Cinema Moralia – Folge 226
Exklusive Zusammenarbeit von Monika Grütters und artechock film! |
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»Und wenn ihr Die Rüden gar nicht anschauen mögt, dann geht einfach in einen anderen Film! Hauptsache Kino.«(Connie Walther) | ||
(Foto: Real Fiction) |
Aus gutem Journalismus gute Filme machen: Kulturstaatsministerin Prof. Dr. Monika Grütters und »artechock Film« arbeiten in Zukunft enger zusammen. Konkret geht es dabei um eine Kooperation des Bundeskulturministeriums mit unserem Online-Magazin, renommierte »artechock«-Autoren werden Filmpolitiker und Auswahlgremien bei verschiedenen Projekten exklusiv beraten. Die neue Partnerschaft ist ein gelungenes Beispiel dafür, dass sich journalistische Stoffe in
unterschiedlichen Formaten, von Print bis Bewegtbild, erzählen lassen.
»artechock hat spannende Stoffe, deren Übersetzung in Kulturpolitik und vielleicht sogar Kinofilme lohnt. Wir freuen uns auf die Zusammenarbeit, die faszinierende Inhalte und fundiert recherchierte Zusammenhänge auch in kulturpolitischen Entscheidungen darstellen wird«, sagt Dunja Bialas, Redakteurin von »artechock Film«.
»Das Kulturstaatsministerium ist stolz, dass sie mit 'artechock' einen
so renommierten Partner für diese Zusammenarbeit gewinnen konnte. Das wahre Leben schreibt vielfach die besten Geschichten. Daraus fakten-basierte zeitgemäß und hochwertig produzierte Formate zu erschaffen, die die Bürger nicht nur unterhalten, sondern auch informieren, darauf freuen wir uns sehr«, so Kulturstaatsministerin Monika Grütters.
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Okay, okay, okay – für alle, denen jetzt kurz mal die Mass Bier oder die Morgen-Weißwurst aus der Hand gefallen ist: Kommando zurück! Dies war eine Parodie!! Es stimmt nicht, gottseidank!!! Fake news, ausnahmsweise in diesem Format.
Und recht so, liebe Leser! Auch wir konnten es nämlich nicht fassen, was wir da gestern gelesen haben. Und der kurze Blick auf den Kalender widerlegte die Vermutung, dass uns die monatelangen Corona-Ferien das Hirn verzwergt hatten und gestern erst der 1. April war.
Aber das musste doch einfach ein Scherz sein! Übrigens ein ganz schön schlechter. Auch Redakteurin Dunja Bialas, die oben in der Rolle der PR-Sprecherin zu hören war, dachte spontan an eine Sommerloch-Ente und
formulierte in Wahrheit: »Was ist das denn??? Positive Besprechungen der Constantin-Filme und Gratis-Anzeigen inklusive? Die SZ als Contentlieferant, zweites Standbein wie für die Constantin die Dokus?«
Aber es ist kein Scherz, sondern blutige Wahrheit des Zustands der sogenannten »Qualitätsmedien« – »Qualitätsmedien«, so nennen sich ja die »tchiboisierten« (s.u.) Medienhäuser gern, um sich von Online-Magazinen wie unserem zu unterscheiden – im frühen 21. Jahrhundert, die leider jedem rechtspopulistischen Hetzer gegen die freie, das heißt unabhängige Presse recht gibt: »Constantin Film« und »Süddeutsche Zeitung« vermeldeten gestern die »Exklusive Zusammenarbeit von Constantin Film und Süddeutsche Zeitung«.
Man möchte natürlich wissen, wen die Exklusivität alles ausschließt, aber unabhängigen Journalismus offensichtlich in jedem Fall.
Käuflich war die SZ zwar schon immer: Bisher aber nur am Kiosk für inzwischen geschlagene 3,20 Euro – übrigens ein horrender Preis: 6,26 Deutsche Mark, nach offiziellem, weiterhin gültigen Umrechnungskurs der Bundesbank. In 20 Jahren seit Einführung des Euro und drei Zeitungskrisen später hat sich damit der Verkaufspreis (am 31.12.1998
bei 2,20 DM) fast verdreifacht. Aber das nur am Rande.
