Cinema Moralia – Folge 214
Der Aufschub |
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Der Schlaf der Vernunft bringt Ungeheuer hervor | ||
(Zeichnung: Francisco de Goya) |
»Heute aber finden wir uns einer angeblich jungen Generation gegenüber, die in jeder ihrer Regungen unerträglich viel erwachsener ist, als je die Eltern es waren; die entsagt hat, schon ehe es zum Konflikt überhaupt kam, und daraus ihre Macht zieht, verbissen autoritär und unerschütterlich.«
Adorno, »Minima Moralia«
Das derzeit übliche Gerede, das leider auch vor allem von den üblichen Verdächtigen vorangetrieben und protegiert wird, das Gerede, nach dem »der Tag danach«, das Leben »nach Corona« kein Zurück zum Alten sein werde, ist keine gute Nachricht. Jedenfalls bestimmt nicht für das Kino.
Noch frohlocken zu viele, wie es bei anderer Gelegenheit schon mal hieß, »mit klammheimlicher Freude«, dass es jetzt mit »dem Kapitalismus« zuende gehe, dass »das Klima« besser werde, und die Menschen geläutert, und überhaupt alles sich wenden werde. Sie haben ein schlechtes Gedächtnis.
Wer es kaum erwarten kann, dass diese »neue Normalität« die alte ablöst, und deshalb den merkwürdigen Zwischenzustand, in dem wir uns befinden, gern noch verlängert haben möchte, damit auch
sicher das böse Alte tot sei, den möchte man warnen. Das Neue könnte schrecklich sein.
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Worauf wir leider im Augenblick hoffen müssen, ist, dass es mit Kino und Filmförderung und dem ganzen Schlamassel, das bei uns Filmkultur genannt wird, wenigstens so weitergeht, wie es bisher gegangen ist. Auch das Kino gehört zu jenen Risikogruppen, von denen jetzt gern die Rede ist.
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An die unheimlichen Home-Offices denkend, in denen sich jetzt viele »Medienschaffende« mit technischen Problemen herumschlagen, ihre zu wenige Arbeit erledigen und im Übrigen den Frühlingsanfang genießen, frage ich mich, was das wirklich für ein anderer Zustand ist? Kann man sich darüber freuen? Mir scheint das derzeit viel gelobte, weil Arbeitgeberkosten sparende Home-Office und die erzwungene Auszeit ganz und gar nicht einem Sabbatical erwachsener Menschen, der souveränen Entscheidung zur mentalen Pausentaste zu entsprechen, als eher einer abhängigen, quasi-embryonalen Unreife – die dementsprechend auch von Mutti im Kanzleramt verordnet und irgendwann wieder aufgehoben wird. Wie Stubenarrest halt.
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Von Sabbatical und Pausentaste kann sowieso die Rede nicht sein. Corona frisst uns auf. Vor allem unseren Geist. Es besetzt alles. Kein Gespräch, kein Gedanke, kein Text, auch dieser nicht, schon gar keine Radio- oder Fernsehsendung, die Corona-frei ist.
Das ist wahrscheinlich auch gut so, muss womöglich so sein, schon um das alles zu bewältigen und zu verarbeiten. Denn diese Pandemie – mehr Zustand, als Ereignis glaube ich –, egal wie man sie nun bewertet, und welche
Reaktionen man richtig und falsch findet, diese Pandemie hält uns gefangen. Wir sind von Corona besessen, wie von einem Dämon, der sich nicht abschütteln lässt.
So werden wir alle zu Medienjunkies, und die mental Frühpensionierten in den Sendern frohlocken über Dinge wie die »Wiederkehr des Linearen«, wie sie die Tatsache nennen, dass die Tagesschau wieder öfter in Echtzeit gesehen wird, und von viel mehr Leuten als in den letzten Jahren.
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Ist es also eine gute Nachricht, dass das alte Fernsehen zurückkommt? Und dass wir dafür eine Pandemie brauchen? Und hat der Befund, dass im Moment einer globalen Katastrophe mehr Leute vor der Glotze hängen – wohlgemerkt: bei gleichzeitig komplettem Lockdown der Öffentlichkeit, der Kinos, der Fußballstadien und Public-Viewing-Bars und aller Gastronomie – irgendetwas mit diesem Fernsehen zu tun? Mit seiner Qualität zwischen dem guten »Unter Leuten«, dem weniger guten
»Unsere wunderbaren Jahre« und dem völlig verunglückten »Der Überläufer«?
