Cinema Moralia – Folge 234
Unter dem Sauerstoffzelt |
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Wir halten jetzt aber zusammen: Idioten der Familie | ||
(Foto: Farbfilm Verleih) |
»You have no enemies, you say? Alas! my friend, the boast is poor;
He who has mingled in the fray / Of duty, that the brave endure,
Must have made foes! If you have none, / Small is the work that you have done.
You’ve hit no traitor on the hip, / You’ve dashed no cup from perjured lip,
You’ve never turned the wrong to right, / You’ve been a coward in the fight.«Charles Mackay»Macht- und Herrschaftsverhältnissen ist in unterschiedlichem Ausmaß das Scheitern immanent. Es gibt immer etwas, das ihnen entgeht.«Isabell Lorey, »Figuren des Immunen«
»Es gibt Dinge, die an nichts anderem als an sich selbst scheitern.«Franz Kafka, Das Schloss
»Remember remember the 5th of November« – bis zu einem Powder-Plot wird es noch dauern. So muss man sich die Zeit vertreiben, bis die Kinos wieder öffnen. Doch während sich der »Lockdown Light« vorhersehbar in einen »Lockdown Blei« wandelt, und auf den »dunklen November« (Markus Söder) kein »heller Dezember« folgen dürfte, noch nicht mal schlechte Weihnachtsfilme in den Kinos laufen dürfen, sind wir auf anderes angewiesen.
Wer im vergangenen Jahr Michael Kliers schönen, sehr besonderen Film Idioten der Familie verpasst hat – und das waren leider ein paar – der kann diesen Kinofilm jetzt ein paar Wochen in der arte-Mediathek nachholen. Oder ihn beim Farbfilm-Verleih bestellen.
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Seinerzeit schrieb ich über den Film: »Dies ist eine Familiengeschichte, aber keine, wie sie im deutschen Kino allzu oft zu sehen ist. Immer wieder geht irgendetwas aus dem Leim, wird eine Grenze überschritten. Denn wenn sie beieinander sind, fallen alle Geschwister wieder in ihre Kