Cinema Moralia – Folge 217
Eleganz und Barbarei |
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Michel Piccoli, »totalement, tendrement, tragiquement« | ||
(Foto: Michel Piccoli / Les Choses de la vie / Unifrance) |
»Jeden Abend ein bisschen Nichts ist eine ausgezeichnete Medizin.«
Michel Piccoli (1925-2020)
Der schönste aller Filme von Michel Piccoli? Dann wohl doch Claude Sautets Die Dinge des Lebens. Auch wegen Piccoli. Noch mehr wegen Romy Schneider. Vor allem aber wegen Claude Sautet selbst, seiner unvergesslichen Handschrift, seines unnachahmlichen Tons. Also vielleicht doch eher Die
Verachtung von Godard. Aber jeder Godard-Film ist ein Godard-Film, dieser erst recht, denn es ist ein Schlüsselfilm über das Autorenkino an sich. Und muss es hier wirklich Piccoli sein? Nein, so wenig wie Bardot, wie Palance. Fritz Lang muss es sein. Curzio Malapartes Villa auf Capri muss es sein. Ansonsten?
Aber welcher Film dann? Milou en mai, Eine Komödie im Mai von Louis Malle war ein Film, den ich seinerzeit zweimal im Kino sah, und einer der Filme, die mir als erstes einfielen, als ich am Montag die Nachricht von Piccolis Tod hörte. Da war Piccoli schon alt, sah älter aus, als er war, wirkte greisenhafter als er war, und doch ist er es, an den man sich erinnert. Vielleicht noch ein bisschen Miou-Miou, ein bisschen ‘68, das Staunen über
diesen Ausnahmezustand, der möglich war. Der Rest? Vergessen.
Der Film, der von Piccoli zumindest für mich mehr als jeder andere bleibt, ist möglicherweise gar nicht mal ein guter Film. Sein Regisseur ist vergessen. Und Piccoli spricht kein einziges Wort in ihm. Er ist wohl am ehesten »ein Produkt seiner Zeit«. Und doch... Und doch kann man ihn sich gar nicht anders vorstellen, als mit diesem Mann im Zentrum: Themroc von Claude Faraldo aus dem Jahr 1971 habe
ich irgendwann in den frühen 90er Jahren gesehen, da war das auch schon 20 Jahre her, und »innerlich«, »geistig« unvorstellbar weit entfernt, noch nicht zu historischem Material geronnen wie heute. Piccoli spielt einen Mann, einen Angestellten, dem es irgendwann reicht. Der angekotzt ist von sich selber, von allem bürgerlichen Gehabe. Und der auf seine Art, mitten in Paris, zum Hippie wird. Was macht er?
Er mauert die Tür zu seiner Wohnung von innen zu. Und mit einem riesigen Hammer
haut er die Wand seines Appartements zur Straße hin auf. Gesprochen wurde vorher nicht, nun aber grunzt, stöhnt krakeelt auch Piccoli wie im Affenhaus, oder einer Schauspieler-Übung. Seine Figur wäscht sich nicht mehr, rasiert sich nicht mehr, wirft alle Möbel auf die Straße. Zu essen gibt es Polizisten am Spieß. Trieb und Anarchie. Ein Traum von Flower-Power – und ein Film, der so anstrengend ist, wie absolut unvergesslich.
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In »Themroc«, glaube ich, wird die oft gut gehütete barbarische Seite des Michel Piccoli nach außen gestülpt. Ohne sie zu würdigen, nicht als ein »Trotzdem«-Beiwerk zu betrachten, kann man diesen Schauspieler und diesen Mann nicht verstehen. Wenn man den Film aber gesehen hat, vergisst man sie nie mehr. In all den sanften Altersrollen, dem guten Opa Piccolis, im melancholischen Papst bei Nanni Moretti zum Beispiel, lugt der Barbar, der Affe im Menschengewand jederzeit hervor.
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Erst als er über 40 war, kam er zu seinen großen Rollen. Und als ob er etwas nachzuholen hätte, wollte er spielen, spielen, spielen bis ans Ende seines Lebens.
