Cinema Moralia – Folge 233
Willkommen in Absurdistan! |
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Kein Lockdown, sondern »locked forever«: das Metropol-Kino in Stuttgart | ||
(Foto: Andreas Praefcke) |
»Die Idee sitzt gleichsam als Brille auf unsrer Nase, und was wir ansehen, sehen wir durch sie. Wir kommen gar nicht auf den Gedanken, sie abzunehmen.« Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen; §103
»Die nach Amerika importierten Individualitäten, die durch den Import bereits keine mehr sind, heißen colorful personality. Ihr eifrig hemmungsloses Temperament, ihre quicken Einfälle, ihre ›Originalität‹, wäre es auch nur besondere Häßlichkeit, selbst ihr Kauderwelsch verwerten das Menschliche als Clownskostüm. ...
Sie verkaufen sich als Herzenswärmer in der kommerziellen Kälte, schmeicheln sich ein durch aggressive Witze, die von den Protektoren masochistisch genossen werden, und bestätigen durch lachende Würdelosigkeit die ernste Würde des Wirtsvolkes.«
Adorno, »Minima Moralia«; 88. Dummer August
Als wäre der Wahnsinn unseres gegenwärtigen Lebens zwischen Lockdown (nein, nein, Anne Will, es ist natürlich »gar kein richtiger Lockdown«) und Kulturverbot (stimmt, Christoph Hochhäusler, »es gibt kein 'Kulturverbot'«), als wäre dieser Wahnsinn nicht schlimm genug, muss man sich jetzt auch immer noch weiter mit diesem Narzissten/Idioten/Möchtegern-Caudillo mit roter Schirmmütze beschäftigen – neeeiiiin, nicht Michael Moore.
Ok, Nerven behalten! In jeder Hinsicht, ich
versuch’s.
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Diese Wochen bieten immerhin bei allem Verdruss auch die Möglichkeit, sich zu amüsieren, wenn man denn den Sinn für das Absurde im Realen, für den Witz der Wirklichkeit sich bewahren konnte.
Dazu gehören unbedingt zwei Nachrichten der ersten Lockdown-Woche. Die eine heißt – und ich weiß nicht sicher, ob sie stimmt, aber die nicht final bestätigte Nachricht kam undementiert als Zeitungsmeldung aus Wuppertal: Die Kinos sind zwar als Kinos zu, im Einzelfall aber sehr wohl offen, wenn es dort Gottesdienste gibt. Diese sind nämlich erlaubt. Und wo die Kirche die Gläubigen nicht alle fassen kann, setzt man sie eben ins Kino und überträgt dorthin den Gottesdienst. Ob dort dann auch gesungen wird, ist nicht überliefert.
Zweite Nachricht, diese nun gut belegt: Die Kinos sind zwar als Kinos zu, im Einzelfall aber sehr wohl offen, wenn es dort universitäre Lehrveranstaltungen gibt. Im Hamburger Zeise-Kino finden nämlich über das ganze Semester hinweg coronabedingt Uni-Vorlesungen im Kinosaal statt. Weil die Hörsäle zu klein sind, um genügend Abstand zu halten, hat die Hochschule das Kino für das ganze Semester gemietet, und 50 bis 60 Studenten besuchen dort bestimmt unter Einhaltung der AHA-Regeln die Lehrveranstaltung.
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An Corona liegt es nicht. Zumindest nicht daran allein. Dass – um einen neuen, recht prominenten Fall zu nennen – das Stuttgarter »Metropol«-Kino schließen muss, hat viele Gründe: Immer weiter erhöhte Miet- und Pachtverträge zum Beispiel, also die logische Folge der allgemein beklagten Verödung der deutschen Innenstädte durch die Gier (oder sagen wir das systemkonforme logische Verhalten) einiger Spekulanten. Dazu kommt die Feigheit der Politik, dem zu begegnen. Ebenso das sonstige Versagen einer Stuttgarter Kulturpolitik, die – wie eine Lokalzeitung kommentiert –, aus Kurzsichtigkeit die städtische Filmkultur jahrelang sträflich vernachlässigt habe.
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Aber es gibt eben auch einen grundsätzlichen Strukturwandel der Kino- und Filmkultur in Europa, für den das Ende des »Metropol« nur ein Beispiel unter sehr vielen ist.
Schon lange vor der Pandemie haben die Digitalisierung der Vorführtechnik und der Filme selbst, auch der Kopien einst auf Zelluloid hergestellter Werke, das Internet und vor allem der Aufstieg der Streaming-Dienste dem Ort Kino und seiner Wertschätzung enorm zugesetzt: Die Zuschauer wurden zunehmend weniger, und die Dreiteilung des noch verbliebenen Publikums in junge Spektakelsüchtige, Wellnessfilm-Publikum im Seniorenalter und kunstinteressierte Cinephile führte auch zur Verspartung der Filme.
