Cinema Moralia – Folge 212
In Vorbereitung auf harte Entscheidungen |
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Ein dieser Tage viel herbeizitierter Seuchen-Film: Contagion | ||
(Foto: Warner) |
»Keine Atempause. Geschichte wird gemacht. es geht voran!«
Fehlfarben»I believe more than ever that this is a great time to be alive.«
Bill Gates
Sie haben alle reagiert. Kaum ein Verband, kaum eine Organisation, die sich nicht zu Wort gemeldet hat in den letzten zwei Wochen.
Die Filmförderer wollen helfen. Die Kulturstaatsministerin auch. Gut so. Auf der anderen Seite werden Mängellisten geschrieben.
Die Produzentenverbände, die Verbände der Verleiher, die AG Kino geben ihren Mitgliedern einige wertvolle Tipps und Hinweise für Förderungen und Hilfsprogramme. Aber allgemein herrscht Ratlosigkeit.
Alle Beteiligten sollten, wenn sie klug beraten sind, jetzt aufpassen, dass sie keinerlei Geld von den Förderern oder gar der FFA einfordern, sondern nur von den Regierenden und politischen Entscheidungsträgern. Denn mit Film- oder Kinoförderung hat all das nichts zu tun. Es geht nicht um Fördergelder. Es geht um Überlebenshilfe, Katastrophenhilfe. Wenn man andere Branchen unterstützt, muss auch die Kultur auf gleichem Niveau unterstützt werden. Nicht nur, weil sie
genauso Arbeitsplätze schafft. Kultur ist ein Lebensmittel.
Wer sich jetzt aber Gelder von der FFA geben lässt, der wird diese Gelder im nächsten Jahr vermissen.
Denn zu den schlimmen Folgen der ganzen Corona-Ereignisse gehört ja auch, dass im nächsten Jahr in den Töpfen der FFA viel weniger zur Verfügung stehen wird.
Auch hier sollten die Verbände an einem Strang ziehen und schnell Ausgleichszahlungen einfordern. Keine Almosen, sondern Zukunftssicherungen.
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Unglücklicherweise streiten sich jetzt schon wieder Verleiher und Produzenten öffentlich um das leidige Sperrfristthema. Sie übersehen dabei zum einen, dass es die ganz großen Player sind, die die Sperrfrist jetzt unsolidarisch einseitig preisgeben. Diese sollten glaubwürdig in Zukunft auf keinerlei Solidarität hoffen dürfen. Im Gegenteil müssten die Letzten jetzt begreifen, dass ihre wahren Feinde – nicht Gegner – in der eigenen Branche sitzen. Solidarität ist nämlich keine Einbahnstraße
Andererseits wird auch übersehen, dass Sperrfristen von vorgestern sind, genauso allerdings wie Ländergrenzen. In Zeiten des Digitalen und des Streaming muss sich auch die Kino- und Film-Ökonomie neu erfinden, und ihre Lebenslügen endlich aufgeben.
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Man könnte es dabei belassen, Filmtipps zu geben, und ein schönes Feuilleton darüber zu schreiben, welche Filme man jetzt gerade anschauen sollte, ob man mit Contagion und Outbreak noch immer richtig liegt, und vielleicht mit World War Z, ob man schon 28 Tage später anschauen oder damit noch bis zum 12. April warten sollte. Oder ist es nicht bereits besser, The Siege wiederzusehen, Edward Zwicks unterschätzten Film über ein Land (die USA), in dem nach Terroranschlägen der Ausnahmezustand verhängt wird. Und in dem Bruce Willis, damals noch der unkaputtbare Gute des US-Kinos, die Situation für einen Putsch der Exekutive gegen die Demokratie nutzt. Ein Film von 1998 – im Licht heutiger Ereignisse unfassbar hellsichtig und präzise.
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Man könnte also so weitermachen, so wie wir es am liebsten tun, und auf das hinweisen, was Kultur hervorragend kann: Gegenwart deuten, Zukunft ausmalen, Vergangenheit beschwören, also für uns denken und phantasieren, und unseren Phantasien und unserem Denken Widerstand entgegensetzen, Irritation, Provokation.
