Cinema Moralia – Folge 216
Phantomschmerzen |
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Eine Gesellschaft legt den Mundschutz an: Augen ohne Gesicht von Georges Franju hat das zum Horrorfilm gemacht | ||
(Foto: Researchgate / CC BY) |
Genau heute sollten eigentlich die Filmfestspiele von Cannes eröffnet werden. Eigentlich wäre ich jetzt da, wie immer seit dem Jahr 2003. Aber 2020 ist auch in dieser Hinsicht ein absurd verlorenes Jahr, und ich fühle große Phantomschmerzen.
Cannes-Chef Thierry Frémaux erzählt im Screendaily, was von
der Selection 2020 übrig bleibt – außer der Hoffnung, wenigstens 2021 möge alles wieder halbwegs normal laufen, ob mit Impfstoff gegen den Virus, oder Impfstoff gegen die Hysterie und übertriebene Todesangst der Wohlstandsgesellschaft, ist mir dabei offen gesagt ziemlich egal.
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Kino und andere kulturelle Einrichtungen sind das Erste, das geschlossen wurde. Und sie sind das Letzte, das wieder geöffnet werden wird – so lautet die neue Definition von Kultur.
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»Wenn das so weitergeht, war’s das. Tschüss!« – manche ziehen ihre eigenen Konsequenzen. In einem emotionalen und durchaus bewegenden Facebook-Statement verkündet der Komiker, Film-Schauspieler, Musiker und Autor Helge Schneider, dass es mit ihm keine Live-Streaming-Auftritte oder Programme im Autokino geben werde. »Ich bin Künstler. Meine Kunst lebt davon, dass ich ein Publikum habe. … Ich bin Auftreter, ich sehe mich als Arbeiter. In der nächsten längeren Zeit wird es für mich nicht möglich sein, aufzutreten. …«
Er müsse eins klarstellen: »Ich trete auf nicht vor Autos. Ich trete nicht auf vor Menschen, die mit eineinhalb Metern Abstand sitzen müssen und Mund-Nasen-Schutz tragen. Ich trete auch nicht im Internet in einem gestreamten Programm auf, in einem Streaming-Dingsdabummsda. … Ich will mich damit auch nicht anfreunden. Denn beim Streamen fehlt ein ganz, ganz wichtiger Teil für meine Arbeit: Das seid ihr. Das funktioniert da nicht.
Meine Idee ist erst dann wieder aufzutreten,
wenn alle Freiheiten wieder da sind. Also wirklich alles. Ansonsten geht das nicht.«
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Eine andere Konsequenz: Die Digitalisierung. Nicht die der Filme, sondern der Vorführungen, die Verlagerung von ganzen Filmfestivals in das Streaming-Dingsdabummsda.
Das ist nicht Kino, keinesfalls, und in keiner Hinsicht. Und es ist schon gar nicht ein Kino-Filmfestival. Denn dazu gehören Menschen, mit denen man im Kino sitzt, die man trifft, mit denen man redet, denen man unverhofft begegnet.
Aber es ist besser als nichts. Und manche machen es geschickt. Darum
unterstützen wir auch aus Überzeugung das Münchner Dok.Fest, darum unterstützen wir die Kurzfilmtage Oberhausen, die rund 250 Kurzfilme in Programmen kuratieren und in Fenstern zeigen.
Die Streamingambitionen der größeren Verleiher haben diese dagegen bereits wieder begraben. Bemerkenswert genug, dass zum Beispiel X-Filme bisher keine Zahlen der gestreamten Känguru-Chroniken veröffentlicht hat.
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Wieder etwas anderes sind Filmfestivals, die es nur gibt, weil es Corona gibt, und um gewissermaßen das zu ersetzen, was uns allen jetzt fehlt.
In Berlin haben einige Filmemacher jetzt das »Corona Shortfilmfestival« ins Leben gerufen, und aus über tausend Einreichungen ein gut kuratiertes Programm zusammengestellt. Gesamtlänge: Etwas über zwei Stunden.
Es ersetzt
kein anderes Festival, die Filme haben inhaltlich wie formal alle irgend etwas mit Corona zu tun, sie kommunizieren mit der gegenwärtigen Situation. Schon das macht sie interessant. Darüber hinaus erzählen sie aus Ländern, die, obschon von Corona betroffen, derzeit gerade medial unterbelichtet sind: Bulgarien, Indien, Israel zum Beispiel.