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Die Meldung sei hiermit im Wortlaut ungekürzt zitiert: »München, 18. August 2020 – Aus gutem Journalismus gute Filme und Serien machen: Constantin Film und die Süddeutsche Zeitung arbeiten in Zukunft enger zusammen. Konkret geht es dabei um eine Kooperation der Film- und Fernsehproduktion mit dem Verlag der Süddeutschen Zeitung, renommierte SZ-Autoren werden Produzenten und Drehbuchautoren bei verschiedenen Filmprojekten exklusiv beraten. Die neue Partnerschaft ist
ein gelungenes Beispiel dafür, dass sich journalistische Stoffe in unterschiedlichen Formaten, von Print bis Bewegtbild, erzählen lassen.
'Die Süddeutsche Zeitung hat spannende Stoffe, deren Übersetzung in TV und vielleicht sogar Kinofilme lohnt. Wir freuen uns auf die Zusammenarbeit, die faszinierende Inhalte und fundiert recherchierte Zusammenhänge auch mit filmischen Mitteln darstellen wird', sagt Stefan Hilscher, Geschäftsführer der Süddeutsche Zeitung
GmbH.
'Die Constantin Film ist stolz, dass sie mit der SZ einen so renommierten Partner für diese Zusammenarbeit gewinnen konnte. Das wahre Leben schreibt vielfach die besten Geschichten. Daraus fakten-basierte zeitgemäß und hochwertig produzierte Formate zu erschaffen, die die Zuschauer nicht nur unterhalten, sondern auch informieren, darauf freuen wir uns sehr', so Oliver Berben, Vorstand für TV, Entertainment und digitale Medien der Constantin Film.
Als erstes Projekt
arbeiten Constantin Film und Süddeutsche Zeitung an einer High-End Dokumentation (ca. 3x60min) über die LOVEPARADE.
Thematisiert werden darin die anfängliche Erfolgsgeschichte in Berlin, das Ende mit der verheerenden Katastrophe in Duisburg im Jahr 2010 und der daraus resultierende, emotionale Impact, den dieses Unglück noch heute auf alle Beteiligten und die Gesellschaft hat. Als Co-Autor und Berater ist der renommierte SZ-Redakteur Bernd Dörries mit an Bord, der als einer
der ersten vom Unglücksort berichten konnte und die Geschehnisse rund um die Katastrophe verfolgt hat, bei der 21 Menschen starben und mehr als 541 schwer verletzt wurden. Produzenten sind Kai Fischer und Rüdiger Böss.
Ein weiteres geplantes Projekt ist eine neue fiktionale TV-Movie Reihe namens GERMAN CRIME.
GERMAN CRIME beleuchtet eine Auswahl spektakulärer deutscher Kriminalfälle der letzten 30 Jahre neu und erzählt dazu die Geschehnisse mit bislang unbekannten
Hintergründen, die sich aus SZ-Recherchen ergeben haben. Darunter werden Fälle sein, die großes mediales Aufsehen erregten, die Republik in Atem gehalten haben und der Gesellschaft bis heute im Gedächtnis geblieben sind.
Eingebracht und verhandelt wurde die Kooperation von Rüdiger Böss (Constantin Film) und Andreas Gericke (Süddeutsche Zeitung).
Über Constantin Film: Die Constantin Film AG steht seit über 40 Jahren für Qualität und Erfolg und hat entscheidend zur Entwicklung und
zum Ansehen des deutschen Films im In- und Ausland beigetragen. Das Unternehmen ist der bedeutendste unabhängige deutsche Hersteller und Auswerter von Produktionen im gesamten fiktionalen und non-fiktionalen audiovisuellen Bereich. Die Geschäftstätigkeit basiert auf den fünf Säulen Kinoproduktion/Rechteerwerb, TV-Produktion, Kinoverleih, Home Entertainment und Lizenzhandel / TV-Auswertung.
