Cinema Moralia – Folge 215
Der sanfte Schwung der Kurven |
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Hier wird noch versucht, etwas herauszubekommen, durch Reden: »Markus Lanz« | ||
(Foto: ZDF / »Markus Lanz«) |
»Die Niederlage akzeptieren heißt den Sieg vorbereiten.«
Mao Tse-Tung»Auf welcher Faktenbasis tun wir all das, was wir tun? Was, wenn wir uns geirrt haben?«
Markus Lanz
Wir lernen viel dieser Tage; wir wurden Virologen, dann Epidemiologen, wir machten einen Crashkurs in Volkswirtschaft, studieren inzwischen Statistik, Psychologie, Bildungssoziologe und Gesundheitswesen; als nächstes steht eine Ausbildung zum Hygieniker an – denn: »Was fehlt, sind die Hygieniker«, sagte Thea Dorn bei »Markus Lanz« – und meinte die Expertenrunden.
Ansonsten betrachten wir Kurven. Zunächst abgeflacht, gehen sie gerade nach unten. Das ist einerseits schön, andererseits betrifft es auch die Kurven für Wirtschaftsleistungen und Produktion, und wenn wir unsere Politiker hören, die erklären, die Kurve müsste die Nullebene treffen, dann wissen wir, dass das Kino da schon lange angekommen ist. Da die einzigen aufsteigenden Kurven einstweilen gerade die der Arbeitslosen sowie der privaten und öffentlichen Schulden sind, darf man
wohl feststellen, dass es an der Politik liegt und an der Gesellschaft, die sie trägt, alle Kurven allmählich in ein angemessenes Verhältnis zu setzen.
Und sei es auch nur, um das Volk bei Laune zu halten und um das vielgelobte deutsche Gesundheitssystem weiterhin bezahlen zu können.
Schließen ist leichter als öffnen, und dass vielleicht ein bisschen schnell ein bisschen viel geschlossen wurde, dämmert allmählich auch dem Letzten.
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Ein Hauch von Todestrieb liegt über allem. Was gerade zerstört wird und dauerhaft zu verschwinden droht, ist Öffentlichkeit. Weite Teile der Öffentlichkeit – neben dem Elementaren wie den Begegnungen der Körper, die unter dem euphemistisch zum »social distancing« verniedlichten Berührungsverbot erstarren, wie den Begegnungen der Blicke, die alleingelassen von den Gesten des Gesichts, die hinter der grotesken Sachlichkeit der Masken verschwinden, etwas ratlos wirken
–, sind es vor allem die Plätze, die Bänke und Gärten, wo Menschen sich einfach arglos aufhalten und begegnen können, sich dem Zufall und dem Driften überlassen können, ohne von Drohnen und Hubschrauberkameras beobachtet zu werden, ohne von Polizisten und ihren ungebetenen privaten Hilfssheriffs angesprochen, aufgescheucht und verwarnt zu werden. Dazu die Angst und Unsicherheit, die vieles durchzieht, weil sie politisch gewollt und unterstützt wird, weil nicht auf
Vertrauen, Selbstbewusstsein und Sorglosigkeit (arglosen Freimut) gesetzt wird. Sondern auf Verbote, Vorschriften und eine fragwürdige Disziplinierung.
Der Staat wird zur Obrigkeit, der Bürger zum Untertan. Nur Öffentlichkeit, also unkontrollierter offener Austausch, ungeregelte Geselligkeit und produktive Irritationen durch Unerwartetes könnten das verhindern.
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Ein wesentlicher Bestandteil solcher Öffentlichkeit ist das Kino.
Auch das Kino ist gerade verschwunden, und droht, dauerhaft Schaden zu nehmen. Zwar gibt es optimistische Stimmen: Der Produzent und Funktionär Martin Hagemann zitiert Umfragen, nach denen viele Menschen Lust haben, nach Ende des Shutdowns baldmöglichst ins Kino zu gehen. Hoffentlich erinnern sie sich daran, falls es tatsächlich bis Ende August dauert, bevor Kinos wieder öffnen dürfen. Und hoffentlich stehen dann noch irgendwo Kinos.
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Es gibt Studien, wie die der Kinomarketing-Agentur »S&L«, die mit dem schönen Titel »Sehnsucht Kino« die Loyalität der Kinogänger nach der Corona-Krise nachweisen will.
