Cinema Moralia – Folge 229
Von »Ava« bis »Zombie Child« |
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Einer der Filme, die das Kino noch retten können: Bertrand Bonellos Zombi Child | ||
(Foto: Grandfilm) |
»'Bas les masques!' So lautet ein französischer Spruch, der dazu auffordert, die Masken fallen zu lassen, um Wahrheit sichtbar zu machen. Das war auch in diesem Jahr unser Anspruch an die Filme.«
Albert Wiederspiel, Leiter des Filmfest Hamburg
»Filme berühren!« Ein gutes Motto in Zeiten, in denen Unberührbarkeit vom Snobismus zur Tugend erhoben wird, in denen die Distanz zur neuen sozialen Anstandsregel werden soll.
Fast ein bisschen zu leise, zu hanseatisch bescheiden, findet unter diesem Motto gerade das Filmfest Hamburg statt – als erstes deutsches Filmfestival im Kino mit Menschen, ohne Stream-Surrogate. Dass Masken bestenfalls ein notwendiges Übel sind, aber nichts Gutes, nichts Wünschenswertes, das macht
der Hamburger Filmfest-Chef Albert Wiederspiel schon in seinem Grußwort gegen alle Coronagläubigkeit und Regelgehorsamsfreude klar. Masken verhüllen Wahrheiten und den freien Blick, übrigens auch den ihrer Träger.
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Man zeigt im Übrigen auch sehr gute Filme. Zum Beispiel Rascal vom Franzosen Peter Dourountzis, ein Film mit »Cannes 2020«-Label. Das Filmdebüt feierte am Dienstag in Hamburg seine Weltpremiere. Wie ein Chamäleon schillert die Hauptfigur zwischen luziferischem Charme und abgrundtiefer Bosheit, zwischen harter Brutalität und kindlichem Spiel.
Der Film begleitet einen Mann, der offenbar gerade aus dem Gefängnis entlassen wurde, obdachlos ist und in einer
französischen Provinzmetropole neu anfangen will. Man sieht, dass er charmant sein kann, aber auch wie brutal er gelegentlich wird. Er zieht bei einer Anarchisten-Community ein, mit denen er mal einen Supermarkt beklaut, nimmt Gelegenheitsarbeiten auf, aber nachdem man ihn schon vorher dabei sehen konnte, wie er Frauen massiv bedroht, bringt er eines Tages eine einfach um.
Nun sieht man seinem Alltag plötzlich mit ständigem Misstrauen zu. Was vorher den Effekt einer latenten,
unklaren Bedrohung hatte, wirkt nun wie in einem Horrorfilm: Jederzeit kann das Monster ausbrechen. Vaurien ist vor allem ein Film, der mit der Wahrnehmung der Zuschauer spielt. Ein Film der Blicke, der Perspektivwechsel, der Gefühlsschwankungen.
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Auch sonst ist der Boden unter uns in Bewegung geraten; nicht allein durch Corona.
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Die Form war grob, der Inhalt eindeutig: Lili Hinstin, die vor zwei Jahren überraschend als unbeschriebenes Blatt zur Nachfolgerin von Carlo Chatrian als Leiterin des Locarno-Festivals ernannt wurde, geht schon wieder, und zwar im Unfrieden nach nur einer richtigen Ausgabe des Filmfestivals, und dem Corona-Jahr.
2019, in dem einzigen Jahr, das tatsächlich unter ihrer Leitung stattfand, hatte sie viel Wind gemacht, einige spektakuläre Entscheidungen getroffen – etwa die Absage der bereits fest vereinbarten Retrospektive zu Blake Edwards, die durch eine interessante, aber fragwürdig ausgewählte und allzu politisch opportune zum »Black Cinema« ersetzt wurde – aber wenig Effekte erzielte, und letztendlich ein sehr ungenau kuratiertes Programm präsentierte, das allzu viele offene Flanken aufwies.
Man kann mit reinem Kunst-Snobismus kein Filmfestival machen.
Im Gegensatz zur Behauptung des Berliner Weltblättchens »Tagesspiegel« war die Französin auch keineswegs »die erste Frau an der Spitze eines A-Filmfestivals«, vielmehr war Locarno bereits 2001-2005 von der Italienerin Irène Bignardi geleitet worden.
Auch im Corona-Jahr hatte Hinstin versagt: Locarno fand als einziges unter allen größeren Festivals keine Antwort auf die Pandemie. Zudem sorgte die desaströse Pressepolitik dafür, dass Beobachter nicht verstanden, was Locarno
eigentlich tat und wollte.
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Jetzt stellt sich natürlich die Frage nach der Nachfolge auf dem schnell wechselnden Chefsessel des Schweizer Festivals, das vielerlei Gefahren und Angriffen ausgesetzt ist – im Inland durch den so neureichen wie glatten Konkurrenten in Zürich, aus dem Ausland als kleinstes A-Festival Europas.
Ausgerechnet Carlo Chatrian, mit sieben Amtsjahren einer der längsten Locarno-Leiter, könnte, wenn er nur wollte und den nötigen Mut hätte, seinem früheren Arbeitgeber den sicheren Todesstoß versetzen. Dazu müsste er nur den Mut zu einem echten Neuanfang bei der Berlinale aufbringen.
Ich bin mir ja der Tatsache sehr bewusst, dass ich in den letzten Jahren in Deutschland als einer der größten oder schärfsten Berlinale-Kritiker wahrgenommen wurde. (Damit geht es schon los: Nicht als Kosslick-Kritiker, sondern als Berlinale-Kritiker.) Das kann man in einem Land, in dem alles persönlich genommen wird, nicht unterscheiden. Sei’s drum. Wahrscheinlich bin ich auch Berlinale-Kritiker – aber nur insofern, als ich mir eben eine bessere Berlinale nicht nur wünsche, sondern auch vorstellen kann. Im Gegensatz zu einigen phantasieunbegabten Kollegen kann ich mir zum Beispiel eine Berlinale vorstellen, die in den Sommer verlegt wird. Auf die zweite Hälfte im Juli. Sie würde dann Locarno keine Konkurrenz machen, sie würde Locarno vernichten. Venedig würde sie scharfe Konkurrenz machen und auch Toronto größte Schwierigkeiten.
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Plötzlich wäre Berlin für alle nicht mehr ein ungeliebtes nasskaltes Winterloch, das man irgendwie stopfen muss und bei dem man sich regelmäßig erkältet, Pickel holt, und auch sonst schlecht gelaunt durch die Gegend stapft. Es wäre ein sommerliches Wunderland, das ganz und gar die charmante Seite Berlins nach außen tragen könnte. Man würde nach Mitternacht aus dem Kino kommen, und dann bis 3 Uhr nachts draußen sitzen in der Sommernacht. Man würde schon um 7:30 Uhr wieder aufstehen
und sich auf den ersten Morgenfilm freuen, zu dem man bei Sonnenschein hingeht und nicht im Halbdunkel. Das können sich die meisten Deutschen aber gar nicht vorstellen – zumal sich nur noch die Alten daran erinnern, dass die Berlinale ja bis 1979 im Sommer stattfand. Und seien wir mal ehrlich: Die 70er und die 60er Jahre und auch die 50er waren für Deutschland besser als die 80er, die 90er und die Nuller – nicht nur für die Berlinale.
Der schreckliche Potsdamer Platz ähnelt
heute nicht nur einer grattligen Müllgrube, er ist einfach von hässlicher Architektur geprägt, von städtischer Fehlplanung, er ist geradezu das Symbol einer Epoche, in der nichts auf Dauer gestellt war – Nachhaltigkeit: pustekuchen! –, sondern in der die Kunst ganz und gar zum Funktionselement eines neoliberalen Kapitalismus wurde.
Wer Kunst als öffentliche Aufgabe begreift, der kann mit dieser Berlinale nicht glücklich werden. Kunst als öffentliche Aufgabe bedeutet für ein Filmfestival, ein intellektueller, niveauvoller, geistesaristokratischer Raum, der zwar nicht elitär ist, aber anspruchsvoll.
Das sind alles natürlich mehr Wunschträume.
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Für die Zukunft der Filmfestivals in Deutschland sehe ich relativ schwarz. Manche Festivals wie Oberhausen machen das, was sie sind, nach wie vor gut und auf hohem Niveau, und sind gerade deswegen attraktiv, weil sie in der gesamten Landschaft schon fast anachronistisch wirken. Andere, wie München oder Saarbrücken, versuchen mit einem jungen Team ein gehoben populäres Programm zu präsentieren – zu irgendetwas darüber hinaus lässt ihnen die deutsche Filmlandschaft
überhaupt keine Chance. München zeigt wie Hamburg außerdem das Beste anderer Filmfestivals, leidet als Event aber darunter, dass in München einfach zu viele Filme laufen.
In Hamburg sind es weniger Filme, deswegen wirkt das Programm automatisch besser und liebevoller kuratiert. Obwohl das vielleicht den Münchnern gegenüber ein unfaires Urteil ist. Aber einfach nur durch die Tatsache, dass in Hamburg weniger Filme gezeigt werden, wird der einzelne Film liebevoller behandelt, und das
Programm wirkt ungleich prägnanter. Der einzelne Film ist dem Publikum mehr wert. Zudem nimmt sich Hamburg auch die Zeit, den Filmemachern und Gästen gegenüber gastfreundlich zu sein – das bedeutet persönlich. Dazu hat München einstweilen gar nicht die Zeit und die Gelegenheit (mit doppelt so viel Filmen wie Hamburg ist das Festival trotzdem noch einen Tag kürzer).
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Duisburg und Leipzig sind die beiden bedeutendsten Dokumentarfilmfestivals in Deutschland, und beide haben seit dem vergangenen Jahr, bzw. seit diesem eine neue Leitung. Hier muss man mal abwarten, was passiert. In Duisburg tritt die neue Leitung in sehr große Fußstapfen – das vergangene Jahr wirkte erstmal wie eine Fortsetzung der Jahre davor, was im Prinzip eine sehr gute Nachricht war. Kontinuität ist in Duisburg genau das Richtige. In Leipzig wäre sie ein Fehler, und sehr viel spricht dafür, dass der neue Leipzig-Festivalchef Christoph Terhechte (Ex-Leiter des Forums bei der Berlinale) das genauso sieht. Sein erstes Amtsjahr wird allerdings im Schatten von Corona stehen und all der Unwägbarkeiten, die das mit sich bringt.
Und dann gibt es noch Ludwigshafen und Mannheim. Bis zum vergangenen Jahr habe ich für beide Filmfestivals gearbeitet, deswegen kann ich mich in beiden Fällen nicht neutral äußern. Und bin in beiden Fällen nicht unparteiisch. Darum gilt einstweilen tatsächlich: »No comment.«
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Aber es ist klar, dass auch diese beiden Festivals auf eine Filmlandschaft treffen, die großen Anfechtungen ausgesetzt ist, und ihre Richtung gerade verloren hat, und in denen das, was einst Autorenfilm genannt wurde, eigentlich nicht mehr existiert.
In meinem Festivalblog zur Preisverleihung in San Sebastián habe ich die sich verfestigende Spaltung der Szene zwischen Kunst und Unterhaltung, zwischen Zugänglichem und Unzugänglichem, zwischen Herausforderung und Entspannung beschrieben. Es entsteht eine Kluft, die immer größer wird.
Es hat sie immer gegeben, es muss sie auch geben, aber wir brauchen Filme, die beides verbinden. Diese Filme fehlen, und auch auf Festivals findet man sie immer weniger.
Zugänglichkeit meint hier, dass gute Filme dem Publikum signalisieren, dass sie nicht sein Feind sind, und auch kein schlechtgelaunter Lehrer, sondern sein Freund und manchmal sein Liebhaber.
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Gerade wenn man herausfordernde Kunst und Zugängliches gleichzeitig mag, und möchte, dass sich ein breites Publikum darauf einlässt, dann brauchen wir Werke wie sie von Luchino Visconti, Federico Fellini, Roberto Rossellini, Stanley Kubrik, von Jean-Luc Godard, François Truffaut, Jean-Pierre Melville, Claude Sautet geschaffen wurden, sogar von Michelangelo Antonioni und Alain Resnais. Wir brauchen Werke, die tief sind und leicht zugleich. Diese Werke haben wir zurzeit nicht, oder jedenfalls viel zu wenig, und nicht immer von bester Qualität. Wenn sie leicht sind, sind diese Filme meist flach, wenn sie schwer und anspruchsvoll sind, sind die Filme oft depressiv und schwierig und unzugänglich.
Mit diesen schwierigen Filmen – wenn sie ausschließlich zu sehen sind und nicht begleitet von anderen, leichteren, aber dabei niveauvollen Filmtypen – vergrault man das verbliebene gebildete und interessierte Publikum endgültig. Mit den leichten seichten Filmen bringt man umgekehrt nur die Jugend der Unterschicht, die Ungebildeten und tumben Tore ins Kino.
Mit solchen Filmen wird das Kino sterben. Und zwar schneller als man denkt. Denn genau die Verbindung von Tiefe und Unterhaltung, Niveau und Zugänglichkeit, wie sie – zwei Beispiele hier – Jules und Jim und Die Dinge des Lebens repräsentieren, die findet sich zunehmend,
und leider begleitet von großen ästhetischen Schwächen, zunehmend im Streaming-Angebot des neuen Fernsehens.
Noch gibt es Verleiher, die das Kunstkino in seiner Breite ins Kino bringen. Hervorragende Beispiele dafür sind – wieder zwei Beispiele hier – »Grand Film« und »Eksystent Film« in Deutschland: Filme wie Ava und Zombi Child, Beanpole und Zama.
(to be continued)