Cinema Moralia – Folge 231
Strategie des Risikos |
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Wenn schon nicht De La Guerre, dann doch wenigstens Zombi Child ansehen, denn der läuft auch außerhalb Berlins noch in den Kinos | ||
(Foto: Grandiflm) |
»Are we going to get Europe, or is it Europe that will get us? Cinema could have served Europe, but we did not want it. We preferred tons of images, but not cinema.«
Godard»Was die Terroristen gewinnen, verlieren die Schriftsteller. Was sie an Einfluss auf das Bewusstsein der Massen hinzugewinnen, verlieren wir als Gestalter von Sensibilität und Gedanken. Die Gefahr, die sie darstellen, entspricht unserem Versagen, gefährlich zu sein.«
Don De Lillo, »Mao II«»Wollen wir den Gegner niederwerfen, so müssen wir unsere Anstrengung nach seiner Widerstandskraft abmessen; diese drückt sich durch ein Produkt aus, dessen Faktoren sich nicht trennen lassen, nämlich: die Größe der vorhandenen Mittel und die Stärke der Willenskraft.«
Clausewitz, »Vom Kriege«, 1. Buch, 1. Kapitel
Bevor wir anfangen: Jedem, der es irgendwie schafft, möchte ich dringend empfehlen, am kommenden Samstag ins Kino zu gehen! Genau gesagt ins Berliner Arsenal-Kino. An diesem Samstag, 24.Oktober, läuft dort als vorletzter Beitrag der noch ein paar Tage laufenden wunderschönen Retrospektive zu Bertrand Bonello ein vorletztes Mal ein Film von ihm – und ein letztes Mal De La Guerre. Dies ist ein Film, den man gesehen haben muss, und zwar im Kino.
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Diesen Film würde es in Deutschland nicht geben. Es würde ihn in Deutschland nicht geben können. Es würde ihn in Deutschland auch nicht geben dürfen. Weil man so etwas nicht will. Weil De la Guerre alles das verkörpert, was die deutsche Filmförderung seit Jahren systematisch zu verhindern, zu ersticken, abzutöten versucht. Weil dieser Film Regisseurs-Kino par excellence ist und nicht Produzenten-Kino. Und auch wenn es natürlich großartige, kreative und
cinephile Produzenten in Deutschland gibt, und ziemlich stulle Regisseure, dann ist, zugespitzt gesagt, dieser Gegensatz zwischen Produzenten-Kino und Regisseurs-Kino – altmodischer formuliert zwischen Autorenfilm und Studio-Film –, genau der, um den es am Ende geht, mit dem man die Spreu vom Weizen trennen kann und Kino von Relevanz von dem unterscheidet, was irrelevant ist.
Das deutsche Kino ist heute weitgehend irrelevant, weil Regisseure hier nichts zu sagen
haben, weil Filme wie De la Guerre aus Deutschland undenkbar sind. Man muss mir das gar nicht glauben – man kann sich dafür mit einem x-beliebigen Kurator oder Festivalprogrammer oder auch Weltvertrieb aus dem Ausland unterhalten.
In Deutschland können Regisseure bestenfalls mitmachen, wenn sie selbst produzieren, oder wenn sie sich anpassen oder wenn sie sowieso das wollen, was Produzenten und Förderung auch wollen – und wenn sie dazu auch noch »Erfolge« vorzuzeigen haben. Und »Erfolge« heißt entweder richtig viel Publikum oder die Teilnahme an einem A-Festival-Wettbewerb. Schon die Teilnahme in einer noch so renommierten Neben-Reihe eines A-Festivals, also etwa die Teilnahme in der Quinzaine oder Un Certrain Regard, beides Reihen beim Festival von Cannes, in denen man jedes Jahr einige der wichtigsten Filme des Jahres zu sehen bekommt, schon diese Teilnahmen interessieren in Deutschland keine S.... Man schmückt sich mit der Teilnahme, auch als Förderchefin, aber es gibt dafür keinen Cent Förder-Geld.
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Man will so etwas aber auch deswegen nicht, weil man es hier nicht versteht. Nicht mehr versteht. Denn es gab natürlich eine Zeit – sie dauerte bis Ende der 1970er Jahre –, in der man sehr viele Filme noch verstanden hat, denen gegenüber das Publikum von heute ein Haufen von Analphabeten ist. Visueller Analphabeten. Ich meine uns alle: uns Kritiker, mich auch, aber immer auch die Förderer, immer auch die Lehrer in den Filmhochschulen. Alle, die für diesen gotterbärmlichen Film-Zustand bei uns verantwortlich sind – ohne Ausnahme. Ein Film wie De la Guerre von Bonello wäre bei uns nicht möglich, weil er gar nicht verstanden würde: Er ist zu erratisch, zu wenig naturalistisch, zu wenig eine Erzählung von A nach B nach C nach D – weil er nicht durchschnittlich ist. Weil er sich gegenüber seiner Zeit, also unserer Gegenwart genauso verhält, wie die Novellen von Kleist, die Romane von Stendhal, die Philosophie von Hegel, die Musik von Beethoven, die Politik Napoleons und eben die Strategie von Clausewitz sich zu ihrer Zeit verhalten hat: Weil er diese Zeit in Frage stellt. Weil er über sie hinaus geht, oder vielleicht doch hinter ihr zurückbleibt, weil er jedenfalls mit ihr nichts gemein hat, und auch nichts gemein haben will. Darin genau liegt die Faszination dieses Films – der ohne Frage sperrig und erratisch ist, und vielleicht nicht mal gut.
Ich habe ihn im Kino allerdings geliebt, als ich ihn vor ein paar Tagen gesehen habe.
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Von Bertrand Bonello kann das deutsche Kino nichts lernen. Weil es alles von ihm lernen müsste – und dafür müsste es ein anderes Kino sein.
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In diesem Jahr hat man Fassbinders 75. Geburtstag gefeiert – museal, genau wie Schlingensiefs Todestag. Bei Provokateuren und Infragestellern feiert man sowieso am liebsten die Todestage.
Als ich De la Guerre gesehen habe, wurde mir klar, dass Fassbinder ein starker Einfluss auf Bonello sein muss.
Es fällt sowieso so manches auf: Bonellos Vorliebe für Masken. Sein Interesse an geschlossenen autarken Gemeinschaften und ihrem Gruppendynamiken: Das Bordell in Appollonide, die Terrorgruppe in Nocturama, das Internat und darin wieder die Girls-Gang in Zombi Child. Erkennbar sind neben den offenen Anspielungen auf Apocalypse Now, auch Verweise auf Franju und den unvermeidlichen Godard.
Argument genug für alles an diesem Film müsste schon sein, dass Mathieu Amalric die Hauptrolle spielt, dass der unvergleichliche, unvergessene Guillaume Depardieu mitspielt, genau wie Asia Argento, Lea Seydoux und Elina Löwensohn; dass Amalric einen Regisseur spielt, der Bertrand heißt, im Fernsehen Cronenbergs eXistenZ ansieht, und sich in einer zunehmenden existenziellen
Krise hinreißen lässt, zwei Wochen in einer Art Therapie-Center zu verbringen.
Dort lehrt Argento als eine Art atheistische Hohepriesterin eine Technik der Selbstbeherrschung, die außer von der Absage an Konsum von Clausewitz’ Klassiker »Vom Kriege« inspiriert ist. Man müsse »Krieg gegen sich selber führen« heißt es. »You are going to win wars.« Bald praktiziert Bertrand den Grundsatz »Fulfilllment or rest« und gewinnt viele Schlachten.
Wir lernen auch: »Sauvage
doesn’t mean solitaire. It means sauvage.«
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Die eigentliche Philosophie des Films, so es denn eine gibt, kommt aber aus dem Mund von Lea Seydoux: »Wir gehen keine Risiken mehr ein. Denn das heißt Position ergreifen, und das tun wir nicht gern.«
Das könnte man sich zu Herzen nehmen.
Bonellos Schachzug der Hinwendung zu Clausewitz, der Erinnerung an diesen Vergessenen ist jedenfalls großartig.
Dies ist ein spiritueller Film. Aber bitte nicht missverstehen: Es ist eine Spiritualität des Diesseitigen. So wie es auch eine Strategie des Risikos gibt; und hierin liegt vielleicht eine Schnittmenge zwischen Clausewitz und Hegel.
Clausewitz schreibt: »Es gibt Fälle, wo das höchste Wagen die höchste Weisheit ist.« (Vom Kriege; II. 5.). Und weiter: »Es ist alles im Kriege sehr einfach, aber das Einfachste ist schwierig.« (Vom Kriege; I.7.)
Versteht man, was ich sagen will?
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Wir müssen wieder lernen, Risiken einzugehen. Ästhetische zumal, politische und moralische aber auch. Nur: Wie soll man Risiken eingehen, wenn man sie gar nicht denken, geschweige denn erkennen kann? Wenn man vor ihnen zurücktaumelt, erschreckt, anstatt sich zumindest einen Augenblick verführen zu lassen, so wie Poe es für den Anblick des Maelstroms beschreibt: »...to reflect how magnificent a thing it was to die in such a manner.«
Ein aktuelles wenn auch vergleichsweise banales Beispiel: Von »Corona als Chance« schwafeln gerade viele daher. Aber kaum einer ergreift sie.
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Wie krass engstirnig die Zustände hierzulande sind, zeigt sich etwa auch daran, dass selbst ein kluger und geschätzter Kollege für Bonellos Nocturama komplett erblindet war. Man muss den Film ja gar nicht gut finden, aber die Borniertheit wie seinerzeit in der FAZ, das Moralisieren als Reaktion auf Ästhetik, ärgert dann doch: »Medieneffekt ... ein Außen kann Bonello sich zu seiner nihilistischen Phantasie nicht leisten, es würde seinen Film als leere Pose entlarven. ... In Frankreich liegt sicher so Einiges im Argen, aber eine so kleingeistige Totenmesse muss man dem Land nicht lesen.«
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Noch einmal hier auch die Empfehlung, sich auch Zombi Child anzusehen, Bonellos neuesten Film, der seit vorvergangener Woche in den deutschen Kinos läuft.
Ein Film, der sehr sehr viel zu sagen hat, und der das am besten im Kino sagen kann. Und ein wirklich schöner, wunderschöner Film. Lustig, weise, anregend. Verführerisch.
Glaubt mir bitte. Ich meine es gut mit Euch, liebe
Leser!
(to be continued)