20.08.2020
Cinema Moralia – Folge 226

Exklusive Zusam­men­ar­beit von Monika Grütters und artechock film!

Die Rüden
»Und wenn ihr Die Rüden gar nicht anschauen mögt, dann geht einfach in einen anderen Film! Hauptsache Kino.«(Connie Walther)
(Foto: Real Fiction)

»Und vielleicht sogar Kinofilme«: Käuflichkeit, daraus resultierender, emotionaler Impact, deutsche Verbrechen, Schlingensief – Cinema Moralia, Tagebuch eines Kinogehers, 226. Folge

Von Rüdiger Suchsland

Aus gutem Jour­na­lismus gute Filme machen: Kultur­staats­mi­nis­terin Prof. Dr. Monika Grütters und »artechock Film« arbeiten in Zukunft enger zusammen. Konkret geht es dabei um eine Koope­ra­tion des Bundes­kul­tur­mi­nis­te­riums mit unserem Online-Magazin, renom­mierte »artechock«-Autoren werden Film­po­li­tiker und Auswahl­gre­mien bei verschie­denen Projekten exklusiv beraten. Die neue Part­ner­schaft ist ein gelun­genes Beispiel dafür, dass sich jour­na­lis­ti­sche Stoffe in unter­schied­li­chen Formaten, von Print bis Bewegt­bild, erzählen lassen.
»artechock hat spannende Stoffe, deren Über­set­zung in Kultur­po­litik und viel­leicht sogar Kinofilme lohnt. Wir freuen uns auf die Zusam­men­ar­beit, die faszi­nie­rende Inhalte und fundiert recher­chierte Zusam­men­hänge auch in kultur­po­li­ti­schen Entschei­dungen darstellen wird«, sagt Dunja Bialas, Redak­teurin von »artechock Film«.
»Das Kultur­staats­mi­nis­te­rium ist stolz, dass sie mit 'artechock' einen so renom­mierten Partner für diese Zusam­men­ar­beit gewinnen konnte. Das wahre Leben schreibt vielfach die besten Geschichten. Daraus fakten-basierte zeitgemäß und hoch­wertig produ­zierte Formate zu erschaffen, die die Bürger nicht nur unter­halten, sondern auch infor­mieren, darauf freuen wir uns sehr«, so Kultur­staats­mi­nis­terin Monika Grütters.

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Okay, okay, okay – für alle, denen jetzt kurz mal die Mass Bier oder die Morgen-Weißwurst aus der Hand gefallen ist: Kommando zurück! Dies war eine Parodie!! Es stimmt nicht, gott­sei­dank!!! Fake news, ausnahms­weise in diesem Format.

Und recht so, liebe Leser! Auch wir konnten es nämlich nicht fassen, was wir da gestern gelesen haben. Und der kurze Blick auf den Kalender wider­legte die Vermutung, dass uns die mona­te­langen Corona-Ferien das Hirn verzwergt hatten und gestern erst der 1. April war.
Aber das musste doch einfach ein Scherz sein! Übrigens ein ganz schön schlechter. Auch Redak­teurin Dunja Bialas, die oben in der Rolle der PR-Spre­cherin zu hören war, dachte spontan an eine Sommer­loch-Ente und formu­lierte in Wahrheit: »Was ist das denn??? Positive Bespre­chungen der Constantin-Filme und Gratis-Anzeigen inklusive? Die SZ als Content­lie­fe­rant, zweites Standbein wie für die Constantin die Dokus?«

Aber es ist kein Scherz, sondern blutige Wahrheit des Zustands der soge­nannten »Quali­täts­me­dien« – »Quali­täts­me­dien«, so nennen sich ja die »tchi­bo­i­sierten« (s.u.) Medi­en­häuser gern, um sich von Online-Magazinen wie unserem zu unter­scheiden – im frühen 21. Jahr­hun­dert, die leider jedem rechts­po­pu­lis­ti­schen Hetzer gegen die freie, das heißt unab­hän­gige Presse recht gibt: »Constantin Film« und »Süddeut­sche Zeitung« vermel­deten gestern die »Exklusive Zusam­men­ar­beit von Constantin Film und Süddeut­sche Zeitung«.