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Die Digitalisierung hat auch eine andere Seite: Dieses Limbo-artige Zwischenreich, in dem wir alle uns befinden. Dieses Herumschimmeln zuhause, diese seit acht Wochen stattfindende tägliche Selbstmotivierung, in der Blackbox des Shutdown. »Hallo Ground Control?« Aber die Welt antwortet nicht.
Die Digitalisierung aller Kommunikationsverhältnisse führt vor allem vor, was nicht funktioniert. Zoom hier, Skype da, BlueJeans dort – doch hinter tausend Daten keine Welt!
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Es kommt zu Absurditäten. In Hessen konnte man das leider gerade besonders deutlich sehen. Veranstaltungen bis zu hundert Leute sind zugelassen, mit Abstandsregeln, klar. Kinos dürfen wieder geöffnet haben. Tolle Sache. Aber nur zwei Kinos machen mit. Warum?
Wegen Einfällen wie diesem: »Kultureinrichtungen, wie Theater, Opern- und Konzerthäuser und Kinos, dürfen ab dem 9. Mai wieder Besucher einlassen. In Einrichtungen, wo Besucher umherlaufen und stehenbleiben, gilt: Pro Besucher müssen 10 Quadratmeter Fläche zur Verfügung stehen. Dort wo Besucher sitzen, müssen 5 Quadratmeter Fläche pro Person zur Verfügung stehen.«
Ist den Verantwortlichen klar, wieviel 5 Quadratmeter sind? Das ist zwar nicht so viel, wie die 20 Quadratmeter, die in Österreich im Kulturbereich zugemutet werden, aber immer noch viel zu viel. In jedem Supermarkt quetschen sich die Menschen maskiert durch die Regalreihen, drängeln sich an der Kasse. Aber in der Kultur muss alles schön sauber
bleiben.
Ich möchte jetzt nicht das Fass aufmachen, wie hysterisch und übertrieben diese Regeln sowieso schon sind. Und wie wahrscheinlich es bei weniger als 2 Infizierten pro tausend Bürgern, davon die Hälfte genesen, eigentlich ist, dass man tatsächlich mit einem Infizierten im Kino sitzt, und wie wahrscheinlich, dass man sich dann noch ansteckt.
Aber niemand wird einbezogen. Da wurschteln Provinzpolitiker – Kultur ist schließlich Ländersache – vor sich hin, und was im Dorftheater schon nicht funktioniert, soll plötzlich für das Kino, das immer eine nationale Angelegenheit ist, taugen. Niemand redet mit den Verantwortlichen, also den Verbänden (aber nicht nur den großen) und den Betreibern vor Ort.
Der Hauptverband Deutscher Filmtheater (HDF) meldet erfreut, dass »in sechs Bundesländern bereits konkrete Wiedereröffnungsdaten veröffentlicht« wurden, und scheint tatsächlich nicht zu begreifen, dass hier eine weitere Schreckensvision der Kinobetreiber wahr zu werden droht – neben der schon konkret beschriebenen Unsinnswirtschaft der Abstandsregeln und »Eindämmungsmaßnahmen«, die auch über die Kultur hinaus einem kollektiven gesellschaftlichen Selbstmord gleichkommt.
Es droht nämlich ein in jedem Bundesland unterschiedlicher Kinostart mit 16 unterschiedlichen Abstands- und Hygienevorgaben. Bundesweite Starts lassen sich so nicht realisieren.
Das Beispiel führt vor: Die augenblickliche Situation der Kultur ist fatal. Und die Unwissenheit, stellenweise Ignoranz, das erschreckend unpraktische Denken vieler Kulturpolitiker, das sich jetzt so eklatant offenbart, weist über den Fall Corona weit hinaus.
Es erklärt im Nachhinein noch viel besser, warum die Kultur den Politikern so wenig zusagt. Sie sind allzuoft kulturfern, auch wenn sie Kulturpolitiker sind.
Für sie ist Kultur das Stadtteilfest, ein
Filmpreis, der Schauspielername auf irgendeiner Unterschriftsliste. Schmückendes Beiwerk. Gedöns.