Über Süddeutsche Zeitung: Die Süddeutsche Zeitung (www.süddeutsche.de)
ist die größte überregionale Qualitätstageszeitung Deutschlands. Sie zeichnet sich durch meinungsfreudigen und unabhängigen Journalismus aus. Die Süddeutsche Zeitung legt Wert auf kritische Redakteure und kritische Leser. Von Montag bis Samstag berichtet die SZ Aktuelles und Hintergründiges aus den Ressorts Politik, Wirtschaft, Feuilleton, Panorama, Medien, Sport und Wissenschaft. Der preisgekrönte Qualitätsjournalismus und die Reichweitenstärke machen die SZ zu
einem verlässlichen Marktpartner für die werbungstreibende Wirtschaft. Die digitale Ausgabe der Süddeutschen Zeitung steht für innovatives Design, qualitativ hochwertigen Journalismus und eine hochgebildete Entscheider-Zielgruppe.
Für Rückfragen: Constantin Film
Filmpresse
Telefon: 089 44 44 600
E-Mail: filmpresse@constantin-film.de«
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Bei der »Süddeutschen« gibt es offenbar nix rückzufragen. Dabei hätten wir so einiges: Wie sehen in Zukunft zum Beispiel die meinungsfreudigen und unabhängigen Texte über Constantin aus? Und über Constantin-Konkurrenten? Und über Filmpolitik, wo die Constantin ja Partei und zwar dezidiert Partei und aktiver Gegner und Konkurrent vieler anderer Akteure ist.
Weitere Fragen: Findet die SZ-Redaktion diese Kooperation nicht eine Instinktlosigkeit sondergleichen, erst recht in Zeiten, in denen das Publikum besonders sensibel auf die Unabhängigkeit journalistischer Arbeit achtet?
Geht es der SZ wirklich so schlecht, dass sie sich an den Meistbietenden exklusiv verkaufen muss?
Warum erlaubt sie es der Constantin, sich so etwas wie ein Qualitätsmäntelchen umzuhängen?
Schließlich: Was soll eigentlich dieser Berben'sche Formulierungsmüll heißen: »Fakten-basierte zeitgemäß und hochwertig produzierte Formate …, die die Zuschauer nicht nur unterhalten, sondern auch informieren«?
Auch informieren? In der SZ? Nehmt Euch mal nicht zuviel vor, Freunde. Und was passiert, wenn die Fakten nicht mehr unterhalten? Macht dann Oliver B. immer noch Filme? Oder lassen wir die unter den Tisch fallen? Oder bürsten die Constantin-Dramaturgen so lange
drüber, bis die Fakten wieder unterhaltsam sind?
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Schon vor vielen Jahren schrieb Wolfram Schütte, der großartige langjährige Film- und Kulturredakteur der »Frankfurter Rundschau« über die »Tchiboisierung« der Zeitungslandschaft. Will heißen: Schon seit etwa 2002 verkauft die SZ ihre DVD-Edition mit Werbekommentaren auf der Feuilleton-Seite (»einzigartige Film-Edition! Ausgewählt und jeden Samstag neu vorgestellt von den Kinoredakteuren der Süddeutschen Zeitung«), es gibt die SPIEGEL-Bestsellerliste zu kaufen
(»Die vierzig besten Bücher aus vier Jahrzehnten! Jetzt zum Vorzugspreis für nur 299,- Euro für das Gesamtpaket!«), es gibt »DIE-ZEIT-Klassik-Edition (›verbindet Hintergrundwissen mit außergewöhnlichen Hörerlebnissen‹). Und so weiter.
Von den Verlags-Kreuzfahrten und der SZ-Vinothek ganz abgesehen.