Es gibt keine wirklichen Piccoli-Filme, und das nicht, weil er nicht vielem seinen Stempel aufgedrückt hätte, oder es hätte können. Sondern weil er sich mehr in deren Dienst gestellt hat. Ein viriler Typ und doch sensibel.
Seine Figuren haben etwas Zwingendes. In Piccolis Figuren gibt es immer mindestens zwei Piccolis. Ein expressives Selbst, das seine Umgebung erobert, sie sich unterordnet, eine Gewaltsamkeit und Brutalität, die unerträglich wäre, würde sie nicht gebrochen durch seine zweite verwundbare Seite.
Diese zweite Seite scheint diejenige zu sein, die uns näher steht: empfindsam, enttäuscht, gebrochen, aber stark dabei und immer resistent.
Piccoli war in vieler Hinsicht eine Ausnahme. Über 70 Jahre überspannt seine Karriere, über 170 Filme. Das französische Kino, so wie wir es kennen, ist auch ein Piccoli-Kino.
Geboren 1925, erlebte er schon als nicht mehr ganz junger Mensch die deutsche Besatzung, die in diesen Wochen vor genau 80 Jahren begann; er verbrachte seine Jugend, die Zeit der ersten Lieben, der ersten Rebellionen zwischen Fliegerangriffen und Verfolgung, zwischen Kollaboration und Résistance. Gleich nach der Befreiung, 1945, der erste Film. 20 Jahre fast ohne große Folgen.
Die Helden waren andere.
Vielleicht übersieht man bei den vielen Großen, mit denen er zusammenarbeitete, bei Namen wie Jean-Luc Godard, Claude Sautet und Louis Malle, Alfred Hitchock nicht zu vergessen, aber, dass Michel Piccoli vor allem ein Buñuel-Schauspieler ist, und das schon früh war. 1956 in Pesthauch des Dschungels und dann noch weitere vier Male. So viel hat er sonst nur noch mit Sautet gedreht,
ausgerechnet diesem ganz anderen.
Piccolis einmalige Mischung aus Eleganz und Barbarei passte extrem gut zu Buñuel. Die Gewalttätigkeit, die unter dem Smoking schlummert.
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Als politischer Mensch war Piccoli vielleicht ein bisschen naiv, also fanatisch an den falschen Stellen und zur falschen Zeit, als es alle waren. Viele vergessene cheesy Statements. Schauspieler-Politik. Auch für die DEFA hat Piccoli gedreht: Ernst Thälmann – Führer seiner Klasse.
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Milou en mai lehrte einen über Piccoli immerhin, dass jeder Mensch sein Alter hat. Manche brauchen lange, um es zu erreichen, andere leben lange über es hinaus. Piccoli ist darin schon auf langweilige Weise alt. Ein Zentrum der Passivität.
Danach drehte er keinen relevanten Film mehr, aber viele schöne Auftritte: Für Oliveira, für Angelopoulos. Und ist Rivettes Die schöne Querulantin eigentlich ein guter Film? Ich habe da so meine Zweifel. Könnte aber am Buch liegen.
Jetzt ist Piccoli mit 94 gestorben. Wir werden uns an einen erinnern, der spielen wollte bis zum Schluss. Und der letztlich immer hinter den Rollen, die er spielte, zurücktrat. Man könnte über Schauspieler Schlechteres sagen.
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Ein deutscher Filmregisseur hat sich jetzt als erster Filmemacher in Sachen Corona zu Wort gemeldet. Klarerweise der schnellste und jüngste von allen, der gerade mal 88 Jahre junge Alexander Kluge.
Im Deutschlandfunk sprach er über sein gemeinsames Buch, das er mit Ferdinand von Schirach in den
letzten Wochen geschrieben hat. Neben der Frage nach der Verhältnismäßigkeit von Einschränkungen und Opfern geht es darum, ob nach der Krise die Dinge überhaupt anders werden sollen. »In der Krise gibt es so etwas wie eine Sehnsucht, dass es doch eine bessere Welt gebe«, sagt Kluge.