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Das Erste, das geschlossen wurde und das Letzte das geöffnet werden wird – so lautet, wie gesagt, die neue Definition von Kultur. Wir haben verstanden.
»Systemrelevanz« hat alle Chancen, das »Unwort des Jahres« zu werden. Aber wie viele Unworte des Jahres sind derartige Benennung vor allem Ausdruck der momentanen Moralisierung der Gesellschaft und einer politisch überkorrekten Scham, die die Wahrheit nicht aussprechen möchte und lieber eine liebliche Feensprache bevorzugt. Systemrelevanz ist nämlich ein sehr wahrer, sehr präziser Begriff. Er bezeichnet: Was ist relevant für das System in den Augen des Systems?
Die Kultur offensichtlich nicht, das Kino nicht. Oder?
Aber diese Diagnose, wenn sie denn zutrifft, wirf neue Fragen auf.
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Vielleicht müsste die Antwort die umgekehrte sein: Ja, Kino ist nicht systemrelevant. Genau darum ist es notwendig. Weil Kino ein Luxusgut ist, elitär und überflüssig und eben deshalb das, was den Menschen vom Tier unterscheidet. Zivilisation.
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Grundsätzlich kann man sagen, dass die Situation der Filmkultur schon vor Corona sehr schlecht war und deswegen nun in ihrer Schlechtigkeit extrem verschärft wurde. Keinesfalls darf man auf Zeit spielen, keinesfalls Lösungsansätze und Maßnahmen zur Rettung der Kultur verzögern. Im Gegenteil ist dringendes sofortiges Handeln geboten.
Darum hat Ulrich Matthes, ohne dass man ihn nun über den grünen Klee loben muss, ins Schwarze getroffen, als er kürzlich (bei »Hart aber Fair«)
eine »Bestandsgarantie für die Kultur« gefordert hat.
Corona darf kein Vorwand zur Abwicklung von Kultur werden. Oder dafür, die Kultur sterben zu lassen, die der Kulturpolitik seit jeher ein Dorn im Auge war.
Weniger denn je funktioniert es auch, Film ausschließlich als Ware zu begreifen. Gerade in der Krise und im Shutdown, so könnte man argumentieren, hat der Film seine Notwendigkeit und seine Bedeutung als Kulturgut gezeigt. Als ein Mittel, um auch zur Zerstreuung im guten Sinne beizutragen, zugleich zur moralischen, politischen und gesellschaftlichen Stabilisierung. Zudem hat das Kino uns wie kaum ein anderes Medium Mittel in die Hand gegeben, um die augenblickliche Situation zu verstehen und um aus der augenblicklichen Situation heraus weiter zu denken.
Der Film im umfassenden Verständnis – also einschließlich der Fernsehfilme und Serien, die auch von der Filmförderung gefördert werden – hat seine Bedeutung gezeigt. Diese Bedeutung ist bisher von der Politik nicht ausreichend gewürdigt worden. Film und Kultur insgesamt werden aber das Letzte sein, das wiederum vom Shutdown zum Normalfall zurückkehrt.
Ganz praktisch bedeutet dies zum einen unmittelbare Maßnahmen zur Rettung jener, die die Gefährdetsten sind, der Kinos.
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Vergleichsweise missachtet wird aus meiner Sicht die Lage der Filmproduktionen. Hier ist in Zukunft die Frage der Versicherung eines Drehs essentiell. Da könnte man über staatliche Absicherungen nachdenken. Weiterhin essentiell ist die Frage, die ein Nico Hofmann zuletzt in die Runde geworfen hat: Inwieweit es für Filmdrehs Sonderregelungen geben könnte, analog zu den Sonderregelungen für die Fußball-Bundesliga. Das heißt: Ein komplettes Team wird getestet, und begibt sich zwei Wochen vor dem Dreh in Quarantäne, und dreht dann unter Quarantäne-Bedingungen – aber dafür mit Anfassen, Nähe, ohne Abstandsregeln.
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Noch wichtiger ist grundsätzliches Umdenken.