Man möchte natürlich wissen, wen die Exklu­si­vität alles ausschließt, aber unab­hän­gigen Jour­na­lismus offen­sicht­lich in jedem Fall.
Käuflich war die SZ zwar schon immer: Bisher aber nur am Kiosk für inzwi­schen geschla­gene 3,20 Euro – übrigens ein horrender Preis: 6,26 Deutsche Mark, nach offi­zi­ellem, weiterhin gültigen Umrech­nungs­kurs der Bundes­bank. In 20 Jahren seit Einfüh­rung des Euro und drei Zeitungs­krisen später hat sich damit der Verkaufs­preis (am 31.12.1998 bei 2,20 DM) fast verdrei­facht. Aber das nur am Rande.

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Die Meldung sei hiermit im Wortlaut ungekürzt zitiert: »München, 18. August 2020 – Aus gutem Jour­na­lismus gute Filme und Serien machen: Constantin Film und die Süddeut­sche Zeitung arbeiten in Zukunft enger zusammen. Konkret geht es dabei um eine Koope­ra­tion der Film- und Fern­seh­pro­duk­tion mit dem Verlag der Süddeut­schen Zeitung, renom­mierte SZ-Autoren werden Produ­zenten und Dreh­buch­au­toren bei verschie­denen Film­pro­jekten exklusiv beraten. Die neue Part­ner­schaft ist ein gelun­genes Beispiel dafür, dass sich jour­na­lis­ti­sche Stoffe in unter­schied­li­chen Formaten, von Print bis Bewegt­bild, erzählen lassen.
'Die Süddeut­sche Zeitung hat spannende Stoffe, deren Über­set­zung in TV und viel­leicht sogar Kinofilme lohnt. Wir freuen uns auf die Zusam­men­ar­beit, die faszi­nie­rende Inhalte und fundiert recher­chierte Zusam­men­hänge auch mit filmi­schen Mitteln darstellen wird', sagt Stefan Hilscher, Geschäfts­führer der Süddeut­sche Zeitung GmbH.
'Die Constantin Film ist stolz, dass sie mit der SZ einen so renom­mierten Partner für diese Zusam­men­ar­beit gewinnen konnte. Das wahre Leben schreibt vielfach die besten Geschichten. Daraus fakten-basierte zeitgemäß und hoch­wertig produ­zierte Formate zu erschaffen, die die Zuschauer nicht nur unter­halten, sondern auch infor­mieren, darauf freuen wir uns sehr', so Oliver Berben, Vorstand für TV, Enter­tain­ment und digitale Medien der Constantin Film.
Als erstes Projekt arbeiten Constantin Film und Süddeut­sche Zeitung an einer High-End Doku­men­ta­tion (ca. 3x60min) über die LOVEPARADE.
Thema­ti­siert werden darin die anfäng­liche Erfolgs­ge­schichte in Berlin, das Ende mit der verhee­renden Kata­strophe in Duisburg im Jahr 2010 und der daraus resul­tie­rende, emotio­nale Impact, den dieses Unglück noch heute auf alle Betei­ligten und die Gesell­schaft hat. Als Co-Autor und Berater ist der renom­mierte SZ-Redakteur Bernd Dörries mit an Bord, der als einer der ersten vom Unglücksort berichten konnte und die Gescheh­nisse rund um die Kata­strophe verfolgt hat, bei der 21 Menschen starben und mehr als 541 schwer verletzt wurden. Produ­zenten sind Kai Fischer und Rüdiger Böss.
Ein weiteres geplantes Projekt ist eine neue fiktio­nale TV-Movie Reihe namens GERMAN CRIME.
GERMAN CRIME beleuchtet eine Auswahl spek­ta­kulärer deutscher Krimi­nal­fälle der letzten 30 Jahre neu und erzählt dazu die Gescheh­nisse mit bislang unbe­kannten Hinter­gründen, die sich aus SZ-Recher­chen ergeben haben. Darunter werden Fälle sein, die großes mediales Aufsehen erregten, die Republik in Atem gehalten haben und der Gesell­schaft bis heute im Gedächtnis geblieben sind.
Einge­bracht und verhan­delt wurde die Koope­ra­tion von Rüdiger Böss (Constantin Film) und Andreas Gericke (Süddeut­sche Zeitung).
Über Constantin Film: Die Constantin Film AG steht seit über 40 Jahren für Qualität und Erfolg und hat entschei­dend zur Entwick­lung und zum Ansehen des deutschen Films im In- und Ausland beigetragen. Das Unter­nehmen ist der bedeu­tendste unab­hän­gige deutsche Hersteller und Auswerter von Produk­tionen im gesamten fiktio­nalen und non-fiktio­nalen audio­vi­su­ellen Bereich. Die Geschäft­s­tä­tig­keit basiert auf den fünf Säulen Kino­pro­duk­tion/Rech­te­er­werb, TV-Produk­tion, Kino­ver­leih, Home Enter­tain­ment und Lizenz­handel / TV-Auswer­tung.
Über Süddeut­sche Zeitung: Die Süddeut­sche Zeitung (www.süddeut­sche.de) ist die größte über­re­gio­nale Quali­täts­ta­ges­zei­tung Deutsch­lands. Sie zeichnet sich durch meinungs­freu­digen und unab­hän­gigen Jour­na­lismus aus. Die Süddeut­sche Zeitung legt Wert auf kritische Redak­teure und kritische Leser. Von Montag bis Samstag berichtet die SZ Aktuelles und Hinter­grün­diges aus den Ressorts Politik, Wirt­schaft, Feuil­leton, Panorama, Medien, Sport und Wissen­schaft. Der preis­ge­krönte Quali­täts­jour­na­lismus und die Reich­wei­ten­stärke machen die SZ zu einem verläss­li­chen Markt­partner für die werbungs­trei­bende Wirt­schaft. Die digitale Ausgabe der Süddeut­schen Zeitung steht für inno­va­tives Design, quali­tativ hoch­wer­tigen Jour­na­lismus und eine hoch­ge­bil­dete Entscheider-Ziel­gruppe.
Für Rück­fragen: Constantin Film
Film­presse
Telefon: 089 44 44 600
E-Mail: film­presse@constantin-film.de«

