12.11.2020
Cinema Moralia – Folge 233

Will­kommen in Absur­di­stan!

Metropol-Kino Stuttgart
Kein Lockdown, sondern »locked forever«: das Metropol-Kino in Stuttgart
(Foto: Andreas Praefcke)

Logik im Lockdown: Corona ist nicht die Ursache, aber ein Verschärfer der Widersprüche der Kinokrise – Cinema Moralia, Tagebuch eines Kinogehers, 233. Folge

Von Rüdiger Suchsland

»Die Idee sitzt gleichsam als Brille auf unsrer Nase, und was wir ansehen, sehen wir durch sie. Wir kommen gar nicht auf den Gedanken, sie abzu­nehmen.« Witt­gen­stein, Philo­so­phi­sche Unter­su­chungen; §103

»Die nach Amerika impor­tierten Indi­vi­dua­li­täten, die durch den Import bereits keine mehr sind, heißen colorful perso­na­lity. Ihr eifrig hemmungs­loses Tempe­ra­ment, ihre quicken Einfälle, ihre ›Origi­na­lität‹, wäre es auch nur besondere Häßlich­keit, selbst ihr Kauder­welsch verwerten das Mensch­liche als Clowns­kostüm. ...
Sie verkaufen sich als Herzens­wärmer in der kommer­zi­ellen Kälte, schmei­cheln sich ein durch aggres­sive Witze, die von den Protek­toren maso­chis­tisch genossen werden, und bestä­tigen durch lachende Würde­lo­sig­keit die ernste Würde des Wirts­volkes.«

Adorno, »Minima Moralia«; 88. Dummer August

Als wäre der Wahnsinn unseres gegen­wär­tigen Lebens zwischen Lockdown (nein, nein, Anne Will, es ist natürlich »gar kein richtiger Lockdown«) und Kultur­verbot (stimmt, Christoph Hoch­häusler, »es gibt kein 'Kultur­verbot'«), als wäre dieser Wahnsinn nicht schlimm genug, muss man sich jetzt auch immer noch weiter mit diesem Narzissten/Idioten/Möch­te­gern-Caudillo mit roter Schirm­mütze beschäf­tigen – neeeiiiin, nicht Michael Moore.
Ok, Nerven behalten! In jeder Hinsicht, ich versuch’s.

+ + +

Diese Wochen bieten immerhin bei allem Verdruss auch die Möglich­keit, sich zu amüsieren, wenn man denn den Sinn für das Absurde im Realen, für den Witz der Wirk­lich­keit sich bewahren konnte.

Dazu gehören unbedingt zwei Nach­richten der ersten Lockdown-Woche. Die eine heißt – und ich weiß nicht sicher, ob sie stimmt, aber die nicht final bestä­tigte Nachricht kam unde­men­tiert als Zeitungs­mel­dung aus Wuppertal: Die Kinos sind zwar als Kinos zu, im Einzel­fall aber sehr wohl offen, wenn es dort Gottes­dienste gibt. Diese sind nämlich erlaubt. Und wo die Kirche die Gläubigen nicht alle fassen kann, setzt man sie eben ins Kino und überträgt dorthin den Gottes­dienst. Ob dort dann auch gesungen wird, ist nicht über­lie­fert.

Zweite Nachricht, diese nun gut belegt: Die Kinos sind zwar als Kinos zu, im Einzel­fall aber sehr wohl offen, wenn es dort univer­si­täre Lehr­ver­an­stal­tungen gibt. Im Hamburger Zeise-Kino finden nämlich über das ganze Semester hinweg coro­nabe­dingt Uni-Vorle­sungen im Kinosaal statt. Weil die Hörsäle zu klein sind, um genügend Abstand zu halten, hat die Hoch­schule das Kino für das ganze Semester gemietet, und 50 bis 60 Studenten besuchen dort bestimmt unter Einhal­tung der AHA-Regeln die Lehr­ver­an­stal­tung.

+ + +

An Corona liegt es nicht. Zumindest nicht daran allein. Dass – um einen neuen, recht promi­nenten Fall zu nennen – das Stutt­garter »Metropol«-Kino schließen muss, hat viele Gründe: Immer weiter erhöhte Miet- und Pacht­ver­träge zum Beispiel, also die logische Folge der allgemein beklagten Verödung der deutschen Innen­s­tädte durch die Gier (oder sagen wir das system­kon­forme logische Verhalten) einiger Speku­lanten. Dazu kommt die Feigheit der Politik, dem zu begegnen. Ebenso das sonstige Versagen einer Stutt­garter Kultur­po­litik, die – wie eine Lokal­zei­tung kommen­tiert –, aus Kurz­sich­tig­keit die städ­ti­sche Film­kultur jahrelang sträflich vernach­läs­sigt habe.

+ + +

Aber es gibt eben auch einen grund­sätz­li­chen Struk­tur­wandel der Kino- und Film­kultur in Europa, für den das Ende des »Metropol« nur ein Beispiel unter sehr vielen ist.

Schon lange vor der Pandemie haben die Digi­ta­li­sie­rung der Vorführ­technik und der Filme selbst, auch der Kopien einst auf Zelluloid herge­stellter Werke, das Internet und vor allem der Aufstieg der Streaming-Dienste dem Ort Kino und seiner Wert­schät­zung enorm zugesetzt: Die Zuschauer wurden zunehmend weniger, und die Drei­tei­lung des noch verblie­benen Publikums in junge Spek­ta­kelsüch­tige, Well­ness­film-Publikum im Senio­ren­alter und kunst­in­ter­es­sierte Cinephile führte auch zur Verspar­tung der Filme.

+ + +

Dann kam Corona mit den strengen Einschrän­kungen für alle Kultur­in­sti­tu­tionen, erst recht unter den Bedin­gungen des Lockdowns, die für viele einem politisch verord­neten Kultur­verbot gleich­kommen. Corona ist da vor allem ein plötzlich auftre­tender Indikator, Verschärfer und Brand­be­schleu­niger einer lange andau­ernden Entwick­lung.
Mitunter ist Corona auch auf dem Feld der Film­för­de­rung und Film­kultur aber nur ein durch­sich­tiger Vorwand für das, was in kalter Ökono­men­sprache Markt­be­rei­ni­gung heißt, also um das in Gang zu bringen, was man schon lange reali­sieren wollte.

Hinzu kommt noch die Taten­lo­sig­keit einer Politik, die, wenn es um Autos oder Chemie­pro­dukte geht, gern mit Quoten und Zöllen agiert, die bei Banken und Agrar­waren, sogar bei Bühne und Museum Subven­tionen mit der Gießkanne ausschüttet, das Kino aber komplett vernach­läs­sigt.

Jetzt eskaliert die Krise dieses Kultur­orts und fordert ihre ersten Opfer.

+ + +

Allein in der Film­branche gibt es derzeit gleich eine Menge Baustellen: Eine unzeit­ge­mäße Film­för­de­rung könnte man nennen, die Dominanz der Fern­seh­sender über die Kino­film­pro­duk­tion, die Lage der Produ­zenten, die vor allem in der ersten Jahres­hälfte, aber auch danach immer wieder viele ihrer Drehs abbrechen oder verschieben müssen, und die Lage der Film­fes­ti­vals, die allein im November im halben Dutzend ihr sowieso schon redu­ziertes Programm von einer Woche auf die andere ins Netz verlegen mussten.

+ + +

Blicken wir nur kurz auf zwei Felder: Den Kinos, dem Ort, wo die Filme aufs Publikum treffen, geht es vergleichs­weise gut: Sie bekommen 75 Prozent ihrer Einnah­me­aus­fälle vom Bund ersetzt. Angeblich unbüro­kra­tisch.
Das klingt nach einem gar nicht so schlechten Deal. Denn Maßstab für den ange­setzten Betrag ist der Umsatz. Unter Lockdown-Bedin­gungen sparen die Kinos zunächst einmal ihre Mini­jobber-Mitar­beiter, Ausgaben für Conces­sions (Getränke und Snacks), Heizung und Strom und vor allem Film­mieten. Norma­ler­weise müssten sie von ihren Ticket­ein­nahmen 40-55 Prozent an die Verleiher abgeben.

Hinzu kommt die Tatsache, dass der zugrun­de­lie­gende November 2019 ein sehr guter Einnah­me­monat war, und – noch wichtiger – dass die Kinos auch ohne Lockdown im November 2020 auf allen Ebenen auch nicht annähernd ähnliche Einnahmen hätten verbuchen können. Allein schon die erzwun­gene Sitz­platz­re­du­zie­rung hätte auch den Umsatz auf weniger als ein Drittel gestutzt. Die Kombi­na­tion aus poli­ti­scher Angst­ma­cherei und Sicher­heits­hys­terie des Publikums hätte den Rest besorgt.

Im Extrem­fall dürfte es zumindest einzelne (!!) Kinos geben, die sich durch den November-Lockdown geradezu gesund­stoßen. Oder freund­li­cher formu­liert: Die die Einnah­me­ver­luste der Vormonate ausglei­chen können.

Das alles gilt aller­dings nicht für Unter­nehmen mit 50 oder mehr Mitar­bei­tern, also nicht für die Kino­ketten.

+ + +

Das andere Feld sind die Kino-Verleiher. Neid­de­batten sollten auch ohne Pandemie nicht geführt werden. Aber es ist keine Neid­de­batte, wenn auf Ungleich­be­hand­lungen, auf Unge­rech­tig­keiten und krasse Miss­stände hinge­wiesen wird. Zudem wird der Begriff der »Neid­de­batte« im Kultur­be­reich immer gern als Totschlag­ar­gu­ment benutzt, um schmerz­haften Fragen und der Offen­le­gung der genannten Miss­ver­hält­nisse auszu­wei­chen
Wer für eine Seite etwas einfor­dert, will der anderen noch nichts wegnehmen.

+ + +

Die Verleiher wurden bisher von den Hilfs­maß­nahmen vergleichs­weise stark vernach­läs­sigt. Das hat mehrere Ursachen. Eine ist die – wieder im Vergleich zu den Kino­be­trei­bern – schwache Lobby­ar­beit.

Es drängt sich jetzt aber auch wieder in den Vorder­grund, dass die Kultur­po­litik und die Film­för­derer vom Wesen eines Kino­ver­leihs keine Ahnung haben und die Verleih­ar­beit, insbe­son­dere die im Arthouse- und Kunst­film­be­reich, noch nie richtig verstanden haben. Im Gegensatz zu Auto­bossen und Flug­li­ni­en­chefs sprechen Verleiher nicht mit einer Stimme, sondern viel erra­ti­scher, kompli­zierter.

Für das Verhältnis zwischen Kino und Verleih gilt zuge­spitzt: Ein Kino ohne Verleiher ist nur ein leeres Haus. Erst die Filme machen es zum Kino. Umgekehrt ist ein Verleih ohne Kinos immer noch ein Diener und Vermittler der Filmkunst.

Film­her­aus­brin­gung erfordert in der Regel eine längere, aufein­ander aufbau­ende und abge­stimmte Marketing-, Werbe- und Pres­se­kam­pagne, die heute auch in sozialen Medien statt­findet. Daneben gehören zur Expertise der Kino­ver­leiher die Wahl des richtigen Start­zeit­punkts und Film-Umfelds, sowie das Gewinnen der für den jewei­ligen Film richtigen Kinos. Der November-Lockdown hat hier die Arbeit von Monaten zerstört, und weit über den Dezember hinaus Folgen ins neue Jahr, übrigens auch für die Kinos. Der Begriff vom »Lockdown light« wirkt hier wie offener Zynismus.

Wie sieht es nun hier mit den Corona-Hilfen aus?

Auch Verleiher erhalten »grund­sätz­lich« die 75 Prozent. Was hier einst­weilen noch komplett offen ist, ist, ob diese mit den Hilfen für die Kinos eigent­lich zu verrechnen sind – was der ökono­mi­schen Logik entspräche; aber seit wann funk­tio­niert die Corona-Ökonomie logisch?

Die Verleiher erhalten die 75 Prozent aber auch nur dann, wenn sie 80 Prozent ihres Umsatzes im Kino gemacht haben. Andere Umsätze bleiben unberück­sich­tigt, können im Extrem­fall sogar zum Hilfs-Ausschluss­kri­te­rium werden. (Nähere Infor­ma­tionen auf der Seite der Inves­ti­ti­ons­bank Berlin)

Komplett nicht bedacht wurde in dieser Rechnung etwas anderes: Es gibt Verleiher, die im November vor einem Jahr drei erfolg­reiche Filme heraus­ge­bracht und den besten Monat der letzten drei Jahre erlebt haben, und andere, deren einziger Film erst am 28.11.2019 in die Kinos kam. Man kann diese Ungleich­heiten nicht gleich behandeln!!

+ + +

Dass das Kino lebendig sein könnte, zeigten zuletzt die extrem erfolg­rei­chen letzten Kinotage vor dem Lockdown mit ausver­kauften (sitz­platz­re­du­zierten) Sälen und zum Teil Jahres­um­satz­hochs.

Dies zeigt übrigens auch die brüchige Unter­s­tüt­zung des Lockdowns in weiten Bevöl­ke­rungs­teilen – entgegen der Mär, dass alle klugen und moralisch gefes­tigten Menschen »für ihre Mitmen­schen« sehr gerne den Lockdown annehmen, wird dieser mehr »mit der Faust in der Tasche« geduldet, als innerlich ange­nommen.

+ + +

Lang­fristig aber dominiert auch im Kino Unter­gangs­stim­mung. Die Kultur­po­litik hat es versäumt, dem Kino eine wirklich zukunfts­fähige Perspek­tive zu geben. Die Umsätze brechen ein, und man muss auch in Bezug auf die Kinos die Frage stellen: Wie kann es mit ihnen überhaupt weiter­gehen?

Der derzeit vor allem von den Kino­lobbys propa­gierte Kampf gegen Media­theken und Strea­ming­dienste ist der falsche Weg. So argu­men­tierte zuletzt zum Beispiel auch Lars Henrik Gass, Film­wis­sen­schaftler, Kino-Denker und Leiter der renom­mierten Ober­hau­sener Kurz­film­tage:

»Man kann nicht anderen vorwerfen, dass sie erkennbar etwas Richtiges machen und auf eine Nachfrage treffen. Denn diese Nachfrage ist ja dadurch bedingt, dass wir ein komplett verän­dertes Frei­zeit­ver­halten schon vor Corona hatten – bedingt durch dere­gu­lierte Arbeits­ver­hält­nisse, bedingt durch die Möglich­keiten des Internets und vieles andere mehr.«

Der Prozess des Struk­tur­wan­dels des Kino von der privi­le­gierten Spielstätte zu einer unter vielen ist jeden­falls nicht mehr aufzu­halten.

Jetzt ist vor allem die Kultur­po­litik gefordert. Mit vergleichs­weise wenig Geld, könnte man zumindest in größeren Städten öffent­liche Kinos errichten oder vorhan­dene Spielstätten umwandeln, um Kino-Biblio­theken und Film­mu­seen zu errichten.

Auf den alten einge­fah­renen Bahnen wird dieser Kulturort nicht überleben können. Um das Kino zu retten, muss man es neu erfinden.

(to be continued)