Die Präambel macht schon klar, wohin es geht: »In früheren wirtschaftlichen
Krisenzeiten konnte das Kino als Ort der Ablenkung und Realitätsflucht oft von den schweren Zeiten profitieren.« Eine (relative) Normalisierung sollte sich laut der Umfrageergebnisse innerhalb von zwei Monaten nach Wiedereröffnung herstellen.
Befragt wurden 865 deutsche »Kinogänger«. Man wüsste natürlich gern, wie oft diese ins Kino gehen, wieviel Prozent sie an der Gesamtbevölkerung ausmachen.
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Thomas Negele, Kinobetreiber und Chef der SPIO, des Dachverbands der Filmwirtschaft, rechnete jetzt vor, dass die Filmwirtschaft kurzfristig 563,5 Millionen Euro braucht, um die Corona-Krise zu überstehen.
Zur Begründung gab er der FAZ ein Interview. Dort erhebt er die sehr einleuchtende Forderung nach einer Bestandsgarantie der Filmkultur der Vor-Corona-Zeit: »Die Regierung muss dafür Sorge tragen, dass dieser Corona-Blackout für die Filmwirtschaft kostenneutral verläuft. Denn wenn viele Betriebe schließen müssen, nützt auch das beste Konjunkturprogramm nichts mehr.«
Zugleich erweckt er zumindest den Eindruck, vor allem eine sehr bestimmte Filmkultur im Blick zu haben: »Eine weitere wichtige Voraussetzung für die Restart-Phase sind aber attraktive Kinofilme. Solche Filme wie Die Känguru-Chroniken, der gerade dabei war, eine Million Zuschauer zu erreichen und noch nicht abgespielt ist, benötigen wir dann unbedingt. Deshalb erwarten die Kinos von den Verleihern schnell einen Überblick, welche Filme zur Verfügung stehen. Kinos benötigen jeden Monat zwei Blockbuster, damit sie die anderen Filme mitziehen.«
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Vom Autokino wird keine Rettung kommen, auch wenn es derzeit eine Renaissance erlebt. Davon gibt es allerdings nur ein gutes Dutzend. In der Süddeutschen Zeitung gibt sich der Essener Kinobetreiber Ansgar Esch optimistisch: »Vielleicht schadet Corona dem Kino insgesamt gar nicht, weil die Leute am Ende möglicherweise eine gewisse Sättigung empfinden, was Streaming innerhalb der eigenen vier Wände angeht.«
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Die Kostenlos-Mentalität mancher (!) in allen (!) Bereichen der Gesellschaft ist ein großes Problem. Leider wird sie mitunter auch noch durch öffentliche Institutionen gefördert, im Bereich der Kinos zur Zeit beispielsweise durch das Berliner Arsenal. Dieses Kino, das neben zwei Sälen auch einen eigenen Verleih hat, ist komplett öffentlich finanziert und hat das Glück, im Gegensatz zu vielen anderen schönen Institutionen in seinem Bestand vorerst ungefährdet zu sein.
Jetzt stellen sie unter dem Namen »Arsenal 3«, der den Eindruck erweckt, es handle sich um eine Art drittes Kino, auch jede Woche kostenlose Film-Kunst in Netz. So schön das auf den ersten Blick wirkt, so sehr wird es innerhalb der Branche, von mir bekannten Programmkinos, Verleihern und Filmemachern, scharf kritisiert. Denn das Angebot kostenloser Filme suggeriert, dass Kino keine Arbeit macht und nichts kostet. Das bedient die ohnehin grassierende, in Corona-Zeiten zunehmende Kostenlos-Mentalität. Außerdem werden hier Kunst und Rechte einfach verschenkt. Und wir wissen ja: Was man verschenkt, ist nichts wert.
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Die Aktion des Arsenal ist aber ein größeres, auch kulturpolitisches Problem: Es macht allen anderen Angeboten, die es gerade haufenweise gibt, und die direkt den weniger geförderten Kinos und Verleihern zugute kommen, unnötig Konkurrenz. Denn das Arsenal könnte es sich am ehesten leisten, einfach mal dicht zu haben.