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Bei der »Süddeut­schen« gibt es offenbar nix rück­zu­fragen. Dabei hätten wir so einiges: Wie sehen in Zukunft zum Beispiel die meinungs­freu­digen und unab­hän­gigen Texte über Constantin aus? Und über Constantin-Konkur­renten? Und über Film­po­litik, wo die Constantin ja Partei und zwar dezidiert Partei und aktiver Gegner und Konkur­rent vieler anderer Akteure ist.

Weitere Fragen: Findet die SZ-Redaktion diese Koope­ra­tion nicht eine Instinkt­lo­sig­keit sonder­glei­chen, erst recht in Zeiten, in denen das Publikum besonders sensibel auf die Unab­hän­gig­keit jour­na­lis­ti­scher Arbeit achtet?
Geht es der SZ wirklich so schlecht, dass sie sich an den Meist­bie­tenden exklusiv verkaufen muss?
Warum erlaubt sie es der Constantin, sich so etwas wie ein Quali­täts­män­tel­chen umzu­hängen?

Schließ­lich: Was soll eigent­lich dieser Berben'sche Formu­lie­rungs­müll heißen: »Fakten-basierte zeitgemäß und hoch­wertig produ­zierte Formate …, die die Zuschauer nicht nur unter­halten, sondern auch infor­mieren«?
Auch infor­mieren? In der SZ? Nehmt Euch mal nicht zuviel vor, Freunde. Und was passiert, wenn die Fakten nicht mehr unter­halten? Macht dann Oliver B. immer noch Filme? Oder lassen wir die unter den Tisch fallen? Oder bürsten die Constantin-Drama­turgen so lange drüber, bis die Fakten wieder unter­haltsam sind?

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Schon vor vielen Jahren schrieb Wolfram Schütte, der groß­ar­tige lang­jäh­rige Film- und Kultur­re­dak­teur der »Frank­furter Rundschau« über die »Tchi­bo­i­sie­rung« der Zeitungs­land­schaft. Will heißen: Schon seit etwa 2002 verkauft die SZ ihre DVD-Edition mit Werbe­kom­men­taren auf der Feuil­leton-Seite (»einzig­ar­tige Film-Edition! Ausge­wählt und jeden Samstag neu vorge­stellt von den Kino­re­dak­teuren der Süddeut­schen Zeitung«), es gibt die SPIEGEL-Best­sel­ler­liste zu kaufen (»Die vierzig besten Bücher aus vier Jahr­zehnten! Jetzt zum Vorzugs­preis für nur 299,- Euro für das Gesamt­paket!«), es gibt »DIE-ZEIT-Klassik-Edition (›verbindet Hinter­grund­wissen mit außer­ge­wöhn­li­chen Hörer­leb­nissen‹). Und so weiter.
Von den Verlags-Kreuz­fahrten und der SZ-Vinothek ganz abgesehen.
Schütte schrieb:
›Natürlich ist die Süddeut­sche Zeitung nicht Tchibo, aber wie der bundes­weit vertre­tene Kaffee­röster … hält auch sie ihr ursprüng­li­ches Kern­ge­schäft durch aktiv und aggressiv beworbene Zusatz­ge­schäfte über Wasser. Wobei die Zeitung … ihre eigent­lich unab­hän­gigen Feuil­le­ton­re­dak­teure als Lauf­bur­schen, Kellner oder Schlepper zum Kunden­ser­vice dienst­ver­pflichtet, die ihrem Verleger die Wasch­zettel schreiben. … Zu meiner Zeit, bis in die Neunziger Jahre des vergan­genen Jahr­hun­derts, hätte eine solche »Dienst­leis­tung« dem Ehren­kodex des Jour­na­listen und Feuil­le­ton­re­dak­teurs diametral wider­spro­chen.‹«

