ich weiß, ich weiß: Es geht nicht darum, allein zu überleben, sondern gemeinsam.

Aber dieser schöne, scheinbar alters­gnä­dige Satz ist ange­sichts der nackten Fakten Ideologie.

Denn die gefähr­lichsten Viren sind Angst und Panik. Und auch hier ist Corona ein Spiegel unseres Zeital­ters: Eines Zeital­ters, in der der Ausnah­me­zu­stand zur Regel wird, in der unser irrsin­niger Sicher­heits­trieb (irrsinnig, denn wir leben noch nie so sicher und so lang, wie heute) immer weitere Unsi­cher­heiten gebiert.
Noch mehr ziehen wir uns jetzt in die Nuss­schalen des Privaten zurück, neoli­be­ra­li­sieren unsere Existenz, verlassen und meiden die Öffent­lich­keit, und damit den ur-repu­bli­ka­ni­schen Raum. Im Ausnah­me­zu­stand streichen wir das Lebens­mittel des Gesell­schaft­li­chen, die Kultur, gehen nicht mehr ins Kino, aus Angst uns bei Mitmen­schen anzu­ste­cken.

Statt­dessen lassen wir uns von der Seuche isolieren, sehen Filme isoliert in Strea­ming­diensten, die euphe­mis­tisch »Heimkino« genannt werden, verbar­ri­ka­diert in Berlin-Mitte und München-Schwabing hinter Schüt­zen­gräben aus Dosen­ra­violi und Klopa­pier­rollen. Die Angst ums Sterben verein­zelt uns.
Dabei ist das ein Denk­fehler: Wir müssen uns konta­mi­nieren, um überleben zu können!

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»Hunde, wollt ihr ewig leben?«
Nicht-verbürgter, aber Friedrich dem Großen zuge­schrie­bener Ausruf bei der Schlacht von Kolin.

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Als hätten wir alle auf Corana gewartet. Als erlöste uns der Virus aus der Not der Angst­frei­heit. Endlich Gerüchte, die Hysterie, Kurs­stürze an den Akti­en­märkten. Endlich ein Grund nervös zu sein, zu jammern und zu klagen, das Zimmer nicht mehr zu verlassen.

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Aber wie ernst oder unernst man es auch immer nehmen will – es ist gar keine Frage: Corona sorgt für massive Kolla­te­ral­schäden, die uns alle betreffen. Nicht zuletzt uns Kino­lieb­haber. Dass Corona die Kinos treffen wird, ist schon seit ein paar Wochen klar. So wurde etwa der Start des neuen James-Bond-Films um ein halbes Jahr verschoben. Mit weiteren Start­ver­schie­bungen ist zu rechnen, so komplett irra­tional das alles auch ist.
Nun trifft es aber auch die Produk­tionen. Wie Steffen Schmidt-Hug in seinem neuesten »Berufs­Brief« mitteilt, hat die »Bavaria Fiction« die gerade in Italien ange­setzten Dreh­ar­beiten für »L’eau de vie« abgesagt. Weitere ähnliche Absagen werden folgen.
Damit brechen Gagen und Honorare weg. Schmidt-Hug weist auf Entschä­di­gungs­rechte hin.

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Noch schwerer wiegen die Folgen für die Film­fes­ti­vals. Denn hier wird ein Jahr lang auf den Erfolg eines sehr punk­tu­ellen Ereig­nisses hinge­ar­beitet. Durch eine komplette Absage sind Film­fes­ti­vals (und auch sonstige Kultur­ver­an­stal­tungen aller Art) in ihrer Existenz akut gefährdet. Sie können sich diese Absagen nicht leisten, Absage wäre gleich Abschaf­fung. Und die Frage ist, ob nicht mancher Kultur­po­li­tiker den Kollaps einer Kultur­ver­an­stal­tung billigend in Kauf nimmt, um den lästigen Kost­gänger loszu­werden.
Von Kultur-Rettungs­pa­keten haben wir jeden­falls noch nichts gehört. Sie stehen aber an. Denn Museen, Konzert­säle und Kinos leeren sich.
Während die Berlinale um zwei Wochen an einem derar­tigen GAU vorbei­ge­schrammt ist, wurden mehrere Festivals bereits abgesagt. So etwa die dies­jäh­rige Diagonale, die in 13 Tagen in Graz begonnen hätte. Daniel Sponsel, Festi­val­leiter vom DOK.fest München, das vom 6. bis 17. Mai statt­finden soll, lässt vorsorg­lich wissen: »Wir arbeiten an einem Plan B.«
Das dürfte auch für andere Festivals gelten. Zu denken ist in den wenigsten Fällen an eine zeitliche Verlegung. Eher schon an ein virtuell statt­fin­dendes Festival, also die Online-Akkre­di­tie­rung und Online-Ausstrah­lung der Filme. Das wäre die Probe aufs Exempel einer grund­sätz­li­chen Virtua­li­sie­rung derar­tiger Bran­chen­treffen, und dürfte auch manche Verschwörungs­theorie nähren, nach der die Corona-Gefahren aufge­blasen werden, um der Online- und Compu­ter­in­dus­trie Auftrieb zu verleihen.

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Schon um des Kinos willen muss man gegen die Panik schreiben. Warum muss man eigent­lich Kultur­ver­an­stal­tungen komplett absagen, wenn nur Veran­stal­tungen ab 1000 Teil­neh­mern untersagt sind? Ist eh eine will­kür­liche Zahl. Aber warum nicht wenigs­tens 999 Karten verkaufen? In die einzelnen Kinos gehen in den meisten Fällen sowieso viel weniger Menschen rein. Und die besseren Kinos sind außerhalb von Film­fes­ti­vals auch seltenst ausver­kauft. Wenn es der Bevöl­ke­rungs­be­ru­hi­gung dient, könnte man auch nur jeden zweiten Sitz besetzen, um den Ein-Meter-Sicher­heits­ab­stand zu retten.
Warum gesteht man den freien Bürgern in allen möglichen und unmög­li­chen Fragen die Fähigkeit zu verant­wor­tungs­vollen Entschei­dungen zu, macht es in diesem Fall aber selbst­ver­s­tänd­lich, dass Mami Staat entscheiden muss?

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»Die Epidemien besonders furcht­ein­flößender Krank­heiten lösen immer einen Aufschrei gegen Groß­zü­gig­keit oder Toleranz aus, die nun als Laxheit, Schwäche, Gesetz­lo­sig­keit, Auflösung als – ungesund gelten.«
Susan Sontag: »Aids und seine Metaphern«

(To be continued)