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Dann kam Corona mit den strengen Einschränkungen für alle Kulturinstitutionen, erst recht unter den Bedingungen des Lockdowns, die für viele einem politisch verordneten Kulturverbot gleichkommen. Corona ist da vor allem ein plötzlich auftretender Indikator, Verschärfer und Brandbeschleuniger einer lange andauernden Entwicklung.
Mitunter ist Corona auch auf dem Feld der Filmförderung und Filmkultur aber nur ein durchsichtiger Vorwand für das, was in kalter
Ökonomensprache Marktbereinigung heißt, also um das in Gang zu bringen, was man schon lange realisieren wollte.
Hinzu kommt noch die Tatenlosigkeit einer Politik, die, wenn es um Autos oder Chemieprodukte geht, gern mit Quoten und Zöllen agiert, die bei Banken und Agrarwaren, sogar bei Bühne und Museum Subventionen mit der Gießkanne ausschüttet, das Kino aber komplett vernachlässigt.
Jetzt eskaliert die Krise dieses Kulturorts und fordert ihre ersten Opfer.
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Allein in der Filmbranche gibt es derzeit gleich eine Menge Baustellen: Eine unzeitgemäße Filmförderung könnte man nennen, die Dominanz der Fernsehsender über die Kinofilmproduktion, die Lage der Produzenten, die vor allem in der ersten Jahreshälfte, aber auch danach immer wieder viele ihrer Drehs abbrechen oder verschieben müssen, und die Lage der Filmfestivals, die allein im November im halben Dutzend ihr sowieso schon reduziertes Programm von einer Woche auf die andere ins Netz verlegen mussten.
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Blicken wir nur kurz auf zwei Felder: Den Kinos, dem Ort, wo die Filme aufs Publikum treffen, geht es vergleichsweise gut: Sie bekommen 75 Prozent ihrer Einnahmeausfälle vom Bund ersetzt. Angeblich unbürokratisch.
Das klingt nach einem gar nicht so schlechten Deal. Denn Maßstab für den angesetzten Betrag ist der Umsatz. Unter Lockdown-Bedingungen sparen die Kinos zunächst einmal ihre Minijobber-Mitarbeiter, Ausgaben für Concessions (Getränke und Snacks), Heizung und Strom und
vor allem Filmmieten. Normalerweise müssten sie von ihren Ticketeinnahmen 40-55 Prozent an die Verleiher abgeben.
Hinzu kommt die Tatsache, dass der zugrundeliegende November 2019 ein sehr guter Einnahmemonat war, und – noch wichtiger – dass die Kinos auch ohne Lockdown im November 2020 auf allen Ebenen auch nicht annähernd ähnliche Einnahmen hätten verbuchen können. Allein schon die erzwungene Sitzplatzreduzierung hätte auch den Umsatz auf weniger als ein Drittel gestutzt. Die Kombination aus politischer Angstmacherei und Sicherheitshysterie des Publikums hätte den Rest besorgt.
Im Extremfall dürfte es zumindest einzelne (!!) Kinos geben, die sich durch den November-Lockdown geradezu gesundstoßen. Oder freundlicher formuliert: Die die Einnahmeverluste der Vormonate ausgleichen können.
Das alles gilt allerdings nicht für Unternehmen mit 50 oder mehr Mitarbeitern, also nicht für die Kinoketten.
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Das andere Feld sind die Kino-Verleiher. Neiddebatten sollten auch ohne Pandemie nicht geführt werden. Aber es ist keine Neiddebatte, wenn auf Ungleichbehandlungen, auf Ungerechtigkeiten und krasse Missstände hingewiesen wird. Zudem wird der Begriff der »Neiddebatte« im Kulturbereich immer gern als Totschlagargument benutzt, um schmerzhaften Fragen und der Offenlegung der genannten Missverhältnisse auszuweichen
Wer für eine Seite etwas einfordert, will der
anderen noch nichts wegnehmen.
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Die Verleiher wurden bisher von den Hilfsmaßnahmen vergleichsweise stark vernachlässigt. Das hat mehrere Ursachen. Eine ist die – wieder im Vergleich zu den Kinobetreibern – schwache Lobbyarbeit.
