Cinema Moralia – Folge 224
Die Organisation der Störung |
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Dirk Baeckers Aufsatzsammlung »Organisation und Störung« (Suhrkamp; Berlin 2011) ernst genommen und auf die gegenwärtige Lage in Kino und Filmkritik angewandt | ||
(Foto: Axel Timo Purr) |
»Offenbar sucht die Kunst ein anderes, nicht normales, irritierendes Verhältnis von Wahrnehmung und Kommunikation, und allein das wird kommuniziert.«
Niklas Luhmann, »Die Kunst der Gesellschaft«, S. 42»As I said to The New York Times when I was let go from Variety just over a decade ago, 'It’s the end of something.' What the next something is – for everyone in our business – seems less knowable than ever.«
Todd McCarthy»Störung, nicht Steuerung, ist der Oberbegriff für Führung und Management, seit sich die Organisation von der klassisch pyramidalen Hierarchie auf die post-klassische Netzwerkorganisation umstellt. Steuerung setzt auf eine lineare Zweck/Mittel Relation, Störung auf eine oszillierende Innen/Außen-Differenz.«
Mit diesen Sätzen beginnt Dirk Baecker seine Aufsatzsammlung »Organisation und Störung« (Suhrkamp; Berlin 2011). Wir nehmen mal diesen Satz ernst und versuchen ihn, gewissermaßen experimentell auf unser Thema, also auf das Kino und die Filmkritik zu beziehen.
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Film, Kinofilm zumal, verstehen wir seit jeher nicht als Wirtschaftsgut, sondern als Kunst. Dies ist die Prämisse. Sie ist, wiewohl bekannt, in regelmäßigen Abständen zu wiederholen, weil das Marktdenken, und das Streben nach ökonomischer Stromlinienförmigkeit, unser aller Alltag dominiert. Aber wir wissen, dass dies falsch ist, wie um die Amoral dieser Position.
Jenseits solcher normativer Feststellungen kann man beobachten, dass die Gleichsetzung von Film und
Wirtschaftsgut den Charakter vieler Werke ebenso verfehlt wie die Intention derjenigen, die sie schaffen. Diese Feststellung ist also einfach dumm.
Wie andere Kunstwerke werden Filmkunstwerke nicht in erster Linie produziert, um möglichst hohe Verkaufserlöse zu erzielen. Andere Investitionen sind lohnenswerter. Der Verkaufserlös ist erst ein nachgeordneter, und je höher er ist, ein umso willkommener Seiteneffekt.
Selbstverständlich gibt es gar nicht so wenige Filme, die in diesem Sinne keine Kunst sind, das heißt, die ausschließlich produziert werden, um Verkaufserlöse zu erzielen. Eines der gravierenden
Probleme der Filmförderung und der Denkweise unseres gesamten Filmsystems liegt darin, dass zwischen diesen beiden Formen des Films von der Kulturpolitik und der Filmförderung nicht unterschieden wird.
In diesem Sinne versteht Kulturpolitik und Filmförderung nicht einmal, womit sie es zu tun hat.
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»Kunst kann es überhaupt nur geben, und das ist keineswegs so trivial, wie es klingen mag, wenn es Sprache gibt. Kunst gewinnt ihre Eigenart daraus, dass sie es ermöglicht, Kommunikation stricto sensu unter Vermeidung von Sprache, also auch unter Vermeidung all der an Sprache hängenden Normalitäten durchzuführen. Ihre Formen werden als Mitteilung verstanden, ohne Sprache, ohne Argumentation. Anstelle von Worten und grammatischen Regeln werden Kunstwerke verwendet, um Informationen auf eine Weise mitzuteilen, die verstanden werden kann. Kunst ermöglicht die Umgehung von Sprache.«
Niklas Luhmann, »Die Kunst der Gesellschaft«, S. 39
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Kunst entsteht nur in und mit der Gesellschaft, ist also von der Gesellschaft nicht zu trennen. Um Kunst als solche zu verstehen, muss man fragen, welchen Sinn sie für die Gesellschaft erfüllt. Auch diese Frage ist keineswegs so trivial, wie sie klingen mag – trivial wären allenfalls Antworten, die Kunst für bestimmte Zwecke, Pädagogik oder Erbauung, Bebilderung von Manifesten oder Stichwortgeber für diese, in Dienst stellen wollen.
