19.11.2020
Cinema Moralia – Folge 234

Unter dem Sauer­stoff­zelt

Idioten der Familie
Wir halten jetzt aber zusammen: Idioten der Familie
(Foto: Farbfilm Verleih)

Äther und Gezeter: Luft schnappen in dunkler Jahreszeit – Cinema Moralia, Tagebuch eines Kinogehers, 234. Folge

Von Rüdiger Suchsland

»You have no enemies, you say? Alas! my friend, the boast is poor;
He who has mingled in the fray / Of duty, that the brave endure,
Must have made foes! If you have none, / Small is the work that you have done.
You’ve hit no traitor on the hip, / You’ve dashed no cup from perjured lip,
You’ve never turned the wrong to right, / You’ve been a coward in the fight.«
Charles Mackay

»Macht- und Herr­schafts­ver­hält­nissen ist in unter­schied­li­chem Ausmaß das Scheitern immanent. Es gibt immer etwas, das ihnen entgeht.«Isabell Lorey, »Figuren des Immunen«

»Es gibt Dinge, die an nichts anderem als an sich selbst scheitern.«Franz Kafka, Das Schloss

»Remember remember the 5th of November« – bis zu einem Powder-Plot wird es noch dauern. So muss man sich die Zeit vertreiben, bis die Kinos wieder öffnen. Doch während sich der »Lockdown Light« vorher­sehbar in einen »Lockdown Blei« wandelt, und auf den »dunklen November« (Markus Söder) kein »heller Dezember« folgen dürfte, noch nicht mal schlechte Weih­nachts­filme in den Kinos laufen dürfen, sind wir auf anderes ange­wiesen.

Wer im vergan­genen Jahr Michael Kliers schönen, sehr beson­deren Film Idioten der Familie verpasst hat – und das waren leider ein paar – der kann diesen Kinofilm jetzt ein paar Wochen in der arte-Mediathek nachholen. Oder ihn beim Farbfilm-Verleih bestellen.

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Seiner­zeit schrieb ich über den Film: »Dies ist eine Fami­li­en­ge­schichte, aber keine, wie sie im deutschen Kino allzu oft zu sehen ist. Immer wieder geht irgend­etwas aus dem Leim, wird eine Grenze über­schritten. Denn wenn sie beiein­ander sind, fallen alle Geschwister wieder in ihre Kind­heits­rollen und die Fami­li­en­dy­namik von einst zurück – sie kämpfen mitein­ander, erziehen den anderen oder ziehen sich selbst zurück. Dies keine Familie zum Wohl­fühlen, und die liebe­vollen Seiten der Geschwister scheinen nur an den Rändern des Gesche­hens mal kurz auf.« Und weiter: »Mitge­meint ist hier aber auch ... die Idiotie des Fami­li­en­mo­dells, zu dem es in den west­li­chen Gesell­schaften auch in der Spät­mo­derne keine echte Alter­na­tive zu geben scheint, und das gerade im deutschen Kino gern unge­bro­chen propa­giert wird: Vater, Mutter, Kinder, ob bluts­ver­wandt oder nicht, sind auf Gedeih und Verderb anein­an­der­ge­kettet und einander ausge­lie­fert. Wer diesen hervor­ra­genden, fesselnd eigen­wil­ligen Film sieht, könnte auf den Gedanken kommen, dass man 'Familie' am besten vergessen sollte.«

Das klingt schon fast nach Lockdown. Es ist auch ein Schau­spiel-Ensem­ble­film. Jördis Triebel, Hanno Koffler, Florian Stetter, Kai Scheve und Lilith Stan­gen­berg, vor allem Lilith Stan­gen­berg kann man hier sehen – von Kame­ra­mann Patrick Orth grandios in Szene gesetzt.

