13.08.2020
Cinema Moralia – Folge 225

28 Meis­ter­werke

28 Meisterwerke
Kann sich ein Filmemacher als Filmemacher inszenieren? Auf jeden Fall! (Wim Wenders, Desperado)
(Foto: 24 Bilder)

Ein erster Versuch, meine Schwierigkeiten mit Wim Wenders zu beschreiben – Cinema Moralia, Tagebuch eines Kinogehers, 225. Folge

Von Rüdiger Suchsland

»Im Kino macht das Bild Angst.« Luc Godard

»Ist das Kino ein ausster­bendes Medium? Ja!
Haben Streaming-Dienste das Kino ersetzt? Ja!
Wenn das tradi­tio­nelle Fernsehen schon dem Untergang geweiht zu sein scheint, welche Über­le­bens­chance hat da das Kino? Keine!
Welche Zukunft hat das Kino heute? Keine!«
Wim Wenders

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Als ob mit seinem eigenen Werk auch das Kino zuende ginge.

Im Jahr 1982 hat Wim Wenders einem Dutzend Filme­ma­cher eine Aufgabe gestellt: Während der Film­fest­spiele von Cannes bat er sie in ein Hotel­zimmer und ließ sie allein, zusammen mit einer laufenden Film­ka­mera, einem laufenden Fernseher und vier Fragen zur Zukunft des Kinos.

Das Ergebnis war der Film Chambre 666, der beim Inter­na­tio­nalen Forum des Jungen Films der Berlinale gezeigt wurde.

Was die Filme­ma­cher aus der Vorgabe machten, verrät wie immer am meisten über diese Filme­ma­cher selbst und ist auch deshalb letzt­end­lich gar nicht so inter­es­sant, außer bei denen, wo man es schon vorher wusste: Godard mit Zigarre, ausge­rechnet bei ihm läuft im Hinter­grund auf dem Fern­seh­schirm ein Tennis­spiel, Roland Garros findet immer während Cannes statt, und Godard klagt, dass Wenders ihn so platziert habe, dass er das Spiel nicht sehen kann: »Der Ball hat das Wort; der Ball spricht, und ich spiele den Ball­jungen ... erst kommt das Sehen, dann das Sprechen ... Im Kino macht das Bild Angst. ... Holly­woods Traum ist es, nur noch einen einzigen Film zu machen ... Warum sind die Leute so kindisch?«

Der Beste ist Antonioni. Allein, wie er sich die Hosen hochzieht. Der einzige, der beim Sprechen herum­läuft. Wie in seinen Filmen auch, macht Antonioni etwas mit dem Raum und spricht dann sehr klug und traurig, aber auch wider­s­tändig, nicht weiner­lich über die Anpassung der Menschen an die Technik. »Ich mache lieber Expe­ri­mente anstatt zu reden. Ich habe das Gefühl, es wird nicht so schwierig, uns in neue Menschen zu verwan­deln.«
Tempi passati.

Herzog dagegen zeigt sich als ein Geck, der sich Schuhe und Strümpfe auszieht, überaus enttäu­schend ist auch Spielberg – ein Prick, der noch nichts von dem heutigen sympa­thi­schen Ex-Hippie hat. Und Fass­binder, keine drei Wochen vor seinem Tod, sehr kurz: Über »Sensa­ti­ons­kino« gegen das »ganz indi­vi­du­elle oder auch nationale Kino Einzelner.«

Ansonsten eine sehr ungenaue Über­set­zung, viel billiger Kultur­pes­si­mismus und für einen heutigen Betrachter die Erkenntnis, dass die Zeiten auch früher nicht immer besser waren. Ein totes Kino, nur die ganz Alten sind lebendig.

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Wenn Wim Wenders nun in Eric Friedlers Doku­men­tar­film selbst 40 Jahre später seine eigenen Fragen aus Chambre 666 beant­wortet, und zwar abgrund­tief pessi­mis­tisch, allzu pessi­mis­tisch, dann ist das erklärungs­be­dürftig und macht mich wütend – weil es sich der Mann hier wieder mal viel zu einfach macht.

Dass einer, der weiter Filme macht, dessen Werk aber längst hinter ihm liegt, melan­cho­lisch wird, wäre vers­tänd­lich. Der kalte Zorn, knapp am Rande zum Zynismus, der abge­klärte Ton, in dem Wenders das vorbringt, steht nicht nur im Kontrast zu den Kollegen und Freunden, die er vor 40 Jahren inter­viewt hat, er wird auch von Wenders selbst demen­tiert.