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Doch mit der Ehre und dem Kodex ist es bei den willigen Claqueuren im heutigen Main­stream-Zeitungs­feuil­leton nicht mehr weit her. Lifestyle statt Bildung, man stellt ein Produkt her, kein Kunstwerk. Kein Wunder, dass das dann nicht mehr gekauft wird.

Die Zusam­men­ar­beit mit abhän­gigen Medi­en­häu­sern wie Constantin heißt praktisch gesehen aber, dass hier ein Blinder und ein Lahmer sich verbinden – die neuen Player bei Netflix oder »Leonine«, die gerade überall alle abwerben, haben derart unseriöse Geschäfte nicht nötig und lachen sich ins Fäustchen.

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Zu unserer frucht­baren Zusam­men­ar­beit mit Monika Grütters verweisen wir auf die 18 Fragen unserer Verbände – im Verband der deutschen Film­kritik ist auch »artechock« vernehmbar vertreten – an die Kultur­staats­mi­nis­terin zum Film­för­der­ge­setz. Unter anderem wollen wir wissen: »Hat die BKM vor der Nicht-Novel­lie­rung des Film­för­der­ge­setzes unsere Stel­lung­nahmen gelesen?«

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Über Exil, den zweiten Spielfilm des Regis­seurs Visar Morina, lese ich, der Film gehe an die Wurzel des Terrors: den Alltags­ras­sismus. Es gehe um den »Rassismus der Wohl­mei­nenden«. Bullshit! Oder freund­li­cher: Projek­tion des Autors.

Ich lese auch: Es gebe ein breit gefächertes Spektrum an Geschichten und Schick­salen in vielen Filmen, die im letzten Jahr die deutschen Kinos erreichten, die Inte­gra­tion, das Gefühl von Heimat sowie Zugehö­rig­keit und Identität zeigten: Synonymes, Nur eine Frau oder auch Green Book sind nur einige Beispiele, neben Exil. Eine Bank­rott­erklärung, denn nicht die behaup­tete »Inhalt­gleich­heit« müsste unser Thema sein, sondern mindes­tens auch die ästhe­ti­sche Differenz.

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Man hat manchmal das Gefühl, als Film­kri­tiker von Jahr zu Jahr zunehmend zum Dasein einer Art Sach­buch­re­zen­sent zweiter Ordnung verdammt zu werden.

Denn unser Kino wandelt sich: zu Themen­filmen, Thesen­filmen, Illus­tra­tionen von Inhalten, noch mehr aber von guten Gesin­nungen, zur Zurschau­stel­lung von Meinungen.
Was da verloren geht, das ist vor allem die Erfahrung. Das ganz Unmit­tel­bare des Lebens, das Alltäg­liche, das Sinnliche, das Haptische. Alles das inter­es­siert zunehmend weniger, bzw. es inter­es­siert nur noch dann, wo es dem dient, was gezeigt werden soll.

Wen inter­es­sieren »Vertrau­ens­ver­lust«, »Iden­ti­täts­krise«, »Der Verlust von Sicher­heit« – jeden­falls im Kino? Wer will das sehen, wo es nicht zu einem exis­ten­zi­ellen Zustand verdichtet wird, sondern Sozio­logie bleibt – und zwar, das muss ich als Sozio­lo­giefan hinzu­fügen, zu jener unin­ter­es­santen empi­ri­schen Sozio­logie, in der Statistik-Ameisen eine empi­ri­sche Unter­su­chung auf die nächste häufen. Der »Verlust von Sicher­heit« ist inter­es­sant. Aber er ist nicht inter­es­sant als Thema für eine bestimmte Minder­heit.

