Cinema Moralia – Folge 211
Das Leben ist kein Zombiefilm |
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Schmerzlich werden wir dich dieses Frühjahr vermissen: geliebte Diagonale in Graz. Abgesagt | ||
(Foto: Diagonale Graz) |
»Er träumte, die ganze Welt sei zu einer furchtbaren neuen fremden Plage verurteilt, die aus den Tiefen Asiens nach Europa gekommen sei.«
Raskolnikow in Dostojewskis »Schuld und Sühne«»Das moderne Leben gewöhnt uns daran, mit dem intermittierenden Bewusstsein monströser undenkbarer – aber wie man uns sagt, recht wahrscheinlicher – Katastrophen zu leben.«
Susan Sontag»Life is what happens when you're busy making other plans.«
John Lennon
Wieder mal Panik auf der Titanic. Corona gönnt der »German Angst« eine willkommene Erleichterung, darum muss das analfixierte Volk der Germanen auch vor allem Klopapier einkaufen, um die Folgen wegzuwischen.
Und Dosenravioli, um nachzulegen. Und Gips, Kantholz und den Stacheldraht im Baumarkt, um am coronasicheren Gartenbunker weiterzubauen.
Le vertige allemand – die Deutschen lieben es, sich zu ängstigen, zu gruseln, Geister zu beschwören. Deutsche (nicht: schwarze) Romantik ist auch eine Schmierinfektion...
Medienwissenschaftler wie Marcus Stiglegger weisen zwar (auf Facebook) darauf hin, dass es noch nie »eine so mediengemachte Panik wegen eines Virusausbruchs gab«.
Aber es hilft ja nichts.
Die Grippe, von der die allermeisten ja zum Glück gar nichts merken, und auch die schwer Infizierten größtenteils wieder genesen, wird in der Sicherheitsgesellschaft mit einer Zombie-Apokalypse verwechselt.
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Buchmesse in Leipzig wird abgesagt, Fußballspiel in Leipzig nicht; Kulturveranstaltungen werden geschlossen, Kaufhäuser nicht; Theater werden dichtgemacht, Großraumbüros nicht; Filmfestivals werden abgesagt, ICE-Züge nicht – jetzt wird es klar, was in diesem Staat entbehrlich ist und was nicht; damit ist auch klar, was der Panik geopfert werden darf und was nicht.
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Vor drei Wochen schon hatten wir auf politische Seuchenfilme hingewiesen. Zu diesen spontanen Notizen sind weitere Einfälle dazugekommen: Wer Metaphernfutter im Kino sucht, dem würde ich unbedingt [REC] empfehlen, Jaume Balagueros packenden Horrorfilm, der sehr realistisch mit einer Vireninfektion und der Quarantäne eines Mietshauses beginnt, bevor er sich in spirituelle
Etagen hochschwingt. Literarischer und völlig unentbehrlich ist natürlich Luchino Viscontis Thomas-Mann-Adaption Tod in Venedig. Wer sich in den gleichen Gefilden zum Thema Krankheit weiterbewegen will, dem kann man trotz kleinerer Einschränkungen auch Hans W. Geißendörfers Der
Zauberberg empfehlen. Thomas Mann war ja sowieso der Ansicht, ohne Krankheit sei keine Kreativität möglich.
Viel weniger bekannt ist dagegen, dass auch Albert Camus' Roman »Die Pest« verfilmt wurde, und das gleich mehrfach: Erstmals ausgerechnet in Hongkong, gut dreißig Jahre vor SARS. Yesterday Today Tomorrow heißt der 1970 entstandene Film von Kong Lung, einem Routinier, der auch als Schauspieler arbeitete, und zuerst in den Sechzigern durch A Better Tomorrow bekannt wurde, dessen Remake dann John Woo weltberühmt machte.
1992 versetzte der Argentinier Luis Puenzo die Handlung in eine nicht näher benannte lateinamerikanische Stadt. William Hurt spielt die Hauptrolle, in weiteren Auftritten sind Sandrine Bonnaire, Jean-Marc Barr und Robert Duvall zu sehen.
Nicht vergessen darf man in diesem Zusammenhang auch Pasolinis Decameron nach Boccaccios spätmittelalterlichem Erzählband, in dem eine Handvoll Menschen vor der Pest aufs Land flieht – um sich so wie heute manche Deutschen zuhause zu verschanzen, um sich nicht mit dem Coronavirus anzustecken.