Gerade soll die Lufthansa gerettet werden. Diese Lufthansa hat je nach Zählweise zwischen knapp 38.000 und 145.000 Mitarbeiter. Längst nicht alle sind angestellt, da geht das Problem schon los.
Im Jahr 2018 machte die Fluggesellschaft ausweislich eigener Bilanzen 1,77 Mrd. Gewinn. Nicht mitgerechnet, das, was alles zusätzlich in den inzwischen bekannten Off-Shore Geldoasen lagert. Nun haben wir mal in der Schule gelernt, dass ein Metzgermeister, wenn er Gewinn macht, den
beiseite legt, um sich irgendwann eine neue Theke zu leisten und für die schweren Zeiten. Für den Metzgermeister mag das nach wie vor gelten. Wer glaubt, dass das auch die Lufthansa macht, hat aber von der modernen Wirtschaft nichts verstanden. Da gehen Gewinne nämlich in die Dividenden der Aktionäre, also vor allem jener armen Bürger, die ihr vom Munde Abgespartes fürs Altenteil auf die hohe Kante legen. Wie zum Beispiel Heinz Hermann Thiele, der mit 10 Prozent größte Anteilseigner des
Luftfahrt-Unternehmens, der 2017 mit 14 Milliarden Dollar gerade mal auf Platz 82 der reichsten Männer der Welt lag. Aber bitte kein Sozialneid jetzt – da hat der Mann schließlich hart für gearbeitet. Von nix kommt nix.
Um in der Corona-Krise gerettet zu werden, bittet die Lufthansa jetzt den Staat um 10 Milliarden – aber selbstverständlich ohne Mitspracherechte. Wahrscheinlich haben sie beim Unternehmen Angst, man könnte ihnen im Gegenzug klimafreundliche Flugpläne verordnen.
Von der Frage mal abgesehen, warum man nicht Herrn Thiele fragt, der nach Abzug der 10 Milliarden immer noch über 4 übrig hätte, was für einen fast 80-jährigen für die Rente reichen (!) sollte – und außerdem wäre das doch eine tolle zukunftssichere Investition – davon also mal abgesehen, bedeuten 10 Milliarden auf 145.000 Mitarbeiter (ich nehme jetzt die allerhöchste Zahl, also inklusive aller Mitarbeiter von Swiss, von Austria-Airlines und den diversen Unterfirmen) umgerechnet 68.965 Euro pro Kopf. Legen wir die Zahl der Kernmitarbeiter (38.000) zugrunde, wäre es gar 263.157 Euro pro Mitarbeiter.
Jetzt stellen wir uns mal vor, unsere Lieblingskinos, zum Beispiel das Münchner Werkstattkino und das Arena, das Wolf und der Filmrauschpalast in Berlin oder das Frankfurter »Mal sehn« bekäme pro Mitarbeiter über 68.900 Euro – die würden die Corona-Schließungen sofort verlängern!
Ich weiß natürlich auch, dass man das alles nicht eins zu eins übertragen und vergleichen kann. Aber die Rechnung macht doch deutlich, dass die geplanten Finanzhilfen für Großunternehmen zu den Dingen gehören, die man öffentlich debattieren sollte, anstatt sie ungefragt wie selbstverständlich durchzureichen, und die, wie meine Lieblingsbundeskanzlerin Angela Merkel es formuliert, »besser erklärt« werden müssen.
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Man muss versuchen, sich ganz unverblümt klarzumachen, es auszusprechen und zu beschreiben, was eigentlich passiert ist. Wir sind überwältigt worden. Es ist über uns gekommen, wie ein Angriff von Außerirdischen. Aliens hätten grundsätzlich nicht viel geheimnisvoller, wohl aber beunruhigender sein können: Unsichtbar, fremdartig, ein »Es«, mit dem man nicht kommunizieren, das man bestenfalls beobachten kann. Plötzlich war es da und plötzlich war alles anders.
Ich
glaube, dass unsere Gesellschaft kollektiv das, was Corona bedeutet, noch gar nicht annähernd zu Kenntnis genommen, geschweige denn verarbeitet hat.
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Diese Feststellung soll nicht raunen von Gefahren, nicht mutmaßen darüber, dass sich alles ändern werde, nicht zweite und dritte und in jedem Fall viel schlimmere Wellen an die schwarze Wand malen.