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Ein zweiter Media­theks-Tip gilt einem Filme­ma­cher: Andres Veiel (Black Box BRD, Beuys). Jetzt hat er einmal fürs Fernsehen gear­beitet, und zwar, um Angela Merkel vor Gericht zu bringen – bisher vor allem eine Phantasie von Reichs­bür­gern, Hygie­ne­de­mons­tranten und ähnlichen Gesellen.
Veiels Ökozid ist aus verschie­denen Gründen sehens­wert, aber ganz und gar kein Kino, sondern ein fern­seh­haft insze­niertes Court-Room-Drama mit Science-Fiction-Elementen und viel Moral. Es könnte, scheint mir, aber unser Nach­denken darüber anregen, wie sich das Genre des Polit-Thrillers bei uns wieder beleben lässt.
Die Stärke dieses Films ist seine harte poli­ti­sche Kritik, die auch persön­lich wird, wo es nötig ist, die Namen nennt und keine Angst hat, sich Feinde zu machen. Das ist etwas, von dem nicht nur das deutsche Kino zu lernen hat.

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Es gebe keine Privat­heit mehr, wird heute gern fest­ge­stellt. Das mag sein und liegt gewiss an der Selbst­preis­gabe des Privaten, Geheimen durch einen Menschen­schlag, dem die Sensi­bi­lität fehlt, sich vorzu­stellen, wie es sich unter Verhält­nissen lebt, in denen es nicht egal ist, was man zu verbergen hat.

Mehr aber als dieses Private, für das man umgekehrt auch fest­stellen könnte, dass es sich zumindest in den west­li­chen demo­kra­ti­schen Verhält­nissen der letzten Dekaden von Princess Diana bis Donald Trump recht hemmungslos auslebt – »Tyrannei der Intimität« hat Richard Sennett das genannt – ist heute sein Pendant gefährdet: Die Öffent­lich­keit.
Sie wird zunehmend reguliert, struk­tu­riert, kolo­nia­li­siert. Eine Gesell­schaft der Unglei­chen wird, offenbar, weil man sie nicht gleich­ma­chen kann, in eine Setz­kasten-Gesell­schaft verwan­delt. Jeder bleibt in seinem Milieu-Kästchen, seiner emotio­nalen Filter­blase. Wo doch mal Begegnung des Diffe­renten sich nicht vermeiden lässt, ist schnell ein Zustand des Belei­digt­seins die Folge. Irri­ta­tion wird nicht als positiv empfunden, sondern als störend. Ergebnis: Inflation des Betrof­fen­seins, des traurigen Gefühls.
Der freie Austausch bleibt auf der Strecke.

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Darüber, was das, die Unfähig­keit zu streiten, und dieser Unwille auszu­halten, für die Debat­ten­kultur und besonders den Jour­na­lismus bedeutet, hat Ben Krischke gerade auf Meedia Lesens­werts geschrieben: »...freilich sind Jour­na­listen nicht davor gefeit, vorein­ge­nommen, unsauber oder sonst irgendwie fehler­haft zu berichten. Deshalb ist es nicht nur legitim, sondern sogar wünschens­wert, dass sich die Menschen kritisch mit Medien ausein­an­der­setzen. Im Idealfall übrigens nicht nur mit jenen, die sie ohnehin nicht mögen, sondern auch mit denen, die die Welt in ihrem Sinne sehen und beschreiben.
Wenn aber einzelne Prot­ago­nisten, ihre Twitter-Fanbase oder irgend­welche Rand­gruppen bestimmen wollen, was und wie der Jour­na­list zu schreiben oder zu fragen hat, wird eine Grenze über­schritten. Denn wer diktieren will, will eingreifen. Und wer eingreifen will, greift bisweilen auch an. Das zeigte sich jüngst auch im Umfeld der 'Quer­denken'-Proteste, als wieder­holt Pres­se­ver­treter atta­ckiert wurden. Sie mögen nun viel­leicht einwerfen, dass das eine nicht mit dem anderen vergleichbar sei. Dann sage ich: Sie irren. Beides, das pene­trante Diktie­ren­wollen und das konse­quente Verteu­feln, sind nur zwei unschöne Auswüchse ein und desselben Ungeistes. Beides hat tota­li­täre Züge. Wenn Jour­na­listen nur als Erfül­lungs­ge­hilfen betrachtet und bei Miss­fallen zum Abschuss frei­ge­geben werden, wird das zum Problem für eine freie Gesell­schaft. Wer sollte also bestimmen, was der Jour­na­list darf – und was nicht? Ich meine: Im Zweifel für die Pres­se­frei­heit.«

