Cinema Moralia – Folge 213
Corona, mon amour... |
||
Großes Pfund beim Streaming-Start von Disney+: Die Serie »Star Wars – The Mandalorian« | ||
(Foto: Disney+) |
»April ist der grausamste Monat.«
T.S.Eliot, »Das Wüste Land«; übersetzt von Eva Hesse
Das 20. Jahrhundert stirbt gerade. Die Kategorien, die Mentalitäten, die den letzten Epochenbruch, das Ende des Kalten Kriegs, noch überstanden hatten, wenn auch eher schlecht, verlieren ihre Geltung. Wer braucht noch Kultur, wer will noch Filme, außer in den Beteuerungen der Pressemitteilung, in denen jetzt wieder wortreich Kino und Kultur gerettet werden, Rettungsschirme ausgefaltet, und Filme beschützt, die sich Frau Intendantin und Herr Geschäftsführer seit Jahren nicht ansehen, denen man unter dem Tisch Knochen in Form von Drehbuchentwicklungs- und Verleihförderung zuwirft, und dann beleidigt ist, wenn die Damen und Herren Filmemacher zu lange daran nagen. Papi Neumann und Mami Grütters halfen noch, das Schlimmste zu verhindern, mit listenreichen Konstruktionen.
Aber Corona bringt es an den Tag: Es ist alles gescheitert. Filmförderung futsch, egal ob Wirtschaft oder Kultur, das mit den zwei Säulen war schon immer Quatsch, weil die sogenannte »Wirtschaftsförderung« nur ein Mäntelchen war, um unwirtschaftliche Filme zu finanzieren, die noch nicht mal die Macher für »Kultur« hielten.
+ + +
»Wir brauchen weniger Filme« – wir alle erinnern uns noch an dieses Liedlein, das die Filmförderer und Filmfunktionäre aller Himmelsrichtungen in den vergangenen Jahren am liebsten gesungen haben: Es gibt zu viele Filme, wir brauchen weniger, wir müssen die Verhältnisse so umgestalten, dass am Ende weniger Filme entstehen. Weniger Film sind mehr, bei weniger Filmen gehen mehr Zuschauer ins Kino, weniger weniger, weniger …
Darum wurde das Filmfördergesetz verändert, darum wurden die Jurys der Filmförderanstalt FFA zur Produktionsförderung aufgespalten in komische Pool-Kommissionen, die keiner mehr durchschaut, die der FFA selbst und vor allem den Groß-Lobbyisten noch mehr diverse Möglichkeiten zum internen Durchgriff geben.
Und jetzt kommt Corona. Eine göttliche Plage. Aber eben auch göttlich, für manche. Denn alles Schlechte hat sein Gutes und jede Krise ihre Profiteure: Corona schafft jetzt alles das, was zuvor nur ein feuchter Traum gewisser Damen und Herren in der deutschen Filmförderlandschaft war.
+ + +
Natürlich möchte ich niemandem, auch nicht … nein: niemandem unterstellen, dass er oder sie sich über Corona freut. Aber unter uns Realisten hat man ja gelernt, sich schnell auf neue Verhältnisse einzustellen und im Gegebenen die Chancen zu sehen.
Und man muss zumindest feststellen, dass, wenn Corona und vor allem der entsprechende staatlich verordnete Shutdown der Kultur nur lange genug andauern, genau das passieren wird, vielleicht nicht auf die Weise, aber im Ergebnis,
was zum Beispiel FFA-Chef Peter Dinges auf öffentlichen Podien schon gefordert haben: Weniger Filme. Weil bestimmte Produktionsfirmen, Verleiher und Kinobetreiber, vor allem jene, die für eine Filmkultur stehen, die kulturell erfolgreich ist, wirtschaftlich aber unter den gegebenen Bedingungen genauso wenig wie andere, ihren Betrieb dann nicht mehr aufrechterhalten können – weil sie jene Publikumserfolgsorientierung noch nicht mal vorgaukeln, die man in Deutschland
vorgaukeln muss, um staatliche Fördergelder zu bekommen.
+ + +
Wenn es anders sein sollte, wenn das Verleumdung ist, dann obliegt es den Filmförderern der Länder und der FFA, jetzt ein entsprechendes Zeichen zu geben.
Dann kann die Krise eine Chance sein. Für eine komplette Neuerfindung des deutschen und europäischen Films. Für ein Kino, das ästhetisch relevant ist, durch seine Geschichten und Figuren und durch die Formen, in denen es erzählt.