Schütte schrieb:
›Natürlich ist die Süddeutsche Zeitung nicht Tchibo, aber wie der bundesweit vertretene Kaffeeröster … hält auch sie ihr
ursprüngliches Kerngeschäft durch aktiv und aggressiv beworbene Zusatzgeschäfte über Wasser. Wobei die Zeitung … ihre eigentlich unabhängigen Feuilletonredakteure als Laufburschen, Kellner oder Schlepper zum Kundenservice dienstverpflichtet, die ihrem Verleger die Waschzettel schreiben. … Zu meiner Zeit, bis in die Neunziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts, hätte eine solche »Dienstleistung« dem Ehrenkodex des Journalisten und
Feuilletonredakteurs diametral widersprochen.‹«
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Doch mit der Ehre und dem Kodex ist es bei den willigen Claqueuren im heutigen Mainstream-Zeitungsfeuilleton nicht mehr weit her. Lifestyle statt Bildung, man stellt ein Produkt her, kein Kunstwerk. Kein Wunder, dass das dann nicht mehr gekauft wird.
Die Zusammenarbeit mit abhängigen Medienhäusern wie Constantin heißt praktisch gesehen aber, dass hier ein Blinder und ein Lahmer sich verbinden – die neuen Player bei Netflix oder »Leonine«, die gerade überall alle abwerben, haben derart unseriöse Geschäfte nicht nötig und lachen sich ins Fäustchen.
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Zu unserer fruchtbaren Zusammenarbeit mit Monika Grütters verweisen wir auf die 18 Fragen unserer Verbände – im Verband der deutschen Filmkritik ist auch »artechock« vernehmbar vertreten – an die Kulturstaatsministerin zum Filmfördergesetz. Unter anderem wollen wir wissen: »Hat die BKM vor der Nicht-Novellierung des Filmfördergesetzes unsere Stellungnahmen gelesen?«
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Über Exil, den zweiten Spielfilm des Regisseurs Visar Morina, lese ich, der Film gehe an die Wurzel des Terrors: den Alltagsrassismus. Es gehe um den »Rassismus der Wohlmeinenden«. Bullshit! Oder freundlicher: Projektion des Autors.
Ich lese auch: Es gebe ein breit gefächertes Spektrum an Geschichten und Schicksalen in vielen Filmen, die im letzten Jahr die deutschen Kinos erreichten, die Integration, das Gefühl von Heimat sowie Zugehörigkeit und Identität zeigten: Synonymes, Nur eine Frau oder auch Green Book sind nur einige Beispiele, neben Exil. Eine Bankrotterklärung, denn nicht die behauptete »Inhaltgleichheit« müsste unser Thema sein, sondern mindestens auch die ästhetische Differenz.
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Man hat manchmal das Gefühl, als Filmkritiker von Jahr zu Jahr zunehmend zum Dasein einer Art Sachbuchrezensent zweiter Ordnung verdammt zu werden.
Denn unser Kino wandelt sich: zu Themenfilmen, Thesenfilmen, Illustrationen von Inhalten, noch mehr aber von guten Gesinnungen, zur Zurschaustellung von Meinungen.
Was da verloren geht, das ist vor allem die Erfahrung. Das ganz Unmittelbare des Lebens, das Alltägliche, das Sinnliche, das Haptische. Alles das interessiert zunehmend weniger, bzw. es interessiert nur noch dann, wo es dem dient, was gezeigt werden soll.
Wen interessieren »Vertrauensverlust«, »Identitätskrise«, »Der Verlust von Sicherheit« – jedenfalls im Kino? Wer will das sehen, wo es nicht zu einem existenziellen Zustand verdichtet wird, sondern Soziologie bleibt – und zwar, das muss ich als Soziologiefan hinzufügen, zu jener uninteressanten empirischen Soziologie, in der Statistik-Ameisen eine empirische Untersuchung auf die nächste häufen. Der »Verlust von Sicherheit« ist interessant. Aber er ist nicht interessant als Thema für eine bestimmte Minderheit.