Wenn das jemand schreibt, stellte er eine höchst gewagte Behaup­tung auf: Dass nämlich die Mehr­heits­ge­sell­schaft, die ganz »normalen Menschen« irgend­eine Form von Sicher­heit wirklich empfinden würden und daher verlieren könnten. Exis­ten­ziell tun sie das nicht.
Das Kino aber sollte von exis­ten­zi­ellen Stoffen handeln! Ich weiß, dass es jetzt wieder einige Menschen zynisch finden werden, dass ich so unsen­sibel bin, dass ich überhaupt nicht verstehe, was der Unter­schied zwischen einem Minder­heits­an­gehö­rigen in Deutsch­land und einem Mehr­heits­an­gehö­rigen ist. Doch! Das verstehe ich sehr wohl. Es hat nur hier nichts zu suchen.
Offenbar möchten zwar manche Menschen solche Filme sehen – ich möchte sie aller­dings nicht sehen. Und ganz so viele können es dann auch nicht sein, die diese Filme sehen wollen, sonst hätten sie nämlich mehr Zuschauer.
Die einzigen, die sie wirklich sehen wollen, sind Film­för­derer und Film­po­li­tiker, Leute die zu phan­ta­sielos sind, um sich irgend­welche ästhe­ti­schen Stoffe vorzu­stellen, und sich irgend etwas vorzu­stellen, das poetisch ist, um einen Sinn für das zu haben, was Kunst eigent­lich tun sollte. Unser Theater beispiels­weise wäre genauso am Boden, wie es das deutsche Kino heute ist, wenn es auch von Förder­struk­turen derart inhalt­lich durch­for­ma­ti­siert wäre wie das Kino. Wenn es ähnlich wie das Kino eigent­lich einem Setz­kasten gleichen würde.

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Dieser Tage erreicht mich die Mail der Regis­seurin Connie Walther: »Verzeiht, dass ich Euch eine Rundmail schreibe. Unter normalen Umständen würde ich jeder/jedem Einzelnen von Euch eine persön­liche Premieren-Einladung schicken mit der Frage, ob ihr auf die Gäste­liste mögt. Denn mein Kinofilm Die Rüden feiert Premiere in sieben Städten, und das ist wirklich ein sehr guter Anlass zu feiern: 8 Jahre habe ich in dieses Projekt inves­tiert, es hat mein Leben mehr als jeder bisherige Film beschäf­tigt und darum würde ich gern ein rauschendes Fest feiern.
Aber die Umstände fürs Kino sind grad so gar nicht normal und Feste mit Abstands­re­geln sind irgendwie keine. Es ist eine unge­wöhn­liche Zeit und dieses Schreiben ist der Versuch, damit ange­messen umzugehen. Deshalb eine Rundmail, die Einladung ist und Appell.«

Ihr habt das sicher­lich mitver­folgt, die Hilferufe, die offenen Briefe. Die Kinos jammern, sie sterben. Das Colosseum in Berlin ist dicht. 2001 hatte ich dort meine erste große Kino-Premiere: Wie Feuer und Flamme lief in allen Sälen, im Foyer gab’s danach ein Konzert, es war eine Mega-Veran­stal­tung. Damals dachte ich: so geht’s weiter. Wenn mir damals jemand erzählt hätte, dass 19 Jahre später Grab­kerzen und Blumen auf den Stufen vor dem verschlos­senen Gebäude liegen würden … was für eine Vorstel­lung hätte ich mir von der Welt gemacht, in der wir jetzt leben?

Noch sind die Kinos offen, noch kämpfen sie, mit strengen Hygie­ne­be­din­gungen, mit dem Umstand, dass die großen inter­na­tio­nalen Verleiher ihre Filme zurück­halten, damit, dass es keine oder zu wenig Soli­da­rität gibt, kein gemein­sames Durch­ziehen.