Der inhaltliche Punkt ist glasklar: Eine öffentlich geförderte Institution macht mit kostenlosen Angeboten den prekären, privaten Institutionen und ihren Geld kostenden Angeboten Konkurrenz. Für öffentlich durchgeförderte Einrichtungen mit sicheren Stellen ist es leicht, Inhalte Dritter zu verschenken, für private Unternehmer aber unmöglich.
Wir wollen mal hoffen, dass das Arsenal immerhin alle Streaming-Rechte abgeklärt und zu Marktpreisen angemessen bezahlt hat.
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Vor dem Virus habe ich überhaupt keine Angst. Wovor ich Angst habe, ist die Angst der Leute. Davor, wie eine Gesellschaft sich verrückt macht.
Dass öffentlich-rechtliche Sender in den Panik-Modus umschalten und selbst einen Programm-Ausnahmezustand aus permanenten Sondersendungen etablieren, anstatt wenigstens in ihrem Programm Normalität, und das heißt dann auch Vielfalt und Diversität, weiterzuführen, ist traurig. Es ist auch erschütternd, weil es den Ausnahmefall in einen Normalfall überführt und auf Dauer stellt.
Unsere Aufgabe als Journalisten, erst recht Kulturjournalisten, besteht darin, Orientierung zu liefern, einzuordnen, zu bewerten, die Hysterie, den Dampf, die Anspannung herauszunehmen. Gelassenheit, skeptische Vernunft muss unsere Haltung sein.
Die Aufgabe ist nicht, die fünfte Variante einer Merkel-Rede zu publizieren, sondern da nachzufragen, wo Nachfragen nötig sind. Und da zu kritisieren, wo es vielleicht Gründe gibt, zu kritisieren. Die Aufgabe ist die, das
Haar in der Suppe zu finden, und nicht die, der Bevölkerung zu erklären, warum die längst missglückte Suppe es doch vielleicht wert ist, getrunken zu werden.
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Medienexperten üben scharfe Kritik an ARD und ZDF. Es wurde auch Zeit! In einem Beitrag für epd-Medien übt der renommierte Medienwissenschaftler Otfried Jarren Kritik an der Berichterstattung der Öffentlich-Rechtlichen: »Im Krisenmodus« heißt sein überaus lesenswerter Artikel über das öffentlich-rechtliche Fernsehen in Zeiten von Corona.
Es ist ein ausgezeichneter Text, einer der allerbesten, die seit Beginn der Corona-Zeiten über das Virus, seine Bekämpfung und die
Wirkung von beidem auf die Gesellschaft geschrieben wurden.
Jarren warnt vor »Systemjournalismus« und einer besonderen Form der »Hofberichterstattung«. Er will Aufklärung, Kritik, ein besseres Fernsehen.
»Das Fernsehen macht … die Krisenmanager, jeden Abend aufs Neue. Der Fernsehjournalismus dringt sichtlich darauf, fordert Führung wie Klarheit ein, bewertet die Performance.«
Alles werde sofort und sogleich zur Chefsache erklärt oder gemacht. Damit unterstütze der Rundfunk die Regierenden zu Lasten der Opposition. Die Regierenden sähen in der Krise ihre Chance. »Deshalb wird auf die Karte Krise gesetzt, Entschlossenheit im Kampf gegen den Feind inszeniert, um Wahlen zu gewinnen. Die Pandemie wird sogar zum Krieg stilisiert oder als Kampf bezeichnet, es wird Rettung versprochen, so mit der großen Geldkanone. Vor allem sollen andere Regeln gelten. Es geht um Deutungsmacht, Führungsanspruch, um die zukünftigen Machtpositionen.«
Der Kreis der Experten sei zu klein, die immergleichen Politiker wanderten von einer Talkrunde zur nächsten. Wem geht es wie mir? Ich möchte andere Gesichter sehen, wenn sie schon dieselben Sachen sagen, und die Talkmasterinnen plus Master Markus Lanz immer die ähnlichen Fragen stellen. Ist schon ok, gerade Lanz, den immer noch zu viele für ein Leichtgewicht halten, ist der beste, ernsthafteste Nachfrager des deutschen Fernsehens. Allenfalls Maybrit Illner kommt da
gelegentlich ran. Die ARD? Kann man vergessen!
Nur Statements, aber keine Debatte zwischen Expertinnen und Experten. Kein Streit. In der Krise werden die Reihen fest geschlossen.
