Cinema Moralia – Folge 227
Some like it not |
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Der Gegensatz zu Identität heißt nicht Diversität, sondern Universalität. | ||
(Plakat: Designed by Macario Gómez Quibus. Copyright 1959 / Public domain) |
»Berlinale schafft Geschlechter ab«
BILD-Zeitung vom 25.08.2020
Es ist keine gute Idee. Genau genommen ist es sogar eine sehr schlechte Idee. Und man fragt sich, was denn bloß das immer noch neue Leitungsduo der Berlinale geritten haben mag, in der Pressemitteilung vom Montag gleich selten viele eklatante Fehler aufeinander zu häufen?
Vielleicht hat die hauseigene Presseabteilung ja die Chefs schlecht beraten.
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»Berlinale 2021: Festival findet physisch statt / Genderneutrale Schauspielpreise« war diese Meldung überschrieben.
Im Werbedeutsch wurde da ganz schön geschwurbelt: »Berlinale 2021 ist als physisch stattfindendes Festival geplant. Für den European Film Market (EFM) ist ein hybrides Modell vorgesehen. ...
Bereits beschlossen ist, dass die Sektion Generation in den Wettbewerben Generation Kplus und Generation 14plus 2021 ausschließlich Langfilme mit einer Spielzeit von mindestens 60 Minuten und keine Kurzfilme zeigen wird. ...
Erstmals werden die Schauspielpreise genderneutral
definiert. Statt der Auszeichnungen für den Besten Darsteller und die Beste Darstellerin werden künftig genderneutral ein ›Silberner Bär für die Beste Schauspielerische Leistung in einer Hauptrolle‹ und ein ›Silberner Bär für die Beste Schauspielerische Leistung in einer Nebenrolle‹ vergeben.
Eine weitere Neuerung ist der ›Silberne Bär Preis der Jury‹.
Der ehemalige ›Silberne Bär Alfred-Bauer-Preis‹ wurde 2020 aufgrund
neuer Erkenntnisse zur Position des ersten Berlinale-Leiters, Alfred Bauer, im Nationalsozialismus ausgesetzt und wird in Zukunft nicht mehr vergeben. Die Auswertung einer externen fachwissenschaftlichen historischen Untersuchung zu Alfred Bauer wird im Spätsommer vorliegen und dann veröffentlicht. ...«
»Die Auszeichnungen im Schauspielfach nicht mehr nach Geschlechtern zu trennen, ist ein Signal für ein gendergerechteres Bewusstsein in der Filmbranche«,
kommentiert das Leitungsduo der Berlinale.
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Das Letzte ist eine gute Nachricht für alle, die sich weder als Frau noch als Mann definieren. Also für etwa 0,2 Prozent der Bevölkerung.
Für die gut 50 Prozent der Bevölkerung, die wir bis auf Weiteres als Frauen ansehen, ist die Nachricht fatal. Der einzige Preis, der explizit für diesen Teil der Menschen gedacht war, wird per Umdefinition abgeschafft.
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Ob es eine gute Entscheidung ist, die Kurzfilme in der Kinder- und Jugendsektion »Generation« zu streichen, darüber kann man immerhin noch streiten. Zudem diese Entscheidung zunächst einmal nur für das kommende Jahr gilt. Natürlich ist sie trotzdem begründungsbedürftig, denn Kurzfilme sind gerade für Kinder und Jugendliche, je jünger umso mehr, das geeignetste Medium, um diese ans Kino heranzuführen. Warum also ausgerechnet hier streichen?
Andererseits gehören wir auch zu
denjenigen, die seit Jahr und Tag fordern, dass die vollkommen aufgeblähte, überladene und ständig überlaufende Berlinale endlich ihr Programm verschlanken solle – also können wir jetzt – wo sie das mal wenigstens an einer Stelle tut – schlecht sagen, dass dies nun auch wieder falsch ist.
Außerdem hat die Berlinale ja eine eigene Kurzfilmsektion, insofern ist es vielleicht tatsächlich die zweitbeste Idee, alle Kurzfilme aus allen Sektionen zu streichen und sie
in dieser einen Sektion zusammenzuführen, dort dann vielleicht auch Kurzfilme für Kinder und Jugendliche. Die allerbeste Idee wäre es natürlich, Kurzfilme so zu zeigen, wie es früher gemacht wurde, nämlich je einen Kurzfilm vor je einem langen Film, damit die normalen Menschen statt der üblichen Werbespots und Trailer und Sponsorenlogos dann mal etwas anderes sehen, für das sie auch nicht bezahlt haben – nämlich einen Kurzfilm, der vielleicht sogar gut ist, vielleicht sogar
genial, und vielleicht sogar von einem Regisseur stammt, der ein paar Jahre später dann mit seinem Langfilm den Goldenen Bär gewinnt oder besser noch die Goldene Palme in Cannes.
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Wir lassen jetzt auch mal den naheliegenden Spott über »hybrid« und »physisch« – »physisch stattfinden« würde die Berlinale natürlich auch, wenn Festivalakkreditierte und Kartenkäufe die Filme auf dem Rechner zu Haus im Bett oder in der Wanne im Stream anschauen würden.
Was das Berlinale-Leitungsduo uns vermutlich sagen möchte, ist, dass wir die Filme im Kino sehen sollen können. Das haben sie aber nicht gesagt.
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Das Wort »Kino« kommt in der 434 Worte umfassenden Pressemitteilung des nach eigenem Anspruch bedeutendsten deutschen Filmfestivals aber nicht ein einziges Mal vor. Einmal ist von »analogen Erlebnisräumen« die Rede. Auch das Wort Kultur taucht nur einmal auf. Dafür gleich viermal »genderneutral« bzw. »gendergerecht« und fünfmal die Begriffe Markt oder Branche. Und achtmal das Wort Festival. Das verrät die Prioritäten.
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Wie kann man aber bloß auf den dusseligen Gedanken kommen, die eigenen Preise derart umzubenennen, dass man sie in ihrer bisherigen Form de facto zerstört? Wieso schafft die Berlinale den einzigen Preis, der bislang explizit an eine Frau vergeben wird, womit die Jury gezwungen war, sich mit weiblichen Darstellerleistungen zu befassen, ab, und ersetzt sie durch »geschlechtsneutrale« Preise? Zudem minimiert man die Bedeutung des eigenen Preises auch dadurch, dass man statt zwei
Hauptrollen auszuzeichnen, jetzt eine Nebenrolle auszeichnen lässt.
Der Grund ist klar: Man möchte es politisch jedem recht machen, und hat Angst vor den Protesten der Lobbys des »Dritten Geschlechts«, mögen diese auch noch so klein sein. Dass man damit alle möglichen anderen Seiten gegen sich aufbringen würde, war zu erwarten – nur bei der Berlinale hat man es offenbar nicht vorausgesehen.
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Auch wenn einem der wieder mal überschrille Ton der »Pro Quote Film«-Pressemitteilungen auf die Nerven geht, hat man dort den Nagel auf den Kopf getroffen mit der rhetorischen Frage: »Spielt das Berlinale Leitungsduo mit einem genderneutralen Schauspielpreis das Ringen um Gleichstellung und Diversität gegeneinander aus?«
Statt hier weiter zu argumentieren, was mal eine unerwartete Leistung gewesen wäre, bläst Pro-Quote aber ins gleiche Horn, und spielt dann andersrum
das politische Feld gegen das ästhetische Feld aus und vermischt Berlinale-Statistiken mit »weltweiten Erhebungen« und diese dann wieder mit sexistischer Verzerrung, und dem Problem, dass Frauen ab 30 sukzessive von der Leinwand verschwinden.
Wohl nicht ganz ernst gemeint ist die hinterhergeschobene Bemerkung, bei der Berlinale gebe es nicht mal genderneutrale Toiletten.
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Das, was die Berlinale Entscheidung vor allem zeigt, ist, wie sich unsere Gesellschaft selbst fesselt, wenn sie sich auf das Paradigma der Diversität bzw. der Repräsentation überhaupt einlässt. Dann bleibt bald nur die Wahl zwischen falschen Alternativen. Dies sind die Dilemmata der Identitätspolitik. Wer sich auf das Denken in Gruppen-Identitäten einlässt, wird immer wieder solche Konflikte entfachen.
Der Gegensatz zu Identität heißt nicht Diversität, sondern Universalität. Wir müssen es aushalten, dass eine Gesellschaft nicht in Gruppen aufteilbar ist, nicht in kleine Gemeinschaften, sondern dass eine Gesellschaft aus Individuen besteht.
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Nicht klüger ist das Verhalten im Fall Alfred-Bauer-Preis. Lassen wir beiseite, ob Alfred Bauer sich in der NS-Zeit derart kompromittiert hat, dass man im Nachhinein die damnatio memoriae praktizieren muss.
Ein selbstbewusster Umgang würde dem bisherigen Alfred-Bauer-Preis – wenn man diesen Namen nicht behalten will oder kann – selbstbewusst einen neuen, aussagekräftigen Namen geben. Es muss ja kein Dieter-Kosslick-Preis werden.
Ihm aber den Namen »Preis der Jury« zu geben, zeugt von Feigheit wie von Mangel an Geschichtsbewusstsein. Einen beliebigeren Namen hätte man nicht finden können. Aber hätte man ihn nicht dann »Kleiner Preis der Jury« nennen müssen, um ihn vom
existierenden »Großen Preis der Jury« abzusetzen. Und ist nicht jeder Preis ein Preis der Jury?
Mit dieser größtmöglichen und -beliebigen Unverbindlichkeit wird die neue Post-Kosslick-Berlinale zum Teflonfestival: Hauptsache man kann ihr politisch nichts anhängen.
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Monatelang hatten sie geschwiegen. Monatelang hatte man nichts Offizielles von den beiden neuen Leitern der Berlinale gehört.
Inoffiziell dafür umso mehr. Denn aus der zweiten Reihe und den Kreisen der Mitarbeiter der Berlinale und aus, wie man so sagt, »gut informierten Kreisen« konnte man doch einiges davon erfahren, worüber im Hintergrund so gekämpft wurde bei der Berlinale.
Es wird ziemlich klar, dass es innerhalb der Berlinale verschiedene Meinungen gibt, wie mit
Corona umzugehen sei, und erst recht im Verhältnis zwischen Berlinale und BKM, also dem Bundeskulturministerium. Das, was sich bereits bei der Ernennung von Carlo Chatrian und Mariette Rissenbeek vor zwei Jahren angedeutet hatte, scheint inzwischen Tatsache zu werden: Die Verdoppelung der Direktoren-Spitze ist eigentlich eine Teilung und damit auch effektiv eine bewusste Schwächung der Berlinale-Führung – und eine Stärkung der politisch verantwortlichen und zuständigen
Kulturstaatsministerin. Offensichtlich will Monika Grütters den direkten Durchgriff auf die Berlinale haben und nutzt die jetzige Konstellation auch genau in diesem Sinn.
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Tatsächlich möchte die Kultur-Staatsministerin Fakten schaffen für eine Berlinale, die in der üblichen Form im Februar stattfindet, während das Leitungsduo als diejenigen, die solche forsch-fröhlichen Pläne dann in die Tat umsetzen und ihre Köpfe dafür hinhalten müssen, den »point of no return« ihrer Entscheidungen möglichst weit nach hinten schieben möchte. Bei der Berlinale arbeitet man derzeit mit mindestens fünf Szenarien für den kommenden Februar – von einem Festival, wie es jedes Jahr stattfindet, bis hin zu einem, das komplett ins Virtuelle verschoben ist, und mehreren Varianten dazwischen.
Warum Grütters sich darauf nicht einlässt, obwohl in ihrer Partei inzwischen über Karnevals-Verbote und Ähnliches nachgedacht wird, und daran festhält, den jährlichen Film-Karneval mit allem Drum und Dran inklusive Rosenmontagsumzug und Aschermittwoch stattfinden zu lassen, zumal die Ministerin im Fall einer sehr späten und kostenträchtigen Absage oder gar eines Abbruchs auch persönlich einen Schaden nehmen würde, ist nur auf den ersten Blick schwer zu verstehen.
Auf den
zweiten Blick wird es klarer. Denn immer wieder gibt es Stimmen aus Berlinale-Kreisen, die mehr oder weniger unverblümt darüber nachdenken, dass Corona eine hervorragende Gelegenheit wäre, um die Berlinale grundsätzlich neu aufzustellen, das heißt, um das weiterhin auf knapp 400 Filme und mehr als ein Dutzend Sektionen aufgeblähte Programm radikal zu entschlacken auf nicht mehr als die Hälfte – was immer noch doppelt so viel wäre, wie Cannes oder Venedig. Eine solche
Entschlackungskur würde die Berlinale konzentrierter machen und ihr mittelfristig viel mehr Manövrierfähigkeit geben, die Möglichkeit, wieder eine ernsthafte Konkurrenz zu Cannes und Venedig zu werden. Nebenbei könnte man auch im Personalbereich manche Alteingesessenen loswerden und den einen oder anderen Kopf in den Leitungsebenen der Sektionen und andere Abteilungen rollen lassen. Entsprechend stark sind die Widerstände gegen solches Denken im Berlinale-Mittelbau, deren
Angehörige nicht wie einige aus dem Kosslick-Leitungsstab in Rente oder neue Berlinale-ferne Positionen wechseln konnten. Entsprechend stark ist auch die Spaltung des Berlinale-Personals in Alte und Neue, und das Misstrauen der Alten, oft immer noch mit Kosslick verbundenen Fraktion gegenüber den Neuen, den Ausländern, die von Außen kamen.
Hinzu kommt die besondere Lage des unabhängigen Forums, da der Träger des Forums und Forums expanded, das »Arsenal Institut für Film und
Videokunst«, offenbar gerade sehr stark unter Corona und den Folgen leidet.
Ein weiteres grundsätzliches Problem: Die nach wie vor prekäre Raumsituation. Der Berlinale fehlen Kinos und die räumliche Lage um den Potsdamer Platz ist grundsätzlich unangenehm. Viele Besucher waren in den letzten Jahren zunehmend genervt durch zu enge Räume, zu wenige Sitzplätze und das Verschwinden fast aller Lokale. An dieser Situation dürfte sich in den nächsten Jahren nichts ändern, im Gegenteil wird sie sich noch verschärfen, wenn spätestens im Jahr 2025 die Mietverträge auch im bislang viel genutzten Filmhaus auslaufen.
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Wer geht eigentlich ins Kino, um eine Geschichte zu sehen? Wer guckt sich einen Film an, weil er nicht weiß, wie es ausgeht? Vor allem zeitgenössische Filmkritiker, ist mein Eindruck. Normale Menschen gehen in einen Film, weil sie einen Star sehen wollen oder weil sie die Filme des Regisseurs bisher gut fanden, oder weil sie einfach über den Film gar nichts gelesen haben, und deswegen nichts erwarten. Oder auch, weil sie unabhängig davon, ob sie die Geschichte nun kennen oder nicht,
vielleicht gerade sogar, wenn sie sie kennen, sie gerne sehen, und ein bisschen egal ist, ob das etwas komplett Neues ist, was ihnen da begegnet. Unsere Filmkritiker aber schreiben über Filme oft genug so, wie kein Mensch sonst, auch ein anderer Kunstkritiker nicht über das Kunstwerk schreibt, das er zu beurteilen hat.
Würde man einen diesen Filmkritiker in ein Shakespeare-Stück schicken, dann schriebe er: »Shakespeare kann seinen bisherigen Königsdramen nichts wirklich Neues
hinzufügen.« Und bei Ibsen: »Selbst wenn sich die lange Vorbereitung vor allem bei den einmal mehr hochklassigen Bildern auszahlt, fühlen sich andere Elemente doch etwas zu sehr wie eine Wiederholung von Themen der Vorgänger-Stücke an.«
(to be continued)