14.05.2020
Cinema Moralia – Folge 216

Phan­tom­schmerzen

Franju
Eine Gesellschaft legt den Mundschutz an: Augen ohne Gesicht von Georges Franju hat das zum Horrorfilm gemacht
(Foto: Researchgate / CC BY)

Im Limbo: Nach Cannes ist vor Cannes, das Streaming-Dingsdabummsda und die Kultur bleibt auch sonst auf Abstand – Cinema Moralia, Tagebuch eines Kinogehers, 216. Folge

Von Rüdiger Suchsland

Genau heute sollten eigent­lich die Film­fest­spiele von Cannes eröffnet werden. Eigent­lich wäre ich jetzt da, wie immer seit dem Jahr 2003. Aber 2020 ist auch in dieser Hinsicht ein absurd verlo­renes Jahr, und ich fühle große Phan­tom­schmerzen.
Cannes-Chef Thierry Frémaux erzählt im Screen­daily, was von der Selection 2020 übrig bleibt – außer der Hoffnung, wenigs­tens 2021 möge alles wieder halbwegs normal laufen, ob mit Impfstoff gegen den Virus, oder Impfstoff gegen die Hysterie und über­trie­bene Tode­s­angst der Wohl­stands­ge­sell­schaft, ist mir dabei offen gesagt ziemlich egal.

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Kino und andere kultu­relle Einrich­tungen sind das Erste, das geschlossen wurde. Und sie sind das Letzte, das wieder geöffnet werden wird – so lautet die neue Defi­ni­tion von Kultur.

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»Wenn das so weiter­geht, war’s das. Tschüss!« – manche ziehen ihre eigenen Konse­quenzen. In einem emotio­nalen und durchaus bewe­genden Facebook-Statement verkündet der Komiker, Film-Schau­spieler, Musiker und Autor Helge Schneider, dass es mit ihm keine Live-Streaming-Auftritte oder Programme im Autokino geben werde. »Ich bin Künstler. Meine Kunst lebt davon, dass ich ein Publikum habe. … Ich bin Auftreter, ich sehe mich als Arbeiter. In der nächsten längeren Zeit wird es für mich nicht möglich sein, aufzu­treten. …«

Er müsse eins klar­stellen: »Ich trete auf nicht vor Autos. Ich trete nicht auf vor Menschen, die mit einein­halb Metern Abstand sitzen müssen und Mund-Nasen-Schutz tragen. Ich trete auch nicht im Internet in einem gestreamten Programm auf, in einem Streaming-Dings­dabummsda. … Ich will mich damit auch nicht anfreunden. Denn beim Streamen fehlt ein ganz, ganz wichtiger Teil für meine Arbeit: Das seid ihr. Das funk­tio­niert da nicht.
Meine Idee ist erst dann wieder aufzu­treten, wenn alle Frei­heiten wieder da sind. Also wirklich alles. Ansonsten geht das nicht.«

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Eine andere Konse­quenz: Die Digi­ta­li­sie­rung. Nicht die der Filme, sondern der Vorfüh­rungen, die Verla­ge­rung von ganzen Film­fes­ti­vals in das Streaming-Dings­dabummsda.
Das ist nicht Kino, keines­falls, und in keiner Hinsicht. Und es ist schon gar nicht ein Kino-Film­fes­tival. Denn dazu gehören Menschen, mit denen man im Kino sitzt, die man trifft, mit denen man redet, denen man unver­hofft begegnet.
Aber es ist besser als nichts. Und manche machen es geschickt. Darum unter­s­tützen wir auch aus Über­zeu­gung das Münchner Dok.Fest, darum unter­s­tützen wir die Kurz­film­tage Ober­hausen, die rund 250 Kurzfilme in Programmen kura­tieren und in Fenstern zeigen.

Die Strea­ming­am­bi­tionen der größeren Verleiher haben diese dagegen bereits wieder begraben. Bemer­kens­wert genug, dass zum Beispiel X-Filme bisher keine Zahlen der gestreamten Känguru-Chroniken veröf­fent­licht hat.

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Wieder etwas anderes sind Film­fes­ti­vals, die es nur gibt, weil es Corona gibt, und um gewis­ser­maßen das zu ersetzen, was uns allen jetzt fehlt.
In Berlin haben einige Filme­ma­cher jetzt das »Corona Short­film­fes­tival« ins Leben gerufen, und aus über tausend Einrei­chungen ein gut kura­tiertes Programm zusam­men­ge­stellt. Gesamt­länge: Etwas über zwei Stunden.
Es ersetzt kein anderes Festival, die Filme haben inhalt­lich wie formal alle irgend etwas mit Corona zu tun, sie kommu­ni­zieren mit der gegen­wär­tigen Situation. Schon das macht sie inter­es­sant. Darüber hinaus erzählen sie aus Ländern, die, obschon von Corona betroffen, derzeit gerade medial unter­be­lichtet sind: Bulgarien, Indien, Israel zum Beispiel.

