01.10.2020
Cinema Moralia – Folge 229

Von »Ava« bis »Zombie Child«

Zombi Child
Einer der Filme, die das Kino noch retten können: Bertrand Bonellos Zombi Child
(Foto: Grandfilm)

In Hamburg und anderswo: »Filme ohne Masken, Festivals mit Mut zum Risiko, und die Gefahr des Kinosterben« – Cinema Moralia, Tagebuch eines Kinogehers, 229. Folge

Von Rüdiger Suchsland

»'Bas les masques!' So lautet ein fran­zö­si­scher Spruch, der dazu auffor­dert, die Masken fallen zu lassen, um Wahrheit sichtbar zu machen. Das war auch in diesem Jahr unser Anspruch an die Filme.«
Albert Wieder­spiel, Leiter des Filmfest Hamburg

»Filme berühren!« Ein gutes Motto in Zeiten, in denen Unberühr­bar­keit vom Snobismus zur Tugend erhoben wird, in denen die Distanz zur neuen sozialen Anstands­regel werden soll.
Fast ein bisschen zu leise, zu hansea­tisch bescheiden, findet unter diesem Motto gerade das Filmfest Hamburg statt – als erstes deutsches Film­fes­tival im Kino mit Menschen, ohne Stream-Surrogate. Dass Masken besten­falls ein notwen­diges Übel sind, aber nichts Gutes, nichts Wünschens­wertes, das macht der Hamburger Filmfest-Chef Albert Wieder­spiel schon in seinem Grußwort gegen alle Coro­na­gläu­big­keit und Regel­ge­hor­sams­freude klar. Masken verhüllen Wahr­heiten und den freien Blick, übrigens auch den ihrer Träger.

+ + +

Man zeigt im Übrigen auch sehr gute Filme. Zum Beispiel Rascal vom Franzosen Peter Douro­untzis, ein Film mit »Cannes 2020«-Label. Das Filmdebüt feierte am Dienstag in Hamburg seine Welt­pre­miere. Wie ein Chamäleon schillert die Haupt­figur zwischen luzi­fe­ri­schem Charme und abgrund­tiefer Bosheit, zwischen harter Bruta­lität und kind­li­chem Spiel.
Der Film begleitet einen Mann, der offenbar gerade aus dem Gefängnis entlassen wurde, obdachlos ist und in einer fran­zö­si­schen Provinz­me­tro­pole neu anfangen will. Man sieht, dass er charmant sein kann, aber auch wie brutal er gele­gent­lich wird. Er zieht bei einer Anar­chisten-Community ein, mit denen er mal einen Super­markt beklaut, nimmt Gele­gen­heits­ar­beiten auf, aber nachdem man ihn schon vorher dabei sehen konnte, wie er Frauen massiv bedroht, bringt er eines Tages eine einfach um.
Nun sieht man seinem Alltag plötzlich mit ständigem Miss­trauen zu. Was vorher den Effekt einer latenten, unklaren Bedrohung hatte, wirkt nun wie in einem Horror­film: Jederzeit kann das Monster ausbre­chen. Vaurien ist vor allem ein Film, der mit der Wahr­neh­mung der Zuschauer spielt. Ein Film der Blicke, der Perspek­tiv­wechsel, der Gefühls­schwan­kungen.

+ + +

Auch sonst ist der Boden unter uns in Bewegung geraten; nicht allein durch Corona.

+ + +

Die Form war grob, der Inhalt eindeutig: Lili Hinstin, die vor zwei Jahren über­ra­schend als unbe­schrie­benes Blatt zur Nach­fol­gerin von Carlo Chatrian als Leiterin des Locarno-Festivals ernannt wurde, geht schon wieder, und zwar im Unfrieden nach nur einer richtigen Ausgabe des Film­fes­ti­vals, und dem Corona-Jahr.

2019, in dem einzigen Jahr, das tatsäch­lich unter ihrer Leitung stattfand, hatte sie viel Wind gemacht, einige spek­ta­kuläre Entschei­dungen getroffen – etwa die Absage der bereits fest verein­barten Retro­spek­tive zu Blake Edwards, die durch eine inter­es­sante, aber frag­würdig ausge­wählte und allzu politisch opportune zum »Black Cinema« ersetzt wurde – aber wenig Effekte erzielte, und letzt­end­lich ein sehr ungenau kura­tiertes Programm präsen­tierte, das allzu viele offene Flanken aufwies.

Man kann mit reinem Kunst-Snobismus kein Film­fes­tival machen.

Im Gegensatz zur Behaup­tung des Berliner Welt­blätt­chens »Tages­spiegel« war die Französin auch keines­wegs »die erste Frau an der Spitze eines A-Film­fes­ti­vals«, vielmehr war Locarno bereits 2001-2005 von der Italie­nerin Irène Bignardi geleitet worden.
Auch im Corona-Jahr hatte Hinstin versagt: Locarno fand als einziges unter allen größeren Festivals keine Antwort auf die Pandemie. Zudem sorgte die desas­tröse Pres­se­po­litik dafür, dass Beob­achter nicht verstanden, was Locarno eigent­lich tat und wollte.

+ + +

Jetzt stellt sich natürlich die Frage nach der Nachfolge auf dem schnell wech­selnden Chef­sessel des Schweizer Festivals, das vielerlei Gefahren und Angriffen ausge­setzt ist – im Inland durch den so neurei­chen wie glatten Konkur­renten in Zürich, aus dem Ausland als kleinstes A-Festival Europas.

Ausge­rechnet Carlo Chatrian, mit sieben Amts­jahren einer der längsten Locarno-Leiter, könnte, wenn er nur wollte und den nötigen Mut hätte, seinem früheren Arbeit­geber den sicheren Todesstoß versetzen. Dazu müsste er nur den Mut zu einem echten Neuanfang bei der Berlinale aufbringen.

Ich bin mir ja der Tatsache sehr bewusst, dass ich in den letzten Jahren in Deutsch­land als einer der größten oder schärfsten Berlinale-Kritiker wahr­ge­nommen wurde. (Damit geht es schon los: Nicht als Kosslick-Kritiker, sondern als Berlinale-Kritiker.) Das kann man in einem Land, in dem alles persön­lich genommen wird, nicht unter­scheiden. Sei’s drum. Wahr­schein­lich bin ich auch Berlinale-Kritiker – aber nur insofern, als ich mir eben eine bessere Berlinale nicht nur wünsche, sondern auch vorstellen kann. Im Gegensatz zu einigen phan­ta­sie­un­be­gabten Kollegen kann ich mir zum Beispiel eine Berlinale vorstellen, die in den Sommer verlegt wird. Auf die zweite Hälfte im Juli. Sie würde dann Locarno keine Konkur­renz machen, sie würde Locarno vernichten. Venedig würde sie scharfe Konkur­renz machen und auch Toronto größte Schwie­rig­keiten.

+ + +

Plötzlich wäre Berlin für alle nicht mehr ein unge­liebtes nass­kaltes Winter­loch, das man irgendwie stopfen muss und bei dem man sich regel­mäßig erkältet, Pickel holt, und auch sonst schlecht gelaunt durch die Gegend stapft. Es wäre ein sommer­li­ches Wunder­land, das ganz und gar die charmante Seite Berlins nach außen tragen könnte. Man würde nach Mitter­nacht aus dem Kino kommen, und dann bis 3 Uhr nachts draußen sitzen in der Sommer­nacht. Man würde schon um 7:30 Uhr wieder aufstehen und sich auf den ersten Morgen­film freuen, zu dem man bei Sonnen­schein hingeht und nicht im Halb­dunkel. Das können sich die meisten Deutschen aber gar nicht vorstellen – zumal sich nur noch die Alten daran erinnern, dass die Berlinale ja bis 1979 im Sommer stattfand. Und seien wir mal ehrlich: Die 70er und die 60er Jahre und auch die 50er waren für Deutsch­land besser als die 80er, die 90er und die Nuller – nicht nur für die Berlinale.
Der schreck­liche Potsdamer Platz ähnelt heute nicht nur einer gratt­ligen Müllgrube, er ist einfach von häss­li­cher Archi­tektur geprägt, von städ­ti­scher Fehl­pla­nung, er ist geradezu das Symbol einer Epoche, in der nichts auf Dauer gestellt war – Nach­hal­tig­keit: puste­ku­chen! –, sondern in der die Kunst ganz und gar zum Funk­ti­ons­ele­ment eines neoli­be­ralen Kapi­ta­lismus wurde.

Wer Kunst als öffent­liche Aufgabe begreift, der kann mit dieser Berlinale nicht glücklich werden. Kunst als öffent­liche Aufgabe bedeutet für ein Film­fes­tival, ein intel­lek­tu­eller, niveau­voller, geis­tes­a­ris­to­kra­ti­scher Raum, der zwar nicht elitär ist, aber anspruchs­voll.

Das sind alles natürlich mehr Wunsch­träume.

+ + +

Für die Zukunft der Film­fes­ti­vals in Deutsch­land sehe ich relativ schwarz. Manche Festivals wie Ober­hausen machen das, was sie sind, nach wie vor gut und auf hohem Niveau, und sind gerade deswegen attraktiv, weil sie in der gesamten Land­schaft schon fast anachro­nis­tisch wirken. Andere, wie München oder Saar­brü­cken, versuchen mit einem jungen Team ein gehoben populäres Programm zu präsen­tieren – zu irgend­etwas darüber hinaus lässt ihnen die deutsche Film­land­schaft überhaupt keine Chance. München zeigt wie Hamburg außerdem das Beste anderer Film­fes­ti­vals, leidet als Event aber darunter, dass in München einfach zu viele Filme laufen.
In Hamburg sind es weniger Filme, deswegen wirkt das Programm auto­ma­tisch besser und liebe­voller kuratiert. Obwohl das viel­leicht den Münchnern gegenüber ein unfaires Urteil ist. Aber einfach nur durch die Tatsache, dass in Hamburg weniger Filme gezeigt werden, wird der einzelne Film liebe­voller behandelt, und das Programm wirkt ungleich prägnanter. Der einzelne Film ist dem Publikum mehr wert. Zudem nimmt sich Hamburg auch die Zeit, den Filme­ma­chern und Gästen gegenüber gast­freund­lich zu sein – das bedeutet persön­lich. Dazu hat München einst­weilen gar nicht die Zeit und die Gele­gen­heit (mit doppelt so viel Filmen wie Hamburg ist das Festival trotzdem noch einen Tag kürzer).