Die Verhältnisse sind surreal, und die Informationsmedien sind diesen Verhältnissen kaum noch gewachsen, auch wenn sie selbst surreal werden mit ihren zum Normalfall gewordenen Sondersendungen, ihrer Corona-Dauerbeschallung, ihren »objektiven« Statistiken und der anschließenden Erklärbär-Sendung, warum die Statistiken höchst krass voneinander abweichen, ihren Virologen, die um die Wette bloggen (und sich nicht zuletzt mit sich selbst beschäftigen, damit wer zuletzt unrecht gehabt hat), ihrer Regierungssprecher-Attitude.
Anstatt der demokratischen Opposition zwischen den ganzen Pressekonferenzen der Regierung und den Ministerpräsidenten ein Forum zu geben, haben öffentlich-rechtliche Medien zur Zeit auf Verlautbarungsmodus umgeschaltet. Alles was die Regierenden beschließen, soll dem Volke erklärt und schmackhaft gemacht werden. Warum?
Wenn schon unsere Regierung – etwa in Angela Merkels Ansprache von letzter Woche – zwar wohltuend unmartialisch auf die
Kriegsmetaphern anderer (Macron, Trump) verzichtet … Dann aber andererseits in einer Mischung aus nachsichtiger Mutti und strenger Kindergärtnerin das Volk nicht mehr als freie Bürger anspricht, sondern als zu ermahnende unreife Kinder, denen mit strengeren Disziplinierungs-Maßnahmen gedroht wird, falls sie das gewünschte Verhalten nicht schon selbstdiziplinierend vorwegnehmen, denen also Entscheidungsfreiheit längst genommen ist – als seien Freiheiten
etwas, das von der Regierung den Bürgern gewährt wird zu absolutistischen Zeiten … Wenn das so ist, warum müssen die öffentlich-rechtlichen, und wie die Regierung von den Bürgern bezahlten Medien dann als Nanny agieren, und das Erziehungsprogramm noch einmal, jetzt aber richtig den Bürgern erklären?
Verschwunden sind kontroverse Debatten, das, was man mal »Streitkultur« nannte.
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Private Medien sind keineswegs besser. Man nehme die »emotionalen« Berichte, die dem Publikum nicht nur erklären, was es denken und tun muss, sondern auch noch suggerieren möchten, was es zu fühlen hat: Interessant, dass die Themen-Kategorien beim »jungen« Spiegel lauten: Gerechtigkeit und
Gefühle, aber nicht Freiheit, nicht Gleichheit, nicht Solidarität und schon gar nicht Arbeit.
Einmal mehr zeigt die Chose, dass Gefühle keine guten Ratgeber sind.
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Dies alles ist zu reflektieren, auch in einem Kulturmagazin wie unserem. Denn es ist Thema dieser Kultur. Dafür muss es die Kultur allerdings zuerst einmal geben.
Und neben allem, was »Corona« noch so bedeutet, begreift man in der letzten Woche allmählich, dass weniger das Virus selbst, als unsere Reaktionen auf es die Kultur so, wie wir sie kennen, in ihrer Existenz gefährden.
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Es trifft als erstes die kulturelle Infrastruktur, sprich Kinos und Verleiher. Natürlich wollen die Kinos schnell wieder öffnen.
In einem guten Berliner Programmkino sind die Mitarbeiter oft Minijobber und Studenten. Die könnte man gar nicht auf Kurzarbeit setzen. Entlassen geht auch nicht. Nicht nur, weil man das nicht will, sondern weil ein Team aufgebaut und gewachsen ist, auf Vertrauen und Verlässlichkeit basiert. »Einen Monat würde ich schaffen«, sagt eine Kinobetreiberin, vielleicht auch zwei. Das wird kaum reichen, denn selbst wenn – nicht Mitte, eher Ende April – Kinos wieder geöffnet
werden könnten, dann ist offen, wann Verleiher überhaupt in der Lage wären, Filmstarts zu organisieren. Sofort oder erst Wochen später? Man munkelt schon jetzt, dass viele Filmstarts komplett gestrichen werden, zudem die übriggebliebenen Filme sich dann in den Kinos noch mehr häufen als sowieso schon.
Und welcher Verleiher hat dann noch Lust auf mutige unkommerzielle Projekte? Es wird heißen: »Wir müssen jetzt erstmal Geld verdienen.« Und genauso werden andersherum auch die
meisten der Kinobetreiber argumentieren, wenn die anspruchsvolleren Verleiher ihre Filme spielen möchten.
»Wenn wir wieder öffnen, ist es Frühling oder Frühsommer.« Keine gute Zeit fürs Kino.
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Kaum zu verdenken ist den Verleihern daher, wenn sie jetzt schon das Bündnis mit den Kinos suchen. Kaum zu verdenken ist es, irgendwem, der schon jetzt seine Felle ins Trockene zu bringen sucht und nach Wegen schaut, mit denen sich noch Geld verdienen lässt. Darum ist es verständlich und sympathisch und unterstützenswert, dass einige Verleiher jetzt ihre Filme statt sie ins Kino zu bringen (was sie nicht können) und statt zu warten, streamen.
Man muss diese Art von Film-Stream
sehr deutlich von den großen Streamingdiensten unterscheiden. Auch deren Nutzung ist niemandem zu verdenken, der sich langweilt, der keine große DVD-Sammlung hat, der die guten Filme sehen möchte, die es natürlich auch bei den großen Anbietern gibt.
Manchmal will man auch nur die Kinder ruhigstellen. Auch in Ordnung. Und ist es nicht besser, sich den ganzen Tag irgendwelche Streams anzuschauen, als sich gegenseitig zu Hause totzuschlagen?
Ok, das war jetzt eine rhetorische
Frage.
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Man muss hier auch nicht betonen, dass es auch unter den Serien und Fernsehangeboten Hervorragendes gibt, dass unglaublich gute Kinoregisseure und herausragende Schauspieler in diesen Bereichen arbeiten.
Es gibt in Zeiten, in denen die Kinos geschlossen sind, weniger denn je Grund, diese Angebote zu ignorieren oder sie gar zu verdammen. Es ist vielmehr betulich, hier das Hohelied eines Kinos zu singen, das es im Augenblick gar nicht gibt – leider nicht gibt.
Denn
ebenso, wie die Gefahr besteht, dass wir uns durch das Streamen endgültig an schlechtere Bilder gewöhnen und uns endgültig des Kinos entwöhnen, genau so gibt es auch die Chance auf das Gegenteil: Dass wir die Kinos selber wieder schätzen lernen. Dass wir begreifen, dass schon die schiere Größe der Leinwand etwas anderes ist, erst recht aber eine gute Projektionsqualität, eine gute Tonanlage – und vor allem das gemeinsame Sehen mit vielen anderen Menschen im dunklen Raum.
All das haben wir nicht zuletzt hier bei »artechock« zu Genüge beschrieben und verteidigt.
Jetzt aber geht es in erster Linie darum, dass sympathische Anbieter Geld verdienen.
Wenn ich hier deswegen jetzt ausdrücklich auf die Angebote von Eksystent Film und Grand-Film hinweise und Rise and Shine Cinema und noch vieles mehr, was wir leider jetzt hier nicht erwähnen können, dann tue ich das auch, um ebenso deutlich zu sagen, dass es unakzeptabel und überaus fragwürdig ist, dass eine komplett öffentlich subventionierte Einrichtung wie das Arsenal-Filminstitut durch ein überdies noch kostenloses Angebot alldem hier Konkurrenz macht.
Das müsste
öffentlich von den Geldgebern und in den Medien sanktioniert werden.
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Hart getroffen sind auch Filmfestivals – wir hatten neulich schon beschrieben, dass viele nicht stattfinden können, auch in einer Zukunft, in der vielleicht die Ausgangssperren bereits wieder aufgehoben sein werden.
Die AG Filmfestival hat einen temporären Infodienst für ihre Mitglieder eingerichtet. In einer Rundmail an ihre Mitglieder erklärt die AG, dass strukturierte Planung oder Vorsorge kaum möglich ist.
Es fehlt an belastbaren Aussagen zu Kriterien, nach denen Veranstaltungen untersagt werden und nach dem Zeitrahmen, in dem gehandelt und gedacht wird. Es fehlt zum Teil auch, das sieht man jetzt, an Unterstützung der Sponsoren und der Geldgeber. An manchen Orten sind diese
solidarisch, an anderen lassen sie die Veranstalter im Stich.