Mit Taten. Denn gerade sind 28 Wenders-Filme, und nicht die schlech­testen, in der Mediathek der ARD zu sehen.
Gegen den Willen von Wenders?

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Als ich ein Kind und dann Jugend­li­cher war, wären diese Filme »als Wenders-Reihe« im Fernsehen gelaufen, über vier bis acht Wochen. Heute in der Mediathek, für die Binge-Watcher.
Die Zahlen der wirklich zuschau­enden und Wenders' sich zunehmend in Behä­big­keit verwan­delnde Lang­sam­keit aushal­tende Zuschauer, die hätte ich mal gern. Auch die Zahlen der Downloads.

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28 Meis­ter­werke titelt die ARD dazu – woraus man nicht schließen muss, dass sie die dort fehlenden acht anderen Wenders-Filme plus diverse Episoden- und Kurzfilme nicht auch für Meis­ter­werke hält. Doch auch, wenn man Wim Wenders für einen der größten Filme­ma­cher aller Zeiten hält, wenn man ernsthaft glaubt, jeder seiner Filme sei wichtig... Gibt es das: Einen Regisseur, der nichts anderes produ­ziert als Meis­ter­werke? Der gewis­ser­maßen eine Meis­ter­werk-Fabrik ist? Der gar nicht anders kann, als noch im Schlaf meis­ter­lich zu agieren?
Anders gesagt: Warum immer diese komplett haltlosen Über­trei­bungen? Warum diese ganzen Super­la­tive?
Oder noch mal anders gesagt: Verrät es nicht alles über den deutschen Film, dass dieser über sich selbst nur in Form von solchen Super­la­tiven kommu­ni­zieren kann? Also gar nicht. Verrät es nicht die innere Unsi­cher­heit, verrät es nicht das kleine Denken, verrät es nicht den Schre­ber­garten im Kopf und den Jägerzaun im Gemüt?
Meis­ter­werke! Dann ist mir jeder Regisseur lieber, der es zu gar keinem Meis­ter­werk gebracht hat.

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»Im Kino macht das Bild Angst«, sagt Godard. Wenders' Bilder haben mir noch nie Angst gemacht.

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Wann soll man so etwas eigent­lich schreiben? Wenn irgend­wann, hoffent­lich erst in 20 Jahren oder noch später, der Nachruf auf Wim Wenders fällig ist, dann macht man das nicht. De mortuis nihil nisi bene.
Und dann fehlt auch die Zeit zum Nach­denken.

Der erste Film von Wenders, den ich im Kino gesehen habe, war Paris, Texas. Mit einem Mädchen, das ich toll fand. Falsche Entschei­dung. Ich erinnere mich an das Unbehagen danach. Dieses Präten­tiöse, Lackierte, Kitschige – war das also Kunst? Nastassja Kinski fand ich toll, wie jeder damals. Die Land­schaft war schön, aber die kannte ich aus anderen Filmen. Und diese hemmungs­lose Amerika-Verehrung, die aus Wenders' Bildern quillt, die habe ich schon als Jugend­li­cher nicht verstanden. Es war, glaube ich so, dass Wenders symbo­lisch für das stand, was man damals, Anfang der 80er Jahre für große Kunst hielt. Für das, was man zu bewundern hatte. Für das, was man keines­falls angreifen durfte – außer man wollte sich sofort als Banause outen. Wenn man sich wie ich für Film inter­es­sierte, dann musste man Wenders gut finden. Glaubte ich. Die Tatsache, dass ich Wenders mindes­tens lang­weilig fand, war bereits Beweis genug, dass es mit mir und dem Kino nichts werden konnte.
War das also Kunst? Es ging doch anders. Gut ich sah auch gerne andere Sachen: The Fog – Nebel des Grauens, Zärtliche Cousinen, La Boum. Star Wars natürlich. Aber auch Dressed to Kill von Brian de Palma, Woody-Allen-Filme, Diva und dann natürlich Once Upon a Time in America. Da sah man, dass Kino doch was ganz anderes sein konnte. Selbst im Fernsehen war Friedkins The French Connec­tion unver­gess­lich. Godards Week End. Irgendein Film mit einem Stau, und dann drehen alle durch. Und ein Film mit Giancarlo Giannini und Ornella Muti, der in Portugal spielte, während der Diktatur, und ganz traurig war. Und wenn dann einem im Fernsehen die Truffaut-Schau nicht nur gefiel, sondern sie einen dazu brachte, sich alle Truffaut-Filme aus der Videothek auszu­leihen und zu schauen, sich sogar eine VHS von Die ameri­ka­ni­sche Nacht zu kaufen – dann war das Kino. Aus der Videothek gab es auch Berto­lucci 1900. Es ging doch.
Nichts davon bei Wenders. Dafür diese getragene Bedeu­tungs­schwan­ger­schaft.

Das hat mich, wenn ich ehrlich bin, noch nie inter­res­siert.

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Die jungen Männer aus Wenders' Filmen, die waren neu. So wollte man nicht sein, jeden­falls ich nicht, aber den Typ kannte man. Sie waren »gut getroffen«, zeit­ty­pisch im Gegensatz zu den altklugen Kindern, die eine totale Erfindung sind, die es nur in deutschen Filmen gibt, wenn die Natur und die Seele klüger sein soll als Verstand und Kultur – so wie Menschen, die nackt vom 5-Meter-Turm ins Schwimmbad springen, wenn der deutsche Film mal so richtig ausge­lassen sein will.
Anfang der 80er waren sie schon etwas älter. Was ist aus ihnen geworden, im normalen Leben? Es sind, glaube ich, diese jungen Wenders-Männer, die im normalen Leben irgend­wann in der Toskana oder in Grie­chen­land von den Bauern noch billig ein leer­ste­hendes Haus ergattert haben und bis heute nicht wissen, ob sie die Bauern betrogen haben oder umgekehrt. Und die heute in irgend­einem gentri­fi­zierten Viertel der Großs­tädte Wein­handel oder Olivenöl­handel betreiben. Die die Welt erklären können. Oder das zumindest glauben. Und denen man ansieht, dass sie mal jung waren, so aussahen wie die Wenders-Träumer, weil ihre Gesichter heute zwar faltig sind, aber noch immer unzer­furcht.

Junge Männer, die Suchende sind, die nicht jene »Problem­ge­sichter« haben und »Konflikt­ge­sichter«, die Michael Klier einmal überaus hell­sichtig an den Schau­spie­lern des Neuen Deutschen Films beob­achtet hat, sondern die mehr diese glatten ausdrucks­losen Gesichter groß gewor­dener Kinder haben, alt gewor­dener Babys – diese jungen Männer in Wenders' Filmen, denen auch damals die Haare schon ausfallen, die immer allein sind, die in diesen Filmen lieber mit Kindern sprechen, weil sie mit Frauen nicht so richtig sprechen können, und die, wenn ihnen dann doch Frauen über den Weg laufen und offen­sicht­liche Avancen machen, dann schwei­gend lächeln und lächelnd schweigen, diese jungen Männer, die keine Masken vorm Gesicht haben, also keine Bärte tragen, mit denen sie ihr Gesicht verhüllen, keine Werner-Herzog-Schnurr­bärte, mit denen sie sich älter, stärker, erwach­sener, Mario-Adorf-mäßiger machen, die aber statt einer solchen Maske fast immer eine Kamera vorm Gesicht halten, diese jungen Männer finden ihre beste Verkör­pe­rung viel­leicht in dem »Philipp Winter«, den Rüdiger Vogler in Alice in den Städten spielt.

Ich weiß: Das hört sich jetzt viel­leicht nicht so an, aber ich mag Alice in den Städten und ein paar andere Wenders-Filme wirklich sehr gern. Auch natürlich, weil etwas von diesen jungen Männern und diesen altklugen Kindern und einigen anderen Figuren auch in mir ist. Weil diese Figuren Arche­typen sind, die in uns allen sind, uns Deutschen aus der alten Bundes­re­pu­blik.

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Ich möchte versuchen, meine Schwie­rig­keiten mit Wim Wenders zu beschreiben, aber um das ange­messen zu tun, denn so geht es ja auch nicht, werde ich mir jetzt erst noch mal die Filme ansehen müssen. 28 Meis­ter­werke! Oder so ähnlich...

(to be continued)