Wer auf »Weiter so« setzt, reitet in den Untergang. Mindestens in den Untergang der Bedeutungslosigkeit.
+ + +
Keinem geht es gut. Aber es ist klar, wer jetzt die Haupt-Opfer sind. Vor allem die Kinobetreiber werden auf Null gefahren. Ihnen brechen alle Einnahmen weg.
Die Verleiher leiden mittelbar auch. Aber ihnen bleiben andere Rechte zu einem gewissen Ausgleich. Verleiher sind Händler. Jetzt handeln sie immer noch mit Fernsehrechten, DVD-Rechten, Streaming-Rechten. Oder sie streamen selber.
Die Produzenten werden zu großen Teilen auf lange Sicht dann vielleicht eben nur noch für Sender
und Streamingdienste produzieren.
Es dominiert vor allem die begründete Angst, dass viele Zuschauer, gewöhnt ans Einschlafen beim Binge-Watching, ins Kino nicht mehr zurückfinden. Um überhaupt Geld zu verdienen, und die Einnahmen nach oben zu jazzen, werden dann nur noch kommerzielle Filme produziert: Schweiger, Schweighöfer, bestenfalls noch eine Caroline Link fürs gute Gewissen.
Was dann tot ist, wird auch nicht wiederbelebt.
+ + +
Überall gibt es Drehstopps? Produzenten dürfen nicht drehen? Keineswegs! Fake News!! Die Ufa trotzt Corona, gedreht wird, ob man es glaubt oder nicht, auch in schlechten Zeiten: »Gute Zeiten, schlechte Zeiten« in Berlin und »Unter uns« in Köln haben den Drehbetrieb am Montag wieder aufgenommen.
Die Drehunterbrechung sei dazu genutzt worden, »um die Drehbücher und Sets den Sicherheitsmaßnahmen zur Risikominimierung weiter anzupassen«. »Diese Optimierungen« seien
»durch die besonderen Dreharbeiten der täglichen Serien im Studio« möglich. »Der Drehbetrieb wird unter genauesten und strengen Hygienemaßnahmen, die so mit unseren Arbeitsschutzfachleuten im Einzelnen abgesprochen sind, durchgeführt«, heißt es weiter in der Pressemitteilung. »Der Mindestabstand aller Personen« werde »durchgängig gewährt, die Verweildauer des Teams im Studio so gering wie möglich gehalten, Haare und Make-up von den SchauspielerInnen selbst
übernommen«. Außerdem sei es allen Mitarbeitern, »die zu Risikogruppen gehören«, freigestellt, »die Arbeit am Set derzeit fortzusetzen«.
Da sieht man, was wirklich systemrelevant ist.
+ + +
Ist das Studio Babelsberg systemrelevant? Nein. Natürlich nicht. Es sollen aber ja auch gern alle gerettet werden, die nicht systemrelevant sind. Darum können wir wetten, dass Babelsberg unter den ersten sein wird.
Denn 800 Mitarbeiter von Babelsberg-Tochterfirmen (andere gibt es nicht, jedenfalls nicht mit einer relevanten Zahl von Mitarbeitern) wurden jetzt gekündigt: Von Hollywood-Firmen, die gekommen waren, um, salopp gesagt, das »stupid german money« des DFFF
abzugreifen. Aber im Gegensatz zu GZSZ ist Corona hier ein Hinderungsgrund.
Alle haben jetzt Mitleid mit Studio Babelsberg, und die zuständige Förderung wird sich gewiss bald als Retter aufspielen.
Denn zusammen mindestens 46 Millionen Steuergelder wurden jetzt ins Feuer geworfen, um zwei Hollywood-Filme zu finanzieren (»Matrix 4« und) , von denen jetzt noch nicht mal sicher ist, ob sie gemacht werden.
Soll es jetzt noch ein Rettungspaket hinterher geben?
Film-Rechtsanwalt Stefan Schmidt-Hug, zumindest für den RBB eine »Instanz unter Deutschlands Filmschaffenden«, vertritt Babelsberg-Mitarbeiter.
Bei besagtem RBB lässt er sich aber auch mit apokalyptischen Kommentaren zitieren: »Einen Kino- oder Fernsehfilm wird es in diesem Jahr nicht mehr geben.«
Andere Anwaltskanzleien argumentieren detaillierter und differenzierter.
+ + +
Eine interessante Entwicklung: Die klassischen Fernsehsender, längst schockgefrostete Dinosaurier, werden gerade an der Ausgangssperren-Frühlingsluft aufgetaut. Plötzlich hängen nicht nur schwerhörige Volksmusikfans, geschmacksbehinderte Fernsehgarten-Aficionados, demente Altenheimbewohner und ungeduldige Fußballfans vor ARD und ZDF, sondern auch ihre Enkel und Urenkel.
Die Quoten blühen wie sonst nur frisch gedüngte Frühlingstulpen. Alles wird angeguckt
und das en masse. Dritte Programme sind plötzlich wieder gefragt, Dokumentarfilme sind gefragt, 3sat und Arte erleben nie gekannte Höhenflüge. Sie sind, obschon in den letzten Jahren immer schlechter geworden, die Profiteure der Krise.
Doch die Verantwortlichen sind zynisch und wickeln weiter ab; sie nutzen die Chancen nicht. Oder wo bleiben die Initiativen für bessere Stoffe? Für Förderung des Kinos?
Das einzige, was den Leuten dort einfällt, ist eine Zusammenlegung der Mediatheken.
+ + +
Es gibt auch noch andere Profiteure: Aber jetzt sind sie da. Und es wirkt fast, als ob sie es vorher gewusst hätten. Denn einen besseren Moment für den großen Aufschlag hätte es für »Disney+« gar nicht geben können: Die aufgezwungene Corona-Quarantäne fesselt Millionen Menschen an die heimischen vier Wände. Wer bisher sein Geld für Kino- und Konzertkarten oder einfach ein schönes Abendessen im Restaurant ausgab, ist jetzt erst recht nur allzu bereit, 69 Euro zu bezahlen – fürs ganze Jahr! Dies ist der Dumping-Einstiegspreis. Später wird der Dienst pro Monat mindestens 6,99 Euro kosten.
Sie haben lange abgewartet. Die Firma mit der Maus, der Klassiker unter den großen US-amerikanischen Medienriesen, kommt spät auf den globalen Marktplatz der Steaming-Konzerne. Aber dafür gewaltig. Denn das Disney-Studio, das seit vergangener Woche mit »Disney+« die schon reichlichen Angebote der Internet-Film-Dienste aufmischt, ist hier nicht etwa der Hecht in einem Karpfenteich. Die Streaming-Szene gleicht seit jeher eher einem Raubtierkäfig aus lauter reißerischen Bestien,
die einander belauern und nur darauf warten, dass sich irgendwer eine Blöße gibt im Kampf um die fettesten Fleischbrocken, sprich Filmrechte und Publikumsmarktanteile. Von Anfang an gilt Disney hier nicht als Randfigur, sondern als König der Löwen.
Mit großen Erwartungen ist das neue Streaming-Portal an den Start gegangen, man traut der Firma mit der Maus alle Marktmacht zu, die Konkurrenten Netflix und Amazon Prime in die Knie zu zwingen.
Seit dem 24. März flutet »Disney+« nun das Netz. Unter dem Angebot ist viel Altes, durchaus Klassiker, wie Dumbo von 1941, Pinocchio von 1940 (aus unerfindlichen Gründen in Die lebendige Puppe umbenannt), und was bei Disney niemanden überraschen wird: Nutzer haben Zugriff auf Inhalte von Disney, Pixar, Marvel, Star Wars, National Geographic und – ganz wichtig! – alle Folgen der Simpsons. In den USA
wurden so in nur drei Monaten rund 28 Millionen Abonnenten gewonnen – vor Corona.
Es fehlt aber auch vieles, was man unbedingt erwartet hätte: Viel von »Mickey Mouse«, alle klassischen Fernsehserien der Pionierzeit des Mediums, als Walt Disney selbst Zorro produzierte. Und das Historische, was es gibt, ist mit politisch-überkorrekten Warnhinweisen zugepflastert: »Enthält Darstellungen von Tabakprodukten«, »Einige flackernde Liebesszenen
könnten negative Auswirkungen auf lichtempfindliche Zuschauer haben« – schlecht übersetzt, aber typisch Disney eben: Der Konzern war schon immer Propagandist einer Nanny-Kultur mit allzu-perfekten, erzkonservativen Heile-Welt-Bildern. Ob das in einer Zeit aufgeht, in der Seuchen- und Zombie-Filme zu den aktuellen Netz-Rennern mutieren, weil man offenbar den Corona-Schrecken durch seine Beschwörung bannen will, bleibt abzuwarten.
Für das Publikum, das mehr will als Bambi-Welten, bietet man auch Neues: Ein Lockvogel-Angebot namens »Star Wars: The Mandalorian«. Die erste Star-Wars-Serie, die keine Trickfilmproduktion ist. Sie ist eine Mischung aus SF-Tantasy und Western, und dreht sich unter anderem um den Zen-Jedi Yoda – hier: Baby Yoda. Der Held aber ist Kopfgeldjäger. Das Imperium ist zusammengebrochen, der Raumschifftreibstoff teuer und die Aufträge sind rar – klingt fast schon wie eine Mischung aus Mad Max und Post-Corona-Europa.
+ + +
Da siegt dann kapitalistisches Rendite-Denken über alle Moral: Denn der Markt befindet sich in einer immensen Bewegung. Denn mit jedem neuen Player werden auch die Film-Rechte neu verteilt. Das war schon vor der derzeitigen Corona-Krise der Fall. Mit der Pandemie kommt hinzu, dass bei einem auf so vielen Säulen aufgestellten Medienkonzern wie Disney diverse Geldquellen plötzlich nicht mehr sprudeln: Alle Vergnügungsparks mussten schließen, Kreuzfahrten und Bühnenshows wurden
abgesagt, der Kinostart von Mulan wurde verschoben, andere Dreharbeiten mussten abgebrochen werden, in den Fernsehkanälen des Maus-Konzerns wie ESPN laufen plötzlich keine Dauer-Sportsendungen mehr. Im Ergebnis brach die Disney-Aktie seit Anfang des Monats um knapp 40 Prozent ein.
Das könnte Netflix und Amazon nicht passieren: Wer nur im Netz unterwegs ist, profitiert von Ausgangssperren und
Shutdown. Allein Amazon legte seit dem 15. März um 10 Milliarden US-Dollar Marktwert zu, die Aktie gewann gegen die Börsentrends der Welt 15 Prozent. Die Netflix-Aktie legte von gut 281 Euro am 18. März in nur sechs Tagen auf über 335 Euro zu – über 18 Prozent, und zwischenzeitlich standen sie sogar bei
346.
+ + +
Die ganz große Eva Hesse ist tot – what a pity. Mit 95. Auch das ein kleiner Abschied des 20. Jahrhunderts. Eine Frau »wie es sie heute nicht mehr gibt«. Oder doch? Jedenfalls eine Mischung aus altmodischer großbürgerlicher Dame mit einmaliger Ausstrahlung und viel Stil – Tücher von Chanel oder Hermes im Haar, große Sonnenbrillen auch in Innenräumen, Cigarillos in der Hand – und einer scharfen Intellektuellen, die ihr Leben vor allem für einen einzigen
Dichter aufopferte: Ezra Pound, nach dem Krieg durch seine Sympathien für Mussolini Persona non grata der europäischen Kultur, bis ihn Hesse, selbst eine radikale Linke, wieder in die Kreise der Avantgarde zurückholte: Durch ihre Übersetzungen und mehrere Bücher mit klugen Interpretationen. Die in Berlin 1925 geborene, in London als Diplomatentochter bis September 1939 (!) aufgewachsene Hesse war auch Übersetzerin von T.S.Eliot.
»Aufopfern« ist übrigens fast wörtlich
gemeint, denn weil man mit Übersetzung und Literaturkritik nicht viel verdient und das Erbe der Familie offenbar bald aufgebraucht war, lebte Hesse mit ihrem irischen Mann, der bei Siemens angestellt war, in München lange in einer Einzimmer- später einer Zweizimmerwohnung. Sie fand andere Formen des Glücks, und wer diese Frau in ihren letzten Jahrzehnten mal im München der Neunziger oder Nuller-Jahre erlebte, der glaubte das zu spüren: Die Strahlkraft und den ganzen Kosmos der
Kultur und der Begegnungen ihres Lebens, und die Gewißheit einer Mission. Sie war, bei aller Diskretion und Feinsinnigkeit, bei allen Manieren eine Frau, die keine Gefangenen machte.
+ + +
»Jedes Wort ist ein Eingang zu einer Begegnung, / einer oft aufgeschobenen. / Es ist wahr, sofern es auf der Begegnung beharrt.«
Jannis Ritsos, »Vom Sinn des Einfachen«, übersetzt von Eva Hesse
(to be continued)