Vor dem Hinter­grund, dass ein Großteil der Menschen es längst selbst­ver­s­tänd­lich findet, dass die Befrie­dung ihrer medialen (und sonstigen Konsum-)Bedürf­nisse »just a mous­eclick away« ist, ist es fast logisch, dass Netflix 20 Millionen mehr User durch Corona beschert wurden. Wieso denn auch nicht? Und doch: wir alle wissen, dass es ein ganz anderes Einlassen ist, einen Film in der anonymen Öffent­lich­keit eines dunklen Kinosaals zu erleben, als zuhause im Privaten auf der Couch zu lümmeln und die Komfort-Zone nicht wirklich zu verlassen. Wir wissen, welche Bedeutung es für eine Gesell­schaft hat, dass ihre Kultur lebendig ist, dass es Orte gibt außerhalb von Privat­räumen, die Begeg­nungs­stätten sind, wo man auf Fremde trifft.
Kultur und Kunst – und Kino gehört zu beidem – sind system­re­le­vant. Aber diese Erkenntnis sickert nur sehr mittelbar durch, gefühlt gibt es grad so viel Wich­ti­geres.
Ich glaube tatsäch­lich, es kommt auf jeden Einzelnen von uns an, auf unser Verhalten. Wartet nicht, geht ins Kino! Vor dem Hinter­grund der 1/3 Belegung der Kinosäle sind die Verluste quasi schon im Voraus fest­ge­schrieben, darum ist jede Kaufkarte exis­ten­ziell. Wer sich es leisten kann, eine Karte zu kaufen, der möge es bitte tun mit dem guten Gefühl, die Kinos und einen kleinen Verleih, der ein großes Risiko eingeht mit dieser Heraus­brin­gung, zu unter­s­tützen. Viel­leicht schafft ihr es in eine ganz normale Vorstel­lung?
Und wenn ihr Die Rüden gar nicht anschauen mögt, dann geht einfach in einen anderen Film! Haupt­sache Kino.

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Vor zehn Jahren starb Christoph Schlin­gen­sief.

Die HFF München hat Christoph Schlin­gen­sief zweimal als Studenten abgelehnt.

Ein WDR-Redakteur, so hört man in Bettina Böhlers Schlin­gen­sief-Doku­men­tar­film In das Schweigen hinein­schreien – und wir wüssten gern, wer das war – sagte bei der Abnahme des ersten gemein­samen Films zu Schlin­gen­sief: »Du wirst niemals einen Menschen lieben können.«

Schlin­gen­sief hat Film als Gegengift verstanden, überhaupt Kunst als Gegen-Gift. Und als Apothe­kers­sohn wusste er, dass alles nur eine Frage der Dosis ist.

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Es ist einfach, Schlin­gen­sief heute zu lieben, denn Schlin­gen­sief ist tot. Es war schwerer, ihn zu lieben, als er noch lebte, zumindest für sehr viele Spieß­bürger-Mora­listen und Main­stream-Anhänger.

All jene, die Schlin­gen­sief heute lieben, und Fass­binder, müssen sich fragen, warum sie sich zugleich empören über Roman Polanski, sich über einen dffb-Direktor empören, der einer AfD-Anhän­gerin den nackten Hintern zeigt, die sich bei der Berlinale darüber empörten, dass ein Film wie DAU eine Art Stali­nismus-Big-Brother insze­niert und die Erfahrung des Stali­nismus nach­emp­findet, und die sich wundern, dass der Stali­nismus nicht politisch korrekt war.
Warum sie sich darüber wundern, dass es im Berlin des Alfred Döblin und dem Kino-Reload seiner Roman­vor­lage keine Frauen gibt, die sich so benehmen, wie man das im schwarz-grünen Milieu von Berlin Mitte gerne hätte? Dass da die Frauen vor allem Huren sind. Alle die sich über so etwas empören, die haben sich früher auch über Christoph Schlin­gen­sief empört, und heute sitzen sie im Film von Bettina Böhler und ergötzen sich und rufen: »Christoph wir brauchen dich!«

Im Augen­blick bekommt das Ressen­ti­ment der Spieß­bürger, bekommt der Mora­lismus des Main­streams viel zu viel Stimmen und viel zu viel Aufmerk­sam­keit und leider Gottes bekommt er vor allem zurzeit auch die öffent­lich-recht­li­chen Medien. Und es ist ganz schreck­lich, dass man sich selber dabei ertappen muss, dass man manchmal gar nicht anders kann, als teilweise in dieselben Argu­men­ta­ti­ons­li­nien zu verfallen, wie es die Leute aus den falschen Ecken tun.

Da brauche ich gern einen Christoph Schlin­gen­sief, der mir gute Ratschläge geben könnte.

(to be continued)