Ich glaube nicht.
Und das ist die gute Nachricht: Wer mit solchem Fernsehen das Ende der Welt überleben muss, und sich vom klebenden Sessel löst, und den Weg zur Tür schafft, der braucht danach das Kino.
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Aber welches Kino wird man dann vorfinden? Jeder Tag ist hier entscheidend. Jeder Tag, den der soziale wie wirtschaftliche Lockdown länger dauert, schadet dem Kino. Nicht nur weil dieses sowieso nicht zum Ersten gehört, was dann wieder aufgeschlossen werden wird.
Sondern weil Kino in unserer generell filmfeindlichen deutschen Kultur nicht Lebensmittel ist, sondern Luxusgut. Nicht systemrelevant, sondern nicht notwendig.
Fälschlicherweise, denn die im Shutdown zerstörten Gemüter und depravierten Seelen sind zu flicken, auch die Herzen und Hirne brauchen Balsam und Adrenalin. Aber in Deutschland denkt man den Mensch lieber körperlich und von der Arbeitsfähigkeit her (– so wie ein besseres Klima gern mit dem »Zurück zur Natur!« verbunden wird, nicht mit dem »Vorsprung durch Technik«). Da hat das Kino nichts zu suchen.
Also brauchen wir Geld, um das Kino zu erhalten. Viel Geld. Und jetzt kann man sich wappnen für die harten Verteilungsdiskussionen, die uns dann bevorstehen werden.
Jede Woche, die der Shutdown andauert, kostet in Deutschland (je nach Angaben) zwischen 42 und 70 Milliarden Euro.
Dieses Geld wird der Kultur fehlen. Dem Kino.
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In schlechten Momenten kommt man auf melancholische Gedanken: »Der Traum der Vernunft gebiert Ungheuer«. So wird der berühmte Stich aus Goyas Capricho »El sueño de la razón produce monstruos« im romantischen Deutschland gern übersetzt. Hispanisten wissen, dass die Pointe darin liegt, dass »sueño« als »Traum« wie »Schlaf« übersetzbar und die Zeile also in beide Richtungen lesbar ist.
Darum Vorsicht vor falschen Hoffnungen: Die vermeintlichen Chancen der Pandemie könnten auch den Untergang besiegeln, die sozialen und kulturellen Opfer der Post-Corona-Zeit also die Opfer der Seuche übertreffen.
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Martialische Rhetorik scheint unangebracht. Aber wenn es tatsächlich ein Krieg sein sollte, in dem wir uns gerade, wie der französische Präsident sagte, befinden, dann ist es wohl am ehesten eine »Drôle de Guerre«, wie er vor genau 80 Jahren zwischen Nazideutschland und der französischen Dritten Republik herrschte, ein seltsamer Krieg, der vor allem im so planlosen, wie angespannten Herumsitzen bestand.
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»Rasenbank« heißt ein kleiner Text von Adorno, in dem er auf das Generationenverhältnis rekurriert. Die Lektüre lohnt auch im Hinblick auf die derzeitige Benennung von Risikogruppen.
»In der antagonistischen Gesellschaft ist auch das Generationsverhältnis eines von Konkurrenz, hinter der die nackte Gewalt steht«, heißt es da. »Die Gewalt, die ihnen [den Alten] angetan wird, macht die Gewalt vergessen, die sie übten.«
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In die Praxis übertragen erlebt man das gerade auch während des Ausnahmezustands allerorten. Noch vor Beginn von Corona gefiel sich das jetzt wieder gern als »systemrelevant« gelobte ZDF in der Rolle des Henkers und Kinoabwicklers.
Ein in der Form noch fast allzu höflich gehaltener offener Brief von 13 Verbänden an den »Sehr geehrten Herrn Dr. Bellut«, den Intendanten des ZDF, beklagt, dass 3sat aus heiterem Himmel die seit 1999 bestehende Medienpartnerschaft mit den Internationalen Kurzfilmtagen Oberhausen aufgekündigt hat.