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Boccaccios »Decamerone« dient auch dem Kulturtheoretiker Bazon Brock als Beispiel – und zwar positiv. Kollektive Abschottung sei eine Chance für die Kreativität, argumentierte der Mann dieser Tage im Deutschlandfunk. »Statt Panik also Konzentration nach innen, die dann auch zur Beruhigung führt, nicht zur Stillstellung, aber eben zur Beruhigung unter der Vorgabe: Aus dieser Situation lässt sich für uns etwas Produktives machen. ... Diese Balance zwischen
Panikgefühl durch Eingeschlossensein, Behindertsein und andererseits, sich dadurch zu konzentrieren, ist etwas Fantastisches.« Entscheidend sei allerdings, »die Beteiligten zusammenzuführen zu einer Art von gemeinsamem Projekt, das alle tatsächlich einbindet, und durch diese Einbindung in das Projekt die entsprechende Dynamik oder seelische Stärke oder Wirkungsstärke erzeugt«.
Wahrscheinlich würde Brock das gerne selber tun. Im Zweifelsfall ist aber wieder Mutti
Merkel und Nanny-Staat gefordert.
Alternativlos ist das nicht. Die Alternative wäre: »Keine Opern spielen, mal kein Theater mehr, keine Galerie zu betreiben et cetera, um den Leuten klarzumachen, was sie eigentlich davon haben, dass überall dieses kulturelle Angebot vorhanden ist.«
Oder vielleicht mal keine Filmförderung? Auch so könnte man den Dauerbetrieb des Belanglosen in Frage stellen.
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Keine Frage: Corona nervt. Wie der Brexit. Corona ist eine Tatsache, aber vor allem ist sie eine Sau, die gerade durchs mediale Dorf getrieben wird, und dies, auch wie der Brexit, voraussichtlich noch eine ganze Weile.
Corona geht alle an, aber die Epidemie betrifft doch nur außerordentlich wenige. Ein Realitätscheck: 0,2-0,4 Prozent aller unter 50-jährigen unter den Infizierten (!) sterben, unter den Infizierten 50-60-jährigen sind es auch nur 1,3 Prozent. Erst bei den über
70-jährigen gehen die Zahlen signifikant hoch. Und das sind die Statistiken aus China – im besser ernährten, besser versorgten Europa dürften die Zahlen noch besser ausfallen.
Man sollte also allenfalls Elternbesuche in naher Zukunft etwas reduzieren.
Menschen ertrinken im Mittelmeer, erfrieren in Flüchtlingslagern in Europa, oder verhungern in Afrika: Jedes Jahr etwa neun Millionen Menschen, davon über drei Millionen Kinder. Deswegen wurde aber noch nie ein Filmfestival oder ein Fußballspiel abgesagt. Oder sie werden im Jemen und in anderen Teilen des Nahen Ostens von Bomben und Granaten zerfetzt, die über Umwege in deutschen Fabriken hergestellt werden. Weil das offenbar auch in Pandemiezeiten systemrelevant ist, werden
diese Fabriken offengehalten.
Aber lassen wir das mit der Moral. Es geht um Fakten: Menschen sterben. Auch in Zukunft.
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An diesen Fakten gemessen ist alles komplett übertrieben, was auf Corona projiziert wird. 20.000 Grippetote gibt es pro Jahr. Allein in Deutschland. Ich weiß, ich weiß: Es geht nicht darum, allein zu überleben, sondern gemeinsam.
Aber dieser schöne, scheinbar altersgnädige Satz ist angesichts der nackten Fakten Ideologie.
Denn die gefährlichsten Viren sind Angst und Panik. Und auch hier ist Corona ein Spiegel unseres Zeitalters: Eines Zeitalters, in der der Ausnahmezustand zur Regel wird, in der unser irrsinniger Sicherheitstrieb (irrsinnig, denn wir leben noch nie so sicher und so lang, wie heute) immer weitere Unsicherheiten gebiert.
Noch mehr ziehen wir uns jetzt in die Nussschalen des Privaten zurück, neoliberalisieren unsere Existenz, verlassen und meiden die
Öffentlichkeit, und damit den ur-republikanischen Raum. Im Ausnahmezustand streichen wir das Lebensmittel des Gesellschaftlichen, die Kultur, gehen nicht mehr ins Kino, aus Angst uns bei Mitmenschen anzustecken.
Stattdessen lassen wir uns von der Seuche isolieren, sehen Filme isoliert in Streamingdiensten, die euphemistisch »Heimkino« genannt werden, verbarrikadiert in Berlin-Mitte und München-Schwabing hinter Schützengräben aus Dosenravioli und Klopapierrollen. Die Angst ums Sterben vereinzelt uns.
Dabei ist das ein Denkfehler: Wir müssen uns kontaminieren, um überleben zu können!