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Die Digi­ta­li­sie­rung hat auch eine andere Seite: Dieses Limbo-artige Zwischen­reich, in dem wir alle uns befinden. Dieses Herum­schim­meln zuhause, diese seit acht Wochen statt­fin­dende tägliche Selbst­mo­ti­vie­rung, in der Blackbox des Shutdown. »Hallo Ground Control?« Aber die Welt antwortet nicht.

Die Digi­ta­li­sie­rung aller Kommu­ni­ka­ti­ons­ver­hält­nisse führt vor allem vor, was nicht funk­tio­niert. Zoom hier, Skype da, BlueJeans dort – doch hinter tausend Daten keine Welt!

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Es kommt zu Absur­di­täten. In Hessen konnte man das leider gerade besonders deutlich sehen. Veran­stal­tungen bis zu hundert Leute sind zuge­lassen, mit Abstands­re­geln, klar. Kinos dürfen wieder geöffnet haben. Tolle Sache. Aber nur zwei Kinos machen mit. Warum?

Wegen Einfällen wie diesem: »Kultur­ein­rich­tungen, wie Theater, Opern- und Konzer­thäuser und Kinos, dürfen ab dem 9. Mai wieder Besucher einlassen. In Einrich­tungen, wo Besucher umher­laufen und stehen­bleiben, gilt: Pro Besucher müssen 10 Quadrat­meter Fläche zur Verfügung stehen. Dort wo Besucher sitzen, müssen 5 Quadrat­meter Fläche pro Person zur Verfügung stehen.«

Ist den Verant­wort­li­chen klar, wieviel 5 Quadrat­meter sind? Das ist zwar nicht so viel, wie die 20 Quadrat­meter, die in Öster­reich im Kultur­be­reich zugemutet werden, aber immer noch viel zu viel. In jedem Super­markt quetschen sich die Menschen maskiert durch die Regal­reihen, drängeln sich an der Kasse. Aber in der Kultur muss alles schön sauber bleiben.
Ich möchte jetzt nicht das Fass aufmachen, wie hyste­risch und über­trieben diese Regeln sowieso schon sind. Und wie wahr­schein­lich es bei weniger als 2 Infi­zierten pro tausend Bürgern, davon die Hälfte genesen, eigent­lich ist, dass man tatsäch­lich mit einem Infi­zierten im Kino sitzt, und wie wahr­schein­lich, dass man sich dann noch ansteckt.

Aber niemand wird einbe­zogen. Da wursch­teln Provinz­po­li­tiker – Kultur ist schließ­lich Länder­sache – vor sich hin, und was im Dorf­theater schon nicht funk­tio­niert, soll plötzlich für das Kino, das immer eine nationale Ange­le­gen­heit ist, taugen. Niemand redet mit den Verant­wort­li­chen, also den Verbänden (aber nicht nur den großen) und den Betrei­bern vor Ort.

Der Haupt­ver­band Deutscher Film­theater (HDF) meldet erfreut, dass »in sechs Bundes­län­dern bereits konkrete Wiede­r­eröff­nungs­daten veröf­fent­licht« wurden, und scheint tatsäch­lich nicht zu begreifen, dass hier eine weitere Schre­ckens­vi­sion der Kino­be­treiber wahr zu werden droht – neben der schon konkret beschrie­benen Unsinns­wirt­schaft der Abstands­re­geln und »Eindäm­mungs­maß­nahmen«, die auch über die Kultur hinaus einem kollek­tiven gesell­schaft­li­chen Selbst­mord gleich­kommt.

Es droht nämlich ein in jedem Bundes­land unter­schied­li­cher Kinostart mit 16 unter­schied­li­chen Abstands- und Hygie­ne­vor­gaben. Bundes­weite Starts lassen sich so nicht reali­sieren.

Das Beispiel führt vor: Die augen­blick­liche Situation der Kultur ist fatal. Und die Unwis­sen­heit, stel­len­weise Ignoranz, das erschre­ckend unprak­ti­sche Denken vieler Kultur­po­li­tiker, das sich jetzt so eklatant offenbart, weist über den Fall Corona weit hinaus.
Es erklärt im Nach­hinein noch viel besser, warum die Kultur den Poli­ti­kern so wenig zusagt. Sie sind allzuoft kultur­fern, auch wenn sie Kultur­po­li­tiker sind.
Für sie ist Kultur das Stadt­teil­fest, ein Filmpreis, der Schau­spie­ler­name auf irgend­einer Unter­schrifts­liste. Schmü­ckendes Beiwerk. Gedöns.