Zur Begründung heißt es im Kündigungsbrief: »Da wir in diesem Genre«, gemeint ist kein Genre sondern die Gattung Kurzfilm, »schon seit geraumer Zeit nicht mehr produktionell
tätig sind, jenseits der Oberhausen-Filme keinerlei Ankäufe in diesem Segment tätigen, und auch nicht mehr über die entsprechenden Sendeflächen verfügen, sehen wir uns leider zu diesem Schritt veranlasst.«
Begründungspflichtig wäre aber zunächst einmal, warum ein öffentlich-rechtlicher Sender ganze Filmtypen links liegen lässt?
Gegenstand der Medienpartnerschaft waren der Ankauf von Kurzfilmen für das 3sat-Programm sowie der 3sat-Förderpreis im Deutschen Wettbewerb der Kurzfilmtage, der zusätzlich mit einer Ankaufsoption versehen war. Die Kurzfilmsendung mit Filmen aus den Programmen der Kurzfilmtage stellte schon seit geraumer Zeit den letzten Sendeplatz für Kurzfilme bei 3sat überhaupt dar. Da 3sat zugleich auch seinen seit über 20 Jahren verliehenen Förderpreis aufgibt, wird mit dieser Entscheidung der Kurzfilm bei 3sat restlos abgewickelt.
Damit verletzt das ZDF seinen Programmauftrag, zu dem die Förderung von neuen filmischen Handschriften und die Ansprache eines jüngeren Publikums gehören.
Unterzeichnet wurde der Brief an Bellut von der Arbeitsgemeinschaft Animationsfilm, Arbeitsgemeinschaft Dokumentarfilm, Arbeitsgemeinschaft Kurzfilm, Bundesverband kommunale Filmarbeit (BkF), Bundesverband Regie (BVR), Crew United, DOKOMOTIVE Filmkollektiv, Hauptverband Cinephilie (HvC), LaDOC – Dokumentarfilm-Frauen-Netzwerk Köln, Produzentenverband, Pro Short, Verband der deutschen Filmkritik (VDFK), Verbund der deutschen Filmhochschulstudierenden (VDDFS).
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Zum ersten Mal seit der Absage durch die »Drôle de Guerre« könnte auch das Festival von Cannes in diesem Jahr nicht stattfinden.
Aber anders als etwa das ZDF hält man dort am Kulturauftrag fest. Und es scheint mir, dass man es auch Cannes wie Venedig hoch anrechnen muss, dass man bei beiden Festivals früh klar gemacht hat: Gestreamt wird nicht. Festivals gehören an einen Ort und ins Kino, nicht ins Nirwana des Cyberspace.
Gestern gab man in Cannes bekannt, dass die ursprünglich angedachte Verlegung in den Zeitraum Juni/Juli nun »keine Option mehr« ist.
Und nach der Anküdigung von Präsident Macron, die ein Mitsommar-Cannes unmöglich machen, wurden die Nebensektionen von Cannes – Quinzaine, Semaine, Acid – sofort definitiv gecancelt. Dommage!
Wie soll Cannes 2020 aussehen, ohne diese Nebensektionen, die immer sehr gute Filme zeigten, im Fall der Quinzaine dem Wettbewerb immer mal wieder ernsthafte Konkurrenz machen konnte, und die bei der begrenzten Anzahl Filme im Gesamtfestival (nur maximal 120 gegenüber 360-400 zuletzt bei der Berlinale) eine viel zentralere Rolle spielen, als etwa in Berlin das Forum?
Und dennoch! Zugleich mit der Feststellung, es sei klarerweise schwierig, das Festival in seiner ursprünglichen Form zu veranstalten, hält man daran fest, dass Cannes als »eine wesentliche Säule der Filmindustrie alle Möglichkeiten erkunden muss, um Cannes 2020 wirklich werden zu lassen, auf die eine oder die andere Weise.«
Und weiter: »Wenn die Gesundheitskrise vorbei ist, müssen wir die Bedeutung des Kinos unter Beweis stellen, und die Rolle, die seine Arbeit, seine Künstler, Profis, Film-Theater und sein Publikum in unserem Leben spielen.«
Es ist klar: Kino ist systemrelevant. Wenn wir es wollen. Wenn wir dafür kämpfen.
(to be continued)