+ + +

Duisburg und Leipzig sind die beiden bedeu­tendsten Doku­men­tar­film­fes­ti­vals in Deutsch­land, und beide haben seit dem vergan­genen Jahr, bzw. seit diesem eine neue Leitung. Hier muss man mal abwarten, was passiert. In Duisburg tritt die neue Leitung in sehr große Fußstapfen – das vergan­gene Jahr wirkte erstmal wie eine Fort­set­zung der Jahre davor, was im Prinzip eine sehr gute Nachricht war. Konti­nuität ist in Duisburg genau das Richtige. In Leipzig wäre sie ein Fehler, und sehr viel spricht dafür, dass der neue Leipzig-Festi­val­chef Christoph Terhechte (Ex-Leiter des Forums bei der Berlinale) das genauso sieht. Sein erstes Amtsjahr wird aller­dings im Schatten von Corona stehen und all der Unwäg­bar­keiten, die das mit sich bringt.

Und dann gibt es noch Ludwigs­hafen und Mannheim. Bis zum vergan­genen Jahr habe ich für beide Film­fes­ti­vals gear­beitet, deswegen kann ich mich in beiden Fällen nicht neutral äußern. Und bin in beiden Fällen nicht unpar­tei­isch. Darum gilt einst­weilen tatsäch­lich: »No comment.«

+ + +

Aber es ist klar, dass auch diese beiden Festivals auf eine Film­land­schaft treffen, die großen Anfech­tungen ausge­setzt ist, und ihre Richtung gerade verloren hat, und in denen das, was einst Autoren­film genannt wurde, eigent­lich nicht mehr existiert.

In meinem Festi­val­blog zur Preis­ver­lei­hung in San Sebastián habe ich die sich verfes­ti­gende Spaltung der Szene zwischen Kunst und Unter­hal­tung, zwischen Zugäng­li­chem und Unzu­gäng­li­chem, zwischen Heraus­for­de­rung und Entspan­nung beschrieben. Es entsteht eine Kluft, die immer größer wird.

Es hat sie immer gegeben, es muss sie auch geben, aber wir brauchen Filme, die beides verbinden. Diese Filme fehlen, und auch auf Festivals findet man sie immer weniger.

Zugäng­lich­keit meint hier, dass gute Filme dem Publikum signa­li­sieren, dass sie nicht sein Feind sind, und auch kein schlecht­ge­launter Lehrer, sondern sein Freund und manchmal sein Liebhaber.

+ + +

Gerade wenn man heraus­for­dernde Kunst und Zugäng­li­ches gleich­zeitig mag, und möchte, dass sich ein breites Publikum darauf einlässt, dann brauchen wir Werke wie sie von Luchino Visconti, Federico Fellini, Roberto Rossel­lini, Stanley Kubrik, von Jean-Luc Godard, François Truffaut, Jean-Pierre Melville, Claude Sautet geschaffen wurden, sogar von Michel­an­gelo Antonioni und Alain Resnais. Wir brauchen Werke, die tief sind und leicht zugleich. Diese Werke haben wir zurzeit nicht, oder jeden­falls viel zu wenig, und nicht immer von bester Qualität. Wenn sie leicht sind, sind diese Filme meist flach, wenn sie schwer und anspruchs­voll sind, sind die Filme oft depressiv und schwierig und unzu­gäng­lich.

Mit diesen schwie­rigen Filmen – wenn sie ausschließ­lich zu sehen sind und nicht begleitet von anderen, leich­teren, aber dabei niveau­vollen Filmtypen – vergrault man das verblie­bene gebildete und inter­es­sierte Publikum endgültig. Mit den leichten seichten Filmen bringt man umgekehrt nur die Jugend der Unter­schicht, die Unge­bil­deten und tumben Tore ins Kino.

Mit solchen Filmen wird das Kino sterben. Und zwar schneller als man denkt. Denn genau die Verbin­dung von Tiefe und Unter­hal­tung, Niveau und Zugäng­lich­keit, wie sie – zwei Beispiele hier – Jules und Jim und Die Dinge des Lebens reprä­sen­tieren, die findet sich zunehmend, und leider begleitet von großen ästhe­ti­schen Schwächen, zunehmend im Streaming-Angebot des neuen Fern­se­hens.
Noch gibt es Verleiher, die das Kunstkino in seiner Breite ins Kino bringen. Hervor­ra­gende Beispiele dafür sind – wieder zwei Beispiele hier – »Grand Film« und »Eksystent Film« in Deutsch­land: Filme wie Ava und Zombi Child, Beanpole und Zama.

(to be continued)