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Das Erste, das geschlossen wurde und das Letzte das geöffnet werden wird – so lautet, wie gesagt, die neue Defi­ni­tion von Kultur. Wir haben verstanden.

»System­re­le­vanz« hat alle Chancen, das »Unwort des Jahres« zu werden. Aber wie viele Unworte des Jahres sind derartige Benennung vor allem Ausdruck der momen­tanen Mora­li­sie­rung der Gesell­schaft und einer politisch über­kor­rekten Scham, die die Wahrheit nicht ausspre­chen möchte und lieber eine liebliche Feen­sprache bevorzugt. System­re­le­vanz ist nämlich ein sehr wahrer, sehr präziser Begriff. Er bezeichnet: Was ist relevant für das System in den Augen des Systems?

Die Kultur offen­sicht­lich nicht, das Kino nicht. Oder?

Aber diese Diagnose, wenn sie denn zutrifft, wirf neue Fragen auf.

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Viel­leicht müsste die Antwort die umge­kehrte sein: Ja, Kino ist nicht system­re­le­vant. Genau darum ist es notwendig. Weil Kino ein Luxusgut ist, elitär und über­flüssig und eben deshalb das, was den Menschen vom Tier unter­scheidet. Zivi­li­sa­tion.

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Grund­sätz­lich kann man sagen, dass die Situation der Film­kultur schon vor Corona sehr schlecht war und deswegen nun in ihrer Schlech­tig­keit extrem verschärft wurde. Keines­falls darf man auf Zeit spielen, keines­falls Lösungs­an­sätze und Maßnahmen zur Rettung der Kultur verzögern. Im Gegenteil ist drin­gendes sofor­tiges Handeln geboten.
Darum hat Ulrich Matthes, ohne dass man ihn nun über den grünen Klee loben muss, ins Schwarze getroffen, als er kürzlich (bei »Hart aber Fair«) eine »Bestands­ga­rantie für die Kultur« gefordert hat.
Corona darf kein Vorwand zur Abwick­lung von Kultur werden. Oder dafür, die Kultur sterben zu lassen, die der Kultur­po­litik seit jeher ein Dorn im Auge war.

Weniger denn je funk­tio­niert es auch, Film ausschließ­lich als Ware zu begreifen. Gerade in der Krise und im Shutdown, so könnte man argu­men­tieren, hat der Film seine Notwen­dig­keit und seine Bedeutung als Kulturgut gezeigt. Als ein Mittel, um auch zur Zerstreuung im guten Sinne beizu­tragen, zugleich zur mora­li­schen, poli­ti­schen und gesell­schaft­li­chen Stabi­li­sie­rung. Zudem hat das Kino uns wie kaum ein anderes Medium Mittel in die Hand gegeben, um die augen­blick­liche Situation zu verstehen und um aus der augen­blick­li­chen Situation heraus weiter zu denken.

Der Film im umfas­senden Vers­tändnis – also einschließ­lich der Fern­seh­filme und Serien, die auch von der Film­för­de­rung gefördert werden – hat seine Bedeutung gezeigt. Diese Bedeutung ist bisher von der Politik nicht ausrei­chend gewürdigt worden. Film und Kultur insgesamt werden aber das Letzte sein, das wiederum vom Shutdown zum Normal­fall zurück­kehrt.

Ganz praktisch bedeutet dies zum einen unmit­tel­bare Maßnahmen zur Rettung jener, die die Gefähr­detsten sind, der Kinos.

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Vergleichs­weise miss­achtet wird aus meiner Sicht die Lage der Film­pro­duk­tionen. Hier ist in Zukunft die Frage der Versi­che­rung eines Drehs essen­tiell. Da könnte man über staat­liche Absi­che­rungen nach­denken. Weiterhin essen­tiell ist die Frage, die ein Nico Hofmann zuletzt in die Runde geworfen hat: Inwieweit es für Filmdrehs Sonder­re­ge­lungen geben könnte, analog zu den Sonder­re­ge­lungen für die Fußball-Bundes­liga. Das heißt: Ein komplettes Team wird getestet, und begibt sich zwei Wochen vor dem Dreh in Quaran­täne, und dreht dann unter Quaran­täne-Bedin­gungen – aber dafür mit Anfassen, Nähe, ohne Abstands­re­geln.

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Noch wichtiger ist grund­sätz­li­ches Umdenken.

Gerade soll die Lufthansa gerettet werden. Diese Lufthansa hat je nach Zählweise zwischen knapp 38.000 und 145.000 Mitar­beiter. Längst nicht alle sind ange­stellt, da geht das Problem schon los.
Im Jahr 2018 machte die Flug­ge­sell­schaft ausweis­lich eigener Bilanzen 1,77 Mrd. Gewinn. Nicht mitge­rechnet, das, was alles zusätz­lich in den inzwi­schen bekannten Off-Shore Geldoasen lagert. Nun haben wir mal in der Schule gelernt, dass ein Metz­ger­meister, wenn er Gewinn macht, den beiseite legt, um sich irgend­wann eine neue Theke zu leisten und für die schweren Zeiten. Für den Metz­ger­meister mag das nach wie vor gelten. Wer glaubt, dass das auch die Lufthansa macht, hat aber von der modernen Wirt­schaft nichts verstanden. Da gehen Gewinne nämlich in die Divi­denden der Aktionäre, also vor allem jener armen Bürger, die ihr vom Munde Abge­spartes fürs Altenteil auf die hohe Kante legen. Wie zum Beispiel Heinz Hermann Thiele, der mit 10 Prozent größte Anteils­eigner des Luftfahrt-Unter­neh­mens, der 2017 mit 14 Milli­arden Dollar gerade mal auf Platz 82 der reichsten Männer der Welt lag. Aber bitte kein Sozi­al­neid jetzt – da hat der Mann schließ­lich hart für gear­beitet. Von nix kommt nix.

Um in der Corona-Krise gerettet zu werden, bittet die Lufthansa jetzt den Staat um 10 Milli­arden – aber selbst­ver­s­tänd­lich ohne Mitspra­che­rechte. Wahr­schein­lich haben sie beim Unter­nehmen Angst, man könnte ihnen im Gegenzug klima­freund­liche Flugpläne verordnen.

Von der Frage mal abgesehen, warum man nicht Herrn Thiele fragt, der nach Abzug der 10 Milli­arden immer noch über 4 übrig hätte, was für einen fast 80-jährigen für die Rente reichen (!) sollte – und außerdem wäre das doch eine tolle zukunfts­si­chere Inves­ti­tion – davon also mal abgesehen, bedeuten 10 Milli­arden auf 145.000 Mitar­beiter (ich nehme jetzt die aller­höchste Zahl, also inklusive aller Mitar­beiter von Swiss, von Austria-Airlines und den diversen Unter­firmen) umge­rechnet 68.965 Euro pro Kopf. Legen wir die Zahl der Kern­mit­ar­beiter (38.000) zugrunde, wäre es gar 263.157 Euro pro Mitar­beiter.

Jetzt stellen wir uns mal vor, unsere Lieb­lings­kinos, zum Beispiel das Münchner Werk­statt­kino und das Arena, das Wolf und der Film­rausch­pa­last in Berlin oder das Frank­furter »Mal sehn« bekäme pro Mitar­beiter über 68.900 Euro – die würden die Corona-Schließungen sofort verlän­gern!

Ich weiß natürlich auch, dass man das alles nicht eins zu eins über­tragen und verglei­chen kann. Aber die Rechnung macht doch deutlich, dass die geplanten Finanz­hilfen für Groß­un­ter­nehmen zu den Dingen gehören, die man öffent­lich debat­tieren sollte, anstatt sie ungefragt wie selbst­ver­s­tänd­lich durch­zu­rei­chen, und die, wie meine Lieb­lings­bun­des­kanz­lerin Angela Merkel es formu­liert, »besser erklärt« werden müssen.

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Man muss versuchen, sich ganz unver­blümt klar­zu­ma­chen, es auszu­spre­chen und zu beschreiben, was eigent­lich passiert ist. Wir sind über­wäl­tigt worden. Es ist über uns gekommen, wie ein Angriff von Außer­ir­di­schen. Aliens hätten grund­sätz­lich nicht viel geheim­nis­voller, wohl aber beun­ru­hi­gender sein können: Unsichtbar, fremd­artig, ein »Es«, mit dem man nicht kommu­ni­zieren, das man besten­falls beob­achten kann. Plötzlich war es da und plötzlich war alles anders.
Ich glaube, dass unsere Gesell­schaft kollektiv das, was Corona bedeutet, noch gar nicht annähernd zu Kenntnis genommen, geschweige denn verar­beitet hat.

