Cinema Moralia – Folge 232
Die Realitätsverweigerung |
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Widerstand in Julia von Heinz' gerade angelaufenen Und morgen die ganze Welt | ||
(Foto: Alamode) |
»Die Kindlein, sie hören es nicht gerne, wenn die angeborene Neigung des Menschen zum ›Bösen‹, zur Aggression, Destruktion und damit auch zur Grausamkeit erwähnt wird.«
Sigmund Freud, 1930»Die schlimmste Haltung ist die Gleichgültigkeit, die bedeutet: 'ich kann nichts dafür, ich komme schon klar'. Mit einem solchen Verhalten verliert ihr einen unverzichtbaren Bestandteil der Menschlichkeit. Es ist die Empörung und das daraus resultierende Engagement.«
Stephane Hessel, »Empört Euch!«, 2010»Liebe Politiker lasst euch wählen, ja! Aber vergesst bitte nicht von wem! Das Land steht kulturell still. Und die Beweglichsten und Ehrlichsten tretet ihr gerade mit Füßen ... Nehmen wir uns und unsere Errungenschaften ernst. Damit wir den Glauben an unser erfolgreiches pluralistisches System erhalten behalten genau das ist nämlich in Gefahr, wenn Kultur nicht mehr frei arbeiten und frei wirtschaften kann.«
Till Brönner, 2020
Wenigstens zu Beginn etwas sehr Schönes: Eines der schönsten Kinogängererlebnisse des Jahre hatte ich vergangene Woche noch ein weiteres Mal in der Retrospektive des Berliner Arsenal zum französischen Ausnahmeregisseur Bertrand Bonello, dessen wunderschöner antikolonialistischer Essayfilm Zombi Child gerade in den Kinos läuft.
Où En Êtes-Vous? Numéro
2 entstand diesen Sommer, eine Selbstreflexion in Form eines 15-minütigen Briefs an seine 17-jährige Tochter. Dies ist auch eine Corona-Reflexion zu neu montierten klaustrophobischen Bildern seiner Filme über Stillstand, Verlust, das Ende der Dinge, die ungewisse Zukunft und geträumte Filmprojekte, aber vor allem eine Ode an die Schönheit. Fazit: »Spring always returns.« Und: »There‘s always the music!«
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Das ist es dann auch schon mit den frohen Botschaften. Es ist eine Katastrophe. Nicht die Corona-Zahlen, sondern unsere Reaktionen darauf. Diesen Mittwoch spätestens ist die deutsche Politik in die Phase der Realitätsverweigerung eingetreten. Die Politik – gemeint sind die politisch Handelnden – hat in der Corona-Politik die Kontrolle verloren, also das, was ihre ihre ureigene Aufgabe ist. Sie hat sie aus eigener Schuld verloren. Und sie reagiert auf diesen
Kontrollverlust mit Verweigerung der Realität.
Diese Realitätsverweigerung hat viele Facetten. Zu ihr gehört auch, sich um Vermittlung ihrer Beschlüsse, um das Überzeugen und »Mitnehmen« der Bürger nicht (mehr?) zu scheren.
Es gibt aber zwei Hauptprobleme bei den nun beschlossenen Lockdown-Maßnahmen: Die Verweigerung auf die Fakten und Daten einzugehen, ist das eine Problem. Die Ignoranz gegenüber der selbst vom regierungseigenen RKI bestätigten Tatsache, dass Gaststätten und Kino keine Pandemie-Treiber sind, sondern Begegnungen in privaten Wohnungen. Ergebnis: Durch Kino- und Gaststättenschließungen treibt man die Menschen, die nun mal soziale Wesen sind, noch mehr ins Private. Die Zahlen werden deshalb weiter steigen. Und schon heute wissen wir aus Erfahrung, dass die Maßnahmen über ihr jetzt behauptetes Ende, denn 30. November hinaus gelten werden.
Das zweite Problem ist das Wort »vorerst« in vielen Beschlüssen. Die Regierung verweigert sich ihrer Chance, der Bevölkerung das Wichtigste zu geben: Hoffnung. Und ihr einen Ausweg zu zeigen.
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Jetzt müssen die Verbände reagieren. Gemeinsam. Entschlossen. Schnell. Sie müssen diese Politik in Grund und Boden klagen.
Bisher hat das nur die FDP angekündigt. Hoffentlich haben sie Erfolg. Aber ist es soweit, dass wir auf die FDP hoffen müssen?
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Wir müssen uns dieser Politik verweigern. Konsequent. Demonstrieren. Auf Abstand auch zu den Rechten. Aber konsequent.
Der Begriff der Konsequenz gewinnt neue Aktualität.
Nehmen wir mal die zu Recht viel kritisierten Hygiene-Demos. Ich nenne jetzt nicht die schönen Lichterketten und Menschenrechtsmärsche, an denen ich auch schon teilgenommen habe, sondern die fiesen Corona-Nervbacken, über die sich Menschen und Medien viel mehr Gedanken machen.
Wenn es Demonstrationen von ähnlicher Schlagkraft und ähnlichen Wirkungen gebe, mit Masken und Abstand und für die Kultur, dann wäre es sehr gut. Wir sollten von den Hygiene-Demos das übernehmen, was
daran funktioniert: Nämlich laut, penetrant und unüberhörbar zu werden.
Anstatt mit gerümpfter Nase daneben zu stehen oder vor allem vor den Bildschirm zu sitzen, den Kopf zu schütteln und wie selbst gute Freunde und namhafte Filmwissenschaftler sich über die Empörer zu empören, sollten wir von ihnen lernen.
Die Idee des Aufstands sollte man sich nicht von einer Handvoll Neonazis aus der Hand schlagen lassen. Zur Idee des Aufstands gehört auch, dass man zusammen mit Leuten agiert,
die einem nicht in jeder Hinsicht in den Kram passen, mit denen man nicht zu hundert Prozent übereinstimmt.
Um nicht missverstanden zu werden: Ein Aufstand ist keineswegs etwas, das ich mir wünsche. Aber ich wünsche mir rebellische Bürger. Und ich wünsche mir Bürgerdruck gegen eine Regierung, die sich für Bürgerrechte vergleichsweise wenig interessiert. Die diese Bürgerrechte den Zahlen der von ihr keineswegs unabhängigen Institute und vor allem den Wirtschaftszahlen unterordnet.
Einer Regierung, die die Kultur missachtet. Und zwar deswegen, weil diese Kultur nicht mit einer
Stimme spricht, weil diese Kultur nicht streikfähig ist.
Die Kultur muss streikfähig werden, denn was jetzt nötig ist, das ist ein Generalstreik der Kultur!
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»Seit Monaten schaue ich mir nicht nur an, wie eine gesamte Branche durch Corona lahmgelegt wird, sondern erlebe auch, wie auffällig verhalten und geradezu übervorsichtig Bühnenkünstler sich auch nach acht Monaten zu dieser Misere äußern – obwohl ihre Existenz gerade fundamental auf dem Spiel steht. Ich halte diese Zurückhaltung aus unseren eigenen Reihen für fatal, da sie ein völlig falsches Bild der dramatischen Lage zeichnet, in der sich unser Berufszweig aktuell befindet.«
Der Jazzmusiker Till Brönner hat schon vor den neuesten Regierungserklärungen eine knapp siebenminütige Wutrede gehalten, die sich in den letzten Stunden in den »sozialen Netzwerken« massenhaft verbreitet hat.
»Ich denke es ist an der Zeit einmal klarzustellen, worüber wir gerade sprechen. Denn hier geht es nicht um Selbstverwirklicher, die in ihrer Eitelkeit gekränkt sind. Es geht um uns alle! Und es geht um Geld, viel Geld!! Ich bin Künstler, aber ich bin auch Arbeitgeber, Familienvater, und Leistungsträger einer Nation, die sich auch selbst gerne das Land der Dichter und Denker nennt.«
»Ich spreche von Musikern, Toningenieuren, Lichttechnikern, Catering, Bühnenbauern, Busfahrern, Beschallungsfirmen, Clubbesitzern, Agenturen und lokalen Hallenbetreibern. Die Liste alleine in meinem persönlichen Umfeld ist also sehr sehr lang. Ich spreche von hunderten qualifizierten Menschen, Studierten, und nur in meinem Dunstkreis und hochgerechnet sind wir viele. Sehr sehr viele. Um genau zu sein so viele, dass der Vergleich mit den größten Branchen, wie z.B. der Autoindustrie deshalb hinkt, weil wir mehr als doppelt so viele sind. Nämlich weit über 1,5 Millionen.«
Brönner verweist in seinem Aufruf darauf, dass die Kultur- und Veranstaltungsbranche pro Jahr rund 130 Milliarden Euro Umsatz mache und insofern auch ein Wirtschaftszweig sei. Und dass dieser Wirtschaftszweig vom Staat ignoriert und ohne Hilfe einfach dem Untergang preisgegeben wird. »Das ist kein Luxusproblem, das ist ein Kernproblem.«
Ich weiß nicht, woher er seine Zahlen hat, und wie »belastbar« sie sind. Persönlich vermute ich, sie dürften noch etwas höher sein.
»Was habe ich übersehen? Wie kann man einzelnen Konzernen Milliarden in den Vorgarten werfen, und der Veranstaltungsbranche Arbeitslosengeld II anbieten? Wir sind weder arbeitslos noch hatten wir vor Corona ein Nachfrageproblem, wie so einige andere Branchen übrigens, die in Wahrheit nicht an Corona, sondern durch Schläfrigkeit oder Gier in Schieflage geraten sind.«
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Man hätte sich so etwas natürlich von der Filmbrache schon lange und erst recht gewünscht, zumal die Pandemie ja die Bedeutung des Films – nicht des Kinos, aber des Films – noch untermauert, aber die Filmbranche hatte bestimmt Wichtigeres zu tun.
Egal, nehmt Euch einfach ein Beispiel Leute! Hört zu und vor allem: Handelt endlich! Jetzt!!
(to be continued)