Wenn das jemand schreibt, stellte er eine höchst gewagte Behauptung auf: Dass nämlich die Mehrheitsgesellschaft, die ganz »normalen Menschen« irgendeine Form von Sicherheit wirklich empfinden würden und daher verlieren könnten. Existenziell tun sie das nicht.
Das Kino aber sollte von existenziellen Stoffen handeln! Ich weiß, dass es jetzt wieder einige Menschen zynisch finden werden, dass ich so unsensibel bin, dass ich überhaupt nicht verstehe, was der Unterschied zwischen
einem Minderheitsangehörigen in Deutschland und einem Mehrheitsangehörigen ist. Doch! Das verstehe ich sehr wohl. Es hat nur hier nichts zu suchen.
Offenbar möchten zwar manche Menschen solche Filme sehen – ich möchte sie allerdings nicht sehen. Und ganz so viele können es dann auch nicht sein, die diese Filme sehen wollen, sonst hätten sie nämlich mehr Zuschauer.
Die einzigen, die sie wirklich sehen wollen, sind Filmförderer und Filmpolitiker, Leute die zu
phantasielos sind, um sich irgendwelche ästhetischen Stoffe vorzustellen, und sich irgend etwas vorzustellen, das poetisch ist, um einen Sinn für das zu haben, was Kunst eigentlich tun sollte. Unser Theater beispielsweise wäre genauso am Boden, wie es das deutsche Kino heute ist, wenn es auch von Förderstrukturen derart inhaltlich durchformatisiert wäre wie das Kino. Wenn es ähnlich wie das Kino eigentlich einem Setzkasten gleichen würde.
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Dieser Tage erreicht mich die Mail der Regisseurin Connie Walther: »Verzeiht, dass ich Euch eine Rundmail schreibe. Unter normalen Umständen würde ich jeder/jedem Einzelnen von Euch eine persönliche Premieren-Einladung schicken mit der Frage, ob ihr auf die Gästeliste mögt. Denn mein Kinofilm Die Rüden feiert Premiere in sieben Städten, und das ist wirklich ein sehr guter Anlass zu feiern: 8
Jahre habe ich in dieses Projekt investiert, es hat mein Leben mehr als jeder bisherige Film beschäftigt und darum würde ich gern ein rauschendes Fest feiern.
Aber die Umstände fürs Kino sind grad so gar nicht normal und Feste mit Abstandsregeln sind irgendwie keine. Es ist eine ungewöhnliche Zeit und dieses Schreiben ist der Versuch, damit angemessen umzugehen. Deshalb eine Rundmail, die Einladung ist und Appell.«
Ihr habt das sicherlich mitverfolgt, die Hilferufe, die offenen Briefe. Die Kinos jammern, sie sterben. Das Colosseum in Berlin ist dicht. 2001 hatte ich dort meine erste große Kino-Premiere: Wie Feuer und Flamme lief in allen Sälen, im Foyer gab’s danach ein Konzert, es war eine Mega-Veranstaltung. Damals dachte ich: so geht’s weiter. Wenn mir damals jemand erzählt hätte, dass 19 Jahre später Grabkerzen und Blumen auf den Stufen vor dem verschlossenen Gebäude liegen würden … was für eine Vorstellung hätte ich mir von der Welt gemacht, in der wir jetzt leben?
Noch sind die Kinos offen, noch kämpfen sie, mit strengen Hygienebedingungen, mit dem Umstand, dass die großen internationalen Verleiher ihre Filme zurückhalten, damit, dass es keine oder zu wenig Solidarität gibt, kein gemeinsames Durchziehen.
Vor dem Hintergrund, dass ein Großteil der Menschen es längst selbstverständlich findet, dass die Befriedung ihrer medialen (und sonstigen Konsum-)Bedürfnisse »just a mouseclick away« ist, ist es fast logisch, dass Netflix 20 Millionen mehr User durch Corona beschert wurden. Wieso denn auch nicht? Und doch: wir alle wissen, dass es ein ganz anderes Einlassen ist, einen Film in der anonymen Öffentlichkeit eines dunklen Kinosaals zu erleben, als zuhause im Privaten auf der Couch zu
lümmeln und die Komfort-Zone nicht wirklich zu verlassen. Wir wissen, welche Bedeutung es für eine Gesellschaft hat, dass ihre Kultur lebendig ist, dass es Orte gibt außerhalb von Privaträumen, die Begegnungsstätten sind, wo man auf Fremde trifft.