Das Gegenteil trifft die Sache besser. Die Beobachtung von Gesellschaften zeigt, dass die Aufgabe der Kunst darin liegt, zu irritieren und zu stören, aber auf eine bestimmte Weise. Aufgabe der Kunst, hier also des Kinos, ist Negation des Systems im System. Sie sind Störungen, aber produktive.
Kunstwerke sind Formen der Negation, die den Widerspruch suchen und die Alternative meinen. Wie die Filmkritik, die unter anderem darum dort, wo sie bei sich ist, eine eigenständige Form
der Kunst ist. Es geht der Kunst um eine Form der Beunruhigung, die das System die Gesellschaft dazu bewegt, sich mit sich selbst immer wieder neu abzustimmen. In der nach dem Muster des Netzwerks demokratisch verfassten Gesellschaft gilt diese Beunruhigung nicht mehr nur, wie einst im Absolutismus für die Spitze – den Hof –, sondern für jede Stelle, jeden Teil der Gesellschaft.
Damit gemeint ist die Gesellschaft als ganze, aber auch das Filmsystem, also der Zusammenhang von Filmemachern und Filmfinanzierern, Kunstfunktionären und Aufführungsbetrieb. Einerseits leben all diese Menschen nur durch und von Filmen – gäbe es Filme nicht, wären sie arbeitslos. Andererseits gerieren sich die meisten von ihnen, Filmförderer wie Kinobetreiber, Festivaldirektoren wie Filmemacher als Ermöglicher und Paten der Filme.
Die Filme selbst
stellen sich ihnen entgegen, stellen sie infrage, fordern sie heraus, weil sie ihre Kompetenz unter Beweiszwang setzen. Wenn der Film an der Kasse floppt – und das tut er in Deutschland regelmäßig –, dann müssen sie erklären und begründen, dann hat das System als Ganzes versagt, außer man kann dem Film als Einzelnem die Schuld geben. Genau das wird in der Regel versucht.
Die eigentliche Aufgabe, die eigentliche Negation des Systems, erfüllt der Film aber zur Zeit nicht. Er stellt nicht infrage,sondern spurt. Er irritiert nicht, sondern bestätigt: Werte, Modelle, Funktionsweisen. Er will nicht stören, sondern funktionieren und geschmeidig sein. Denn wenn er schon an der Kasse floppt, also die systemimmanenten Kriterien nicht erfüllt, dann möchte man doch die Geldgeber, deren Schatullen weiter geöffnet bleiben sollen, nicht vergällen.
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Warum es überhaupt Filmkritik gibt, ist nicht leicht zu beantworten. Bestimmt aber nicht, um Filme zu verkaufen.
Wer das erwartet, verfehlt nicht nur die Rolle der Kritiker, er versteht auch nichts von seiner Kundschaft, dem Publikum. Er hat seinen Beruf verfehlt nicht weniger als jene Kritiker, die sich als Hofschranzen verkleiden, ohne zu begreifen, dass da kein Hof ist, sondern nur ein paar Spießbürger, die vor Pappkulissen großes Kino spielen.
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Idealistisch formuliert heißt Filmkritik Negation des Systems im System. Filmkritik ist in diesem Sinne das Immunsystem des Filmbetriebs. Filmkritik betreibt und reguliert Konflikte, die im Filmbetrieb dafür sorgen, dass dessen Wachsamkeit und Anspannung erhalten, dass Alternativenbewusstsein gepflegt und die andauernde Suche nach neuen Lösungen herausgefordert werden kann.
Filmkritiker sind also notwendige Störer. Sie erfüllen damit im Filmbetrieb exakt die Funktion, die Dirk Baecker in einer Unternehmens-Organisation den Managern zuweist. Die Könige ohne Land müssen etwas führen, steuern und dadurch verbessern, das nicht ihnen gehört.
Sie sind Nachfolger der Aufklärer auch darin, dass sie Optimisten wider besseres Wissen sind.
Das alles begreifen zur Zeit die wenigsten.
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Erst dieser Tage habe ich davon erfahren, dass einer der bedeutendsten lebenden US-amerikanischen Kritiker, Todd McCarthy, im April entlassen wurde. Zum zweiten Mal in seiner Karriere.
Vor zehn Jahren traf es den heute 70-jährigen nach 31-jähriger Tätigkeit für Variety, gemeinsam mit vielen anderen Kollegen. Das bis dahin führende US-Branchenmagazin büßte diese Position schnell ein. Seitdem schrieb McCarthy für die unmittelbare
Konkurrenz, den Hollywood Reporter. Doch offenbar ist mit gutem Journalismus, mit Fakten, Recherche und deren klarer Kommentierung kein Geld zu machen.
McCarthy ist alles andere als ein Feind Hollywoods. Aber er ist kein Gefälligkeitsschreiber. Das genügt in Zeiten des Sturms, in denen viele Kritiker de facto auf den Strich gehen und dem Betrieb jeden gewünschten Dienst erweisen.
15 Millionen Dollar Verlust im Jahr sind ein Argument. Aber nicht für die Entlassung von einem der Hauptgründe, um die Zeitschrift zu lesen.
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In einem Blog-Beitrag schreibt McCarthy selbst über die Entlassung und skizziert mit lesenswerten Anekdoten seinen eigenen Lebensweg als Kritiker zwischen Anpassung und Autonomie. Allein dieser Text begründet, warum McCarthy ungeachtet seiner Urteile immer lesenswert ist.
Er beschreibt darin das Hollywood seiner Anfänge in den 70ern, unter anderem als Statist für einen Orson Welles-Dreh im Haus von Peter Bogdanovich. Er erzählt vom großzügigen Stil der alten Großkritiker wie Arthur Knight, seines früheren Chefs beim »Hollywood Reporter«: »a first-rate historian and teacher ... Fortuitously, genial Arthur was very keen on hosting movie-based cruise ship excursions and was therefore out of town much of the time, leaving it to me to review lots of great and major films of the mid-1970s, beginning with Barry Lyndon and The Man Who Would Be King.«
Aber auch frühe Pressionen.
Dann folgte »Variety« mit dem legendären Chefredakteur Peter Bart, der zuvor bei Paramount als Produzent unter Robert Evans gearbeitet hatte.
Und jetzt der Rausschmiss: »Now it‘s down to ground zero again, with owners of no journalistic background, cramped new quarters (which no one can enter anyway), severe staff contractions, enormous economic pressures and, for the moment, no new films being released or made. What were the bosses thinking when they gave me a raise last month? What on earth are they thinking now?«
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Auch Kenneth Turan ist gegangen. Der Chefkritiker der »L.A.Times«, der durch seinen Streit mit James Cameron weltberühmt wurde, in dem der größenwahnsinnige Filmemacher ernsthaft seinen Rausschmiss forderte – bloß weil Turan »Titanic« nicht mochte, konnte seinen Abgang immerhin noch selbst wählen – doch auch das Ende seiner Stimme seit über 30 Jahren bedeutet einen Bruch in der US-Filmlandschaft.
Turans knapper, pragmatischer Text zu seinem Abschied sagt eine Menge über diesen kühlen, wichtigen Kritiker. Für das Pathos sind dann die Filmemacher zuständig, für die Anekdoten sein Nachfolger Justin Chang.
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Es ist ein Blutbad, das gerade stattfindet, unter Filmkritikern wie unter Kinobetreibern, Verleihern, Filmemachern.
Es wird auch die deutsche Filmszene bald treffen.
(to be continued)