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Warum kommt der substantiellste Grundsatzbeitrag von einem 88-jährigen? Warum ist kein anderer aus der Filmbranche bisher darauf gekommen, dass man die Systemrelevanz des eigenen Schaffens am Besten dadurch belegen könnte, dass man etwas Systemrelevantes tut? Ich meine jetzt nicht, im Krankenhaus aushelfen, oder Masken basteln, das können andere besser. Sondern denken, schreiben, filmen...
Was man vor allem jeden Morgen mit der Zeitung zum Frühstück bekommt, das ist
irgendeine Wortmeldung, in der es darum geht, dass man die Kultur bei den Rettungspaketen doch nicht vergessen sollte. Geschenkt! Stimmt ja. Aber wie langweilig. Wie überraschungslos – ausgerechnet von Leuten, die die Kunst des Überraschens wie keine zweite Gruppe beherrschen sollten.
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Um ehrlich zu sein, habe ich den Verdacht, dass dieses Defizit vor allem daran liegt, dass die meisten Künstler dem eigenen Tun nicht trauen, sich selber nicht vertrauen, und an ihr eigenes Tun nicht mit dem notwendigen Selbstvertrauen und der angemessenen Hybris glauben, und sich selbst daher nicht für systemrelevant halten. Dass sie selber glauben: Ja, stimmt ja eigentlich … Wer braucht schon Theater? Wer braucht schon Film? Wer liest schon Romane, will meine Bilder sehen, meine Musik hören?
Zum Beispiel bin ich mir auch nicht ganz sicher, ob es eigentlich ein richtiges Signal ist, all diese ganzen Dinge kostenlos im Netz zu tun, so wie es zurzeit getan wird: Denn Kunst ist ja trotz allem, und ob relevant oder nicht, inflationär da. Aber kostenlos im Netz. Und was nichts kostet, was inflationär da ist, das ist eben nichts wert. Kunst-Verknappung wäre möglicherweise die einzig angemessene Antwort auf die Ausgangsbeschränkungen und den kulturellen Shutdown. Wenn die
Menschen in ihren Wohnungen eingesperrt sind, und das öffentliche Leben fast auf Null heruntergefahren wird – warum soll man den Menschen die Kunst dann hinterhertragen? Warum lässt man sie dann nicht mal in dieser Hinsicht hungern und darben?
Warum begnügt man sich mit der Rolle des Hofkünstlers und Hofnarren, der das Volk unterhält und die schlimme Wirklichkeit in bunte Farben tunkt?
Wir degradieren uns damit selber. Und bekommen womöglich gerade das, was wir
verdienen.
Weil wir zu anderem, besserem nicht in der Lage sind.
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Adorno schrieb mal: »Ernst ist das Leben und heiter die Kunst, sagte man. Besser wär’s umgekehrt!«
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Klar es geht auch ganz einfach darum, dass Künstler irgendwie Geld verdienen müssen. Und das kann man dann viel mehr schlecht als recht online. Aber man entwertet damit gleichzeitig das eigene Tun. Und lässt bei den Menschen, bei den vielen, die nicht Kunst machen, die bestenfalls unser Publikum sind, das Gefühl entstehen: Es geht ja auch so.. Wir brauchen die Kinos nicht, brauchen das Theater nicht, denn irgendwie kommt ja alles per Stream zu uns. Auch wenn Amazon keine Bücher mehr transportiert, dann kauft man sie eben als eBook. Filme gibt’s bei Netflix, Amazon, Mubi, Sky und allen anderen – wozu muss man da ins Kino? So gewöhnen wir uns an die Einsamkeit; so gewöhnen wir uns daran, wie Robinson Crusoe auf seiner Insel uns selbst genug zu sein, allein und verlassen auf Corona-Island, aber mit 5G in jeder Kokusnuss. Vielleicht kommt Freitag und erlöst uns.
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Protest wäre auch nötig und eine angemessene Antwort. Aber nicht Protest für sich selber, und den eigenen Schrebergarten, und schon gar nicht Betteln für das eigene Säckel. Sondern Protest für das Allgemeine; für Schönheit und Freiheit. Für alles, was fehlt. Stellvertretend für alle anderen. Für die ganze Gesellschaft.
Alles leichter hingesudelt als getan, klar.
Trotzdem.
(to be continued)