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»Hunde, wollt ihr ewig leben?«
Nicht-verbürgter, aber Friedrich dem Großen zugeschriebener Ausruf bei der Schlacht von Kolin.
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Als hätten wir alle auf Corana gewartet. Als erlöste uns der Virus aus der Not der Angstfreiheit. Endlich Gerüchte, die Hysterie, Kursstürze an den Aktienmärkten. Endlich ein Grund nervös zu sein, zu jammern und zu klagen, das Zimmer nicht mehr zu verlassen.
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Aber wie ernst oder unernst man es auch immer nehmen will – es ist gar keine Frage: Corona sorgt für massive Kollateralschäden, die uns alle betreffen. Nicht zuletzt uns Kinoliebhaber. Dass Corona die Kinos treffen wird, ist schon seit ein paar Wochen klar. So wurde etwa der Start des neuen James-Bond-Films um ein halbes Jahr verschoben. Mit weiteren Startverschiebungen ist zu rechnen, so komplett irrational das alles auch ist.
Nun trifft es aber auch die Produktionen. Wie
Steffen Schmidt-Hug in seinem neuesten »BerufsBrief« mitteilt, hat die »Bavaria Fiction« die gerade in Italien angesetzten Dreharbeiten für »L’eau de vie« abgesagt. Weitere ähnliche Absagen werden folgen.
Damit brechen Gagen und Honorare weg. Schmidt-Hug weist auf Entschädigungsrechte hin.
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Noch schwerer wiegen die Folgen für die Filmfestivals. Denn hier wird ein Jahr lang auf den Erfolg eines sehr punktuellen Ereignisses hingearbeitet. Durch eine komplette Absage sind Filmfestivals (und auch sonstige Kulturveranstaltungen aller Art) in ihrer Existenz akut gefährdet. Sie können sich diese Absagen nicht leisten, Absage wäre gleich Abschaffung. Und die Frage ist, ob nicht mancher Kulturpolitiker den Kollaps einer Kulturveranstaltung billigend in Kauf nimmt,
um den lästigen Kostgänger loszuwerden.
Von Kultur-Rettungspaketen haben wir jedenfalls noch nichts gehört. Sie stehen aber an. Denn Museen, Konzertsäle und Kinos leeren sich.
Während die Berlinale um zwei Wochen an einem derartigen GAU vorbeigeschrammt ist, wurden mehrere Festivals bereits abgesagt. So etwa die diesjährige Diagonale, die in 13 Tagen in Graz begonnen hätte. Daniel Sponsel, Festivalleiter vom DOK.fest München, das vom 6. bis 17. Mai stattfinden soll, lässt
vorsorglich wissen: »Wir arbeiten an einem Plan B.«
Das dürfte auch für andere Festivals gelten. Zu denken ist in den wenigsten Fällen an eine zeitliche Verlegung. Eher schon an ein virtuell stattfindendes Festival, also die Online-Akkreditierung und Online-Ausstrahlung der Filme. Das wäre die Probe aufs Exempel einer grundsätzlichen Virtualisierung derartiger Branchentreffen, und dürfte auch manche Verschwörungstheorie nähren, nach der die Corona-Gefahren aufgeblasen
werden, um der Online- und Computerindustrie Auftrieb zu verleihen.
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Schon um des Kinos willen muss man gegen die Panik schreiben. Warum muss man eigentlich Kulturveranstaltungen komplett absagen, wenn nur Veranstaltungen ab 1000 Teilnehmern untersagt sind? Ist eh eine willkürliche Zahl. Aber warum nicht wenigstens 999 Karten verkaufen? In die einzelnen Kinos gehen in den meisten Fällen sowieso viel weniger Menschen rein. Und die besseren Kinos sind außerhalb von Filmfestivals auch seltenst ausverkauft. Wenn es der Bevölkerungsberuhigung
dient, könnte man auch nur jeden zweiten Sitz besetzen, um den Ein-Meter-Sicherheitsabstand zu retten.
Warum gesteht man den freien Bürgern in allen möglichen und unmöglichen Fragen die Fähigkeit zu verantwortungsvollen Entscheidungen zu, macht es in diesem Fall aber selbstverständlich, dass Mami Staat entscheiden muss?
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»Die Epidemien besonders furchteinflößender Krankheiten lösen immer einen Aufschrei gegen Großzügigkeit oder Toleranz aus, die nun als Laxheit, Schwäche, Gesetzlosigkeit, Auflösung als – ungesund gelten.«
Susan Sontag: »Aids und seine Metaphern«
(To be continued)