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Diese Fest­stel­lung soll nicht raunen von Gefahren, nicht mutmaßen darüber, dass sich alles ändern werde, nicht zweite und dritte und in jedem Fall viel schlim­mere Wellen an die schwarze Wand malen.
Im Gegenteil: Die »neue Norma­lität« von der jetzt gern geredet wird, und die ich zum Teil für Propa­ganda und Orwell­sches Newsspeak halte, zum Teil schlicht für Emotions- und Gedan­ken­kitsch, diese »neue Norma­lität« gibt es nicht, wird es nicht geben und soll es nicht geben. Besser, es würde uns gelingen, das, was geschieht und von uns erlebt wird, nicht zum Normal­fall hinzu­de­fi­nieren, nicht als das Bessere schön­zu­färben, oder die gott­ge­sandte verdiente Strafe für unsere Sünden des Hedo­nismus zu sehen, sondern in seiner Außer­ge­wöhn­lich­keit anzu­nehmen. Erst einmal annehmen, wirken lassen, ohne es gleich zu defi­nieren und in unsere Deutungs­raster einzu­pflegen.

Das ist, wie so vieles in diesen Tagen, leichter gesagt, als getan, gerade auch hier von einem, der selber gerne inter­pre­tiert, definiert und mit Deutungs­ras­tern nicht spart.
Tatsäch­lich könnte aber darin, in der Inflation der Deutungs­raster, auch der Ausweg aus den zu leichten, einfachen schnellen Defi­ni­tionen liegen.
Komple­xi­täts­stei­ge­rung ist die Chance, wo der Virus scheinbar fort­wäh­rend klare Vorgaben macht.

Wenn ich schreibe, wir alle haben das noch gar nicht annähernd zur Kenntnis genommen, geschweige denn verar­beitet, dann ist das opti­mis­tisch gemeint: Halten wir inne und staunen.
Ist das nicht phan­tas­tisch? Geschieht da nicht gerade etwas ungemein Span­nendes, Aufre­gendes, das zu Recht oft als Expe­ri­ment beschrieben wird, das die Gesell­schaft mit sich selber durch­führt?
Die Gegenwart fühlt sich irreal an, aber wir wissen, dass sie wirklich ist.

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Zugleich stellen wir uns auf Verhält­nisse ein, die uns noch vor drei Monaten an einen schlechten Film erinnert hätten.
Mir selbst geht es zum Beispiel gar nicht so, wie einigen, die ich kenne, und die behaupten, beim Ansehen von Filmen immer den Eindruck des Unwirk­li­chen und Gefähr­li­chen zu empfinden, wenn dort viele Menschen zusam­men­stehen.
Mir kommt tatsäch­lich der Normal­fall weiterhin normal vor, und mein Gehirn und Gemüt vermögen sich nicht so schnell derart umzu­stellen, dass sie Neues als selbst­ver­s­tänd­lich ansehen. Vermut­lich ein Evolu­ti­ons­nach­teil.

Dafür empfinde ich selt­samste Befrem­dung, wenn ich mich in Zusam­men­hängen aufhalte, im Super­markt, oder im öffent­li­chen Nahver­kehr, wo viele Menschen Masken tragen, was in Berlin ansonsten glück­li­cher­weise nicht der Fall ist. Ich will jetzt gar nicht, wie auch bisher nicht, in die unselige Masken­de­batte einsteigen, denn ich finde, man kann gut eine Maske tragen, selbst wenn sie nichts bringen sollte und nur zur sozialen Beru­hi­gung beiträgt; »Glück­li­cher­weise« habe ich nur hinge­schrieben, weil ich die Maske selbst als eher unbequem empfinde, und es bei anderen als genauso unan­ge­nehm, wie immer schon die Burka und andere Gesichts­ver­schleie­rungen.
Aber das eigent­lich Seltsame ist ja, wenn man sich dabei beob­achtet, wie man auf die Masken der Anderen reagiert. Wir haben gelernt, das Gegenüber aufgrund seines Gesichts einschätzen zu können: Ist es aggressiv, höflich, ängstlich, gutaus­se­hend, poten­ti­elles Flirt­ob­jekt? Wie beurteilt und bewertet man nun Menschen, die eine Maske vorm Gesicht tragen? Was sieht man und was sieht man nicht? Was sagen uns die Augen des Anderen?

Ich muss mir dieser Tage wohl noch einmal Les yeux sans visage (»Augen ohne Gesicht«) aus dem Jahr 1960 vom schlechthin genialen fran­zö­si­schen Außen­seiter-Regisseur Georges Franju ansehen. Er gilt als Horror­film, ist das zwar auch, aber doch in erster Linie eine sehr poetische psycho­lo­gi­sche Studie über das, was von einem Menschen übrig bleibt, wenn er im Wortsinn sein Gesicht verliert.

(to be continued)