Oft zeigen die Medien einen ähnlichen wohlmeinenden Paternalismus wie die Regierung, einen Paternalismus, der es im Zweifelsfall besser weiß als die Bürger und sie deshalb gern ein bisschen manipuliert – zu ihrem Besten natürlich. Ähnlich wie Kindererziehung.
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»Ignoranz«, »lernunfähig«, »die Akteure lernunwillig« – so beschreibt es Jarren. Darum »müssen die Signale, die nötigen Irritationen von außen kommen. Von außen, dort sind Medien und der Journalismus verortet. Der Journalismus muss aufbrechen – und nicht neue (Fernseh-)Stars aufbauen.«
Zugleich degeneriert die Form des Fernsehens: »Alles ist deshalb jetzt, nun, sofort, wir unterbrechen. Ständige Sondersendungen – ab jetzt für Monate?«
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Zu alldem gehört auch die Ästhetik. Etwa die albernen Cellophanhüllen über den Mikrofonen und die staatstragenden Nachrichtensprecher, die verkünden, wir müssen alle dies und das tun.
Es ist Ideologie, wenn die »Kulturzeit«-Moderatorin sagt: »Wie wird er aussehen, unser neuer Alltag?« Dabei ist es kein Alltag, es ist Ausnahmezustand, den man auch nicht als Alltag verkaufen muss.
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Was sollen Medien tun? In Zeiten der Pandemie dominiere die Exekutive. Diese Dominanz einer einzigen Gewalt des demokratischen Staates sei in Ausnahmezeiten wohl unvermeidlich. »Das erfordert von den Medien und vom Journalismus ein Höchstmaß an Achtsamkeit, Vorsicht, Zurückhaltung – und Distanz.«
In einer unklaren, offenen Situation gehe es mehr denn je um »Weitsicht …, Analyse, Kritik und Kontrolle. Es geht um Aufklärung, um die Prüfung von behaupteten
Sachverhalten, Annahmen, Prämissen wie die eigenständige Abschätzung der Folgen politischer Maßnahmen. Exekutiv- und Expertenvoten bedürfen der intensiven Prüfung und Diskussion.«
»Der öffentliche Rundfunk ist eine unabhängige gesellschaftliche Institution. Unabhängigkeit und Kompetenz sind entscheidende Faktoren, wenn er nach diesen turbulenten Phasen als relevant erachtet werden möchte. Er hat das Potenzial, dies nun zu zeigen.«
»Erst am Ende der Pandemiezeit wird Bilanz gezogen.«
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Jarren steht mit seiner Kritik nicht allein da. Auch andere Fachleute üben Kritik. Die Medienjournalistin Vera Linß forderte im DLF, die Themen Überwachung und Datenschutz im Zusammenhang mit den Maßnahmen der Regierung stärker in den Fokus zu nehmen. Viele Journalisten, so Linß, transportieren die Krisenstrategie der Bundesregierung weitgehend kritiklos. Diese »Art Service-Journalismus« sei auch in Krisenzeiten nicht die Aufgabe der Medien.
In einem Beitrag für das Portal »Übermedien«, auf den wir gesondert zu sprechen kommen, beschreibt Andrej Reisin den öffentlichen Rundfunk der Corona-Gegenwart als verlängerten Arm der Regierung. Man inszeniere Kampagnen à la »Wir vs. Virus«. Reisin kritisiert vor allem das Ausbleiben einer kritischen Berichterstattung und einer Debatte über die Maßnahmen der Regierung.
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Wie soll es weitergehen in diesem Selbstzerstörungstaumel unserer Gesellschaft? Ist das alles realistisch angesichts der Tatsache, dass ein Prozent der Bevölkerung vom Corona-Virus infiziert ist, dass also einerseits 99 der 100 Menschen, die uns öffentlich begegnen, grundsätzlich ungefährlich sind, und der Hundertste auch, wenn wir uns ein bisschen vernünftig verhalten und nicht gerade Pech haben? Und angesichts der Tatsache, dass es in diesem Tempo noch drei Jahre dauert, bis wir uns alle infiziert haben, was ja das letzte Ziel aller Maßnahmen ist – wie gern vergessen wird, auch weil es nicht opportun scheint, das jetzt zu kommunizieren.
(to be continued)