Im Gegenteil: Die »neue Normalität« von der jetzt gern geredet wird, und die ich zum Teil für Propaganda und Orwellsches Newsspeak halte, zum Teil schlicht für Emotions- und Gedankenkitsch, diese »neue Normalität« gibt es nicht, wird es nicht geben und soll es nicht geben. Besser, es
würde uns gelingen, das, was geschieht und von uns erlebt wird, nicht zum Normalfall hinzudefinieren, nicht als das Bessere schönzufärben, oder die gottgesandte verdiente Strafe für unsere Sünden des Hedonismus zu sehen, sondern in seiner Außergewöhnlichkeit anzunehmen. Erst einmal annehmen, wirken lassen, ohne es gleich zu definieren und in unsere Deutungsraster einzupflegen.
Das ist, wie so vieles in diesen Tagen, leichter gesagt, als getan, gerade auch hier von einem, der selber gerne interpretiert, definiert und mit Deutungsrastern nicht spart.
Tatsächlich könnte aber darin, in der Inflation der Deutungsraster, auch der Ausweg aus den zu leichten, einfachen schnellen Definitionen liegen.
Komplexitätssteigerung ist die Chance, wo der Virus scheinbar fortwährend klare Vorgaben macht.
Wenn ich schreibe, wir alle haben das noch gar nicht annähernd zur Kenntnis genommen, geschweige denn verarbeitet, dann ist das optimistisch gemeint: Halten wir inne und staunen.
Ist das nicht phantastisch? Geschieht da nicht gerade etwas ungemein Spannendes, Aufregendes, das zu Recht oft als Experiment beschrieben wird, das die Gesellschaft mit sich selber durchführt?
Die Gegenwart fühlt sich irreal an, aber wir wissen, dass sie wirklich ist.
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Zugleich stellen wir uns auf Verhältnisse ein, die uns noch vor drei Monaten an einen schlechten Film erinnert hätten.
Mir selbst geht es zum Beispiel gar nicht so, wie einigen, die ich kenne, und die behaupten, beim Ansehen von Filmen immer den Eindruck des Unwirklichen und Gefährlichen zu empfinden, wenn dort viele Menschen zusammenstehen.
Mir kommt tatsächlich der Normalfall weiterhin normal vor, und mein Gehirn und Gemüt vermögen sich nicht so schnell derart umzustellen,
dass sie Neues als selbstverständlich ansehen. Vermutlich ein Evolutionsnachteil.
Dafür empfinde ich seltsamste Befremdung, wenn ich mich in Zusammenhängen aufhalte, im Supermarkt, oder im öffentlichen Nahverkehr, wo viele Menschen Masken tragen, was in Berlin ansonsten glücklicherweise nicht der Fall ist. Ich will jetzt gar nicht, wie auch bisher nicht, in die unselige Maskendebatte einsteigen, denn ich finde, man kann gut eine Maske tragen, selbst wenn sie nichts bringen sollte und nur zur sozialen Beruhigung beiträgt; »Glücklicherweise« habe ich nur
hingeschrieben, weil ich die Maske selbst als eher unbequem empfinde, und es bei anderen als genauso unangenehm, wie immer schon die Burka und andere Gesichtsverschleierungen.
Aber das eigentlich Seltsame ist ja, wenn man sich dabei beobachtet, wie man auf die Masken der Anderen reagiert. Wir haben gelernt, das Gegenüber aufgrund seines Gesichts einschätzen zu können: Ist es aggressiv, höflich, ängstlich, gutaussehend, potentielles Flirtobjekt? Wie beurteilt und bewertet man
nun Menschen, die eine Maske vorm Gesicht tragen? Was sieht man und was sieht man nicht? Was sagen uns die Augen des Anderen?
Ich muss mir dieser Tage wohl noch einmal Les yeux sans visage (»Augen ohne Gesicht«) aus dem Jahr 1960 vom schlechthin genialen französischen Außenseiter-Regisseur Georges Franju ansehen. Er gilt als Horrorfilm, ist das zwar auch, aber doch in erster Linie eine sehr poetische psychologische Studie über das, was von einem Menschen übrig bleibt, wenn er im Wortsinn sein Gesicht verliert.
(to be continued)