Kultur und Kunst – und Kino gehört zu beidem – sind systemrelevant. Aber diese Erkenntnis sickert nur sehr mittelbar durch, gefühlt gibt es grad so viel Wichtigeres.
Ich glaube tatsächlich, es kommt auf jeden Einzelnen von
uns an, auf unser Verhalten. Wartet nicht, geht ins Kino! Vor dem Hintergrund der 1/3 Belegung der Kinosäle sind die Verluste quasi schon im Voraus festgeschrieben, darum ist jede Kaufkarte existenziell. Wer sich es leisten kann, eine Karte zu kaufen, der möge es bitte tun mit dem guten Gefühl, die Kinos und einen kleinen Verleih, der ein großes Risiko eingeht mit dieser Herausbringung, zu unterstützen. Vielleicht schafft ihr es in eine ganz normale Vorstellung?
Und wenn ihr Die Rüden gar nicht anschauen mögt, dann geht einfach in einen anderen Film! Hauptsache Kino.
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Vor zehn Jahren starb Christoph Schlingensief.
Die HFF München hat Christoph Schlingensief zweimal als Studenten abgelehnt.
Ein WDR-Redakteur, so hört man in Bettina Böhlers Schlingensief-Dokumentarfilm In das Schweigen hineinschreien – und wir wüssten gern, wer das war – sagte bei der Abnahme des ersten gemeinsamen Films zu Schlingensief: »Du wirst niemals einen Menschen lieben können.«
Schlingensief hat Film als Gegengift verstanden, überhaupt Kunst als Gegen-Gift. Und als Apothekerssohn wusste er, dass alles nur eine Frage der Dosis ist.
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Es ist einfach, Schlingensief heute zu lieben, denn Schlingensief ist tot. Es war schwerer, ihn zu lieben, als er noch lebte, zumindest für sehr viele Spießbürger-Moralisten und Mainstream-Anhänger.
All jene, die Schlingensief heute lieben, und Fassbinder, müssen sich fragen, warum sie sich zugleich empören über Roman Polanski, sich über einen dffb-Direktor empören, der einer AfD-Anhängerin den nackten Hintern zeigt, die sich bei der Berlinale darüber empörten, dass ein Film wie DAU eine Art Stalinismus-Big-Brother inszeniert und die Erfahrung des Stalinismus nachempfindet, und die sich wundern, dass der Stalinismus nicht politisch korrekt war.
Warum
sie sich darüber wundern, dass es im Berlin des Alfred Döblin und dem Kino-Reload seiner Romanvorlage keine Frauen gibt, die sich so benehmen, wie man das im schwarz-grünen Milieu von Berlin Mitte gerne hätte? Dass da die Frauen vor allem Huren sind. Alle die sich über so etwas empören, die haben sich früher auch über Christoph Schlingensief empört, und heute sitzen sie im Film von Bettina Böhler und ergötzen sich und rufen: »Christoph wir brauchen dich!«
Im Augenblick bekommt das Ressentiment der Spießbürger, bekommt der Moralismus des Mainstreams viel zu viel Stimmen und viel zu viel Aufmerksamkeit und leider Gottes bekommt er vor allem zurzeit auch die öffentlich-rechtlichen Medien. Und es ist ganz schrecklich, dass man sich selber dabei ertappen muss, dass man manchmal gar nicht anders kann, als teilweise in dieselben Argumentationslinien zu verfallen, wie es die Leute aus den falschen Ecken tun.
Da brauche ich gern einen Christoph Schlingensief, der mir gute Ratschläge geben könnte.
(to be continued)