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Media­theken sind Krücken. Sind allen­falls zweite Hand. Wir sympa­thi­sieren hier mit Film­fes­ti­vals, mit einigen ganz besonders, aber wir können nicht ernsthaft damit sympa­thi­sieren, dass sie ihre Auswahl – mag diese nun gut oder besonders gut, und von befreun­deten Kuratoren kuratiert oder auch nicht sein – ins Netz stellen. Wir können es unter­s­tützen, denn wir wissen selbst, dass ein Weiter­laufen im Netz für manche lebens­not­wendig ist, und dass auch die Filme­ma­cher, auch ihre Verleiher und Vertriebe darauf ange­wiesen sind, dass das Kino auf diese Art überlebt. Unterm Sauer­stoff­zelt, unter dem Media­the­ken­ret­tungs­schirm.
Wir müssen nur sehr genau aufpassen – denn auch die zunächst einmal bene­vo­lente und oft genug naiv gut gemeinte Position, Filme müssten doch ihr Publikum finden, und Zuschauer im Netz seien doch auch Menschen, läuft schnell in Gefahr, sich zu verselb­stän­digen und wesent­liche Unter­schiede einzu­ebnen.

Das Netz ist großartig, wo es das Kino nicht abschafft, sondern es als schüt­zender, fördernder Raum umgibt. Darum wären Festivals eigent­lich dann am Besten, wenn sie alles Mögliche im Netz machen, aber dort keine Filme zeigten.

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Nun ist Corona etwas, das wir hoffent­lich nur einmal im Leben erleben, und nicht nur in Lock­down­phasen aller beschwich­ti­genden Rhetorik zum Trotz ein Ausnah­me­zu­stand.
Darum dürfen und sollten wir in der Praxis gnädig sein.
So kann man sich immerhin gut ablenken in den Media­theken der Festivals. Besonders empfehlen würde ich die Akkre­di­tie­rung zum einen beim IDFA, dem Inter­na­tio­nalen Doku­men­tar­film­fes­tival von Amsterdam und bestem Doku­men­tar­film-Festival der Welt, das bis zum 6. Dezember dauert. So wie bei zwei deutschen Film-Festivals: Dem Exground in Wiesbaden, und dem Inter­na­tio­nalen Film­fes­tival von Mannheim-Heidel­berg.
In diesem letzten Fall bin ich nicht ganz unab­hängig, weil ich für das Festival 18 Jahre lang gear­beitet habe, und dies auch in diesem Jahr getan hätte – aber durch die Pandemie ist nun alles anders. Nichts­des­to­trotz habe ich einige Filme, die in Mannheim noch die nächsten Tage laufen, bereits auf anderen Film­fes­ti­vals gesehen. Ich kann sie wärmstens empfehlen. Die wich­tigsten Tipps: My Mexican Brezel, ein spani­scher Film aus dem Wett­be­werb, ist sensa­tio­nell!!! Dies ist ein Film, den man deswegen nicht gut einordnen kann, weil er gewis­ser­maßen das Kino ganz neu erfindet, und einen neuen, ganz eigenen Typ von Film begründet. Den kann man ganz bestimmt nicht als Doku­men­tar­film bezeichnen, obwohl doku­men­ta­ri­sches Material verwendet wird, und man kann ihn auch nur zum Teil als Spielfilm bezeichnen. Warum das so ist, darüber schreibe ich gern ein andermal mehr, aber erst einmal sollte man diesen Film, wenn es irgendwie möglich ist, angucken! Wirklich!!
Weitere Tips: Tragic Jungle aus Mexiko, der schon in Venedig lief, und Mamá, mamá, mamá von Sol Berruezo Pichon-Rivière, eine Art The Virgin Suicides aus Argen­ti­nien, der von der lustigen Berlinale kurio­ser­weise in der Sektion Gene­ra­tion Kplus gezeigt wurde, wo Filme für Sechs­jäh­rige laufen. Er ist aber ein Film für Erwach­sene.