Auch Filmfestivals streamen jetzt. Jeder sollte sich die Seiten der »Diagonale« und der »CPH:DOX« daraufhin ansehen. Man braucht dann andere Angebote vorerst nicht mehr.
Die Frage, was das mit der Zukunft der Filmfestivals macht, müssen wir vertagen.
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Etwas ganz anderes, bzw. auch gar nichts anderes: Das Blutbad, das noch kommen wird. Nicht metaphorisch gemeint, sondern annähernd wörtlich.
Es ist bemerkenswert, wie sich in Deutschland jeden Tag der Diskurs ein bisschen weiter verschiebt in Richtung von Entscheidungen über Leben und Tod. In Richtung von Entscheidungen, bei denen bestimmte Teile der Gesellschaft gegenüber anderen geopfert werden; geopfert werden, um andere zu retten. Nehmen wir das Interview mit Jens Spahn in der neuen Zeit, oder die an diesem Mittwoch an die Öffentlichkeit gekommenen »Handlungsempfehlungen für Intensiv-Ärzte«.
Ohne Frage geht es hier um eminent ethische Fragen. Und ohne Frage kann es – soviel im Normalfall dagegen spricht – moralisch geboten sein, bestimmte Menschen zu opfern, um andere zu retten. Darum geht es hier.
Aber machen wir uns für einen Augenblick klar, dass dies ein Terrain ist, das uns bisher im Leben nicht begegnet ist. Es sind Entscheidungen, die wir bisher nur aus dem Kino kannten oder aus den Erzählungen der Großeltern. Es sind Entscheidungen, wie sie Filmhelden treffen, ferne Krieger in jenen Ländern »weit hinter der Türkei / wo die Völker auf einander schlagen«, oder Ärzte ohne Grenzen. »Ship me somewhere East of Suez«, reimte Kipling im vorigen Jahrhundert, und den Rest über die zehn Gebote, die es nicht mehr gibt, kann jeder selbst nachlesen.
Kultur, das Kino also, gibt uns auch hier nichts vor, keine Handlungsanweisungen, allenfalls Richtschnüre, Haltungen und Kategorien. Es zeigt uns aber, was passieren kann.
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Machen wir uns nichts vor: Die schlimmste Zeit mit dem Corona-Virus liegt nicht hinter uns, sondern vor uns. Menschen werden sterben. Viele Menschen. Nicht ein paar hundert, sondern eine höhere fünfstellige Zahl. Eine mittelgroße Stadt. Fast jeder von uns wird Menschen kennen, die tot sind. Schon in Deutschland, die Weltbürger unter uns auch in anderen Ländern.
Was macht das mit uns? Nicht mit dem Kino, sondern mit der Gesellschaft, mit den Menschen, die auch Publikum sind? Haben
sie dann noch Lust, Filme zu sehen? Oder erst recht? Wohl schon, glaube ich. Aber vielleicht nicht diese Filme; vielleicht ganz andere Filme.
Einer der vielen perversen Gedanken, um die zu denken man in diesen Tagen gar nicht herumkommt, ist jener, ob am Ende das Kino besser werden wird durch das, was gerade passiert? Ob das Existentielle, das Harte und Schwere, das uns bevorsteht, und das wir alle – mich eingeschlossen – nicht mögen und so gerne ignorieren möchten,
nicht dem Kino am Ende nutzt?
Fast alle Geschichten von historischen Seuchen – und man muss hier gar nicht an die große »Schwarze« Pest des späten Mittelalters zurückdenken – erzählen von der Lebenslust, der Ekstase und den Exzessen, die auf die Seuche und die Abschottung folgten. Wenn die Menschen erst einmal wieder raus auf die Straße dürfen, dann werden sie nicht geläutert sein, gereinigt, werden nicht puritanischer und nachhaltiger und moralischer, sondern viel
schmutziger und amoralischer als je zuvor. Es werden ohne Frage neue wilde Zwanziger Jahre werden, aber ganz anders als geglaubt.
(to be continued)