Es drängt sich jetzt aber auch wieder in den Vordergrund, dass die Kulturpolitik und die Filmförderer vom Wesen eines Kinoverleihs keine Ahnung haben und die Verleiharbeit, insbesondere die im Arthouse- und Kunstfilmbereich, noch nie richtig verstanden haben. Im Gegensatz zu Autobossen und Fluglinienchefs sprechen Verleiher nicht mit einer Stimme, sondern viel erratischer, komplizierter.
Für das Verhältnis zwischen Kino und Verleih gilt zugespitzt: Ein Kino ohne Verleiher ist nur ein leeres Haus. Erst die Filme machen es zum Kino. Umgekehrt ist ein Verleih ohne Kinos immer noch ein Diener und Vermittler der Filmkunst.
Filmherausbringung erfordert in der Regel eine längere, aufeinander aufbauende und abgestimmte Marketing-, Werbe- und Pressekampagne, die heute auch in sozialen Medien stattfindet. Daneben gehören zur Expertise der Kinoverleiher die Wahl des richtigen Startzeitpunkts und Film-Umfelds, sowie das Gewinnen der für den jeweiligen Film richtigen Kinos. Der November-Lockdown hat hier die Arbeit von Monaten zerstört, und weit über den Dezember hinaus Folgen ins neue Jahr, übrigens auch für die Kinos. Der Begriff vom »Lockdown light« wirkt hier wie offener Zynismus.
Wie sieht es nun hier mit den Corona-Hilfen aus?
Auch Verleiher erhalten »grundsätzlich« die 75 Prozent. Was hier einstweilen noch komplett offen ist, ist, ob diese mit den Hilfen für die Kinos eigentlich zu verrechnen sind – was der ökonomischen Logik entspräche; aber seit wann funktioniert die Corona-Ökonomie logisch?
Die Verleiher erhalten die 75 Prozent aber auch nur dann, wenn sie 80 Prozent ihres Umsatzes im Kino gemacht haben. Andere Umsätze bleiben unberücksichtigt, können im Extremfall sogar zum Hilfs-Ausschlusskriterium werden. (Nähere Informationen auf der Seite der Investitionsbank Berlin)
Komplett nicht bedacht wurde in dieser Rechnung etwas anderes: Es gibt Verleiher, die im November vor einem Jahr drei erfolgreiche Filme herausgebracht und den besten Monat der letzten drei Jahre erlebt haben, und andere, deren einziger Film erst am 28.11.2019 in die Kinos kam. Man kann diese Ungleichheiten nicht gleich behandeln!!
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Dass das Kino lebendig sein könnte, zeigten zuletzt die extrem erfolgreichen letzten Kinotage vor dem Lockdown mit ausverkauften (sitzplatzreduzierten) Sälen und zum Teil Jahresumsatzhochs.
Dies zeigt übrigens auch die brüchige Unterstützung des Lockdowns in weiten Bevölkerungsteilen – entgegen der Mär, dass alle klugen und moralisch gefestigten Menschen »für ihre Mitmenschen« sehr gerne den Lockdown annehmen, wird dieser mehr »mit der Faust in der Tasche« geduldet, als innerlich angenommen.
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Langfristig aber dominiert auch im Kino Untergangsstimmung. Die Kulturpolitik hat es versäumt, dem Kino eine wirklich zukunftsfähige Perspektive zu geben. Die Umsätze brechen ein, und man muss auch in Bezug auf die Kinos die Frage stellen: Wie kann es mit ihnen überhaupt weitergehen?
Der derzeit vor allem von den Kinolobbys propagierte Kampf gegen Mediatheken und Streamingdienste ist der falsche Weg. So argumentierte zuletzt zum Beispiel auch Lars Henrik Gass, Filmwissenschaftler, Kino-Denker und Leiter der renommierten Oberhausener Kurzfilmtage:
»Man kann nicht anderen vorwerfen, dass sie erkennbar etwas Richtiges machen und auf eine Nachfrage treffen. Denn diese Nachfrage ist ja dadurch bedingt, dass wir ein komplett verändertes Freizeitverhalten schon vor Corona hatten – bedingt durch deregulierte Arbeitsverhältnisse, bedingt durch die Möglichkeiten des Internets und vieles andere mehr.«
Der Prozess des Strukturwandels des Kino von der privilegierten Spielstätte zu einer unter vielen ist jedenfalls nicht mehr aufzuhalten.
Jetzt ist vor allem die Kulturpolitik gefordert. Mit vergleichsweise wenig Geld, könnte man zumindest in größeren Städten öffentliche Kinos errichten oder vorhandene Spielstätten umwandeln, um Kino-Bibliotheken und Filmmuseen zu errichten.
Auf den alten eingefahrenen Bahnen wird dieser Kulturort nicht überleben können. Um das Kino zu retten, muss man es neu erfinden.
(to be continued)