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Ein Jahr lang können die Festivals – wie überhaupt die ganze Film­branche – diesen Zustand durch­halten. Sollte aber auch das kommende Jahr 2021 komplett unter Pandemie-Bedin­gungen statt­finden müssen, wird es bereits viel schwie­riger werden. Zur Zeit hoffen alle – kontra­fak­tisch wie mir scheint – darauf, dass im kommenden Jahr ab dem Sommer spätes­tens die Dinge wieder halbwegs normal werden.
Noch immer gehen die aller­meisten davon aus, dass Corona einen klar begrenzten Ausnah­me­zu­stand markiert, und nicht einen Kultur- und Ökonomie-Bruch. Noch immer glauben die aller­meisten, dass wir irgend­wann im nächsten Jahr wieder zu einem Zustand zurück­kehren, der so sein wird, wie er bis zum Februar dieses Jahres gewesen ist. Ich bin mir da nicht so sicher. Ich fürchte, dass wir, jeden­falls wir Erwach­senen, für den Rest unseres Lebens unsere Gegenwart in eine Zeit »vor Corona« und »nach Corona« einteilen werden.

Ich sage das als jemand, der sich selbst eher als »Corona-Skeptiker« versteht. Damit meine ich, dass ich die Krankheit Corona in keiner Weise leugne und ihre Gefahren nicht mini­mieren möchte. Dass ich aber die Reaktion darauf für heillos über­trieben halte. Und für ein bisschen dekadent. Ich glaube, dass diese Reaktion vor allem unsere Unfähig­keit verrät, mit Gefahr und Risiko, auch mit Todes­ge­fahren und Gesund­heits­ri­siken umzugehen. Dass sie unsere Fähigkeit zur Reali­täts­ver­leug­nung verrät. Unsere Fähigkeit dazu, uns die Dinge schön­zu­reden.
Ich glaube, dass Corona im Prinzip die aller­meisten unserer Diskurse obsolet macht. Mindes­tens die Art, wie wir über Dinge sprechen, und teilweise die Themen selbst. Viele der Themen, mit denen wir uns aus durchaus guten Gründen die Zeit im Wohl­fahrts­re­gime der reichsten Länder der Welt vertrieben haben, unsere Frei­heiten gern einge­tauscht haben gegen Sicher­heiten und Reichtum, werden durch Corona zu großen Teilen margi­na­li­siert.

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Wir möchten weiter davon träumen, dass wir unsere Gesell­schaft so erhalten können, wie sie vor Corona war. Selbst mit ihren Schat­ten­seiten. Wir möchten nicht aner­kennen, dass wir mit dem Tod vieler Menschen schlicht und einfach umgehen müssen. Bisher sind es bereits 1,35 Millionen weltweit (von 52 Millionen insgesamt im Jahr 2020). Eine obszön hohe Zahl!
Wir möchten das igno­rieren, vers­tänd­li­cher­weise, uns schön­reden, und nicht aner­kennen, dass unter den Toten auch Menschen sind oder sein werden, die wir kennen, die wir lieben. Viel­leicht irgend­wann wir selber. Wir möchten uns statt­dessen vormachen, dass es möglich sein könnte, mit möglichst strengen Hygiene- und Vorsor­ge­maß­nahmen und medi­zi­ni­schen Maßnahmen und einem sehr harten, sehr unfreien Gesund­heits-Regime die Krankheit zu vertilgen. Die Bedrohung zu vernichten. Irgendwie loszu­werden. Und dann ist wieder alles gut. Wir möchten uns einreden, dass es möglich wäre, wenn man sich ein paar Monate zusam­men­reißt und dann ein paar Monate lang das gesell­schaft­liche Leben aussetzt, das Übel loszu­werden. Und dann könnte es ein für allemal weg sein.

Das wird alles nicht funk­tio­nieren. Dies meinen jene, die von alldem mehr verstehen und sagen, wir müssten lernen, mit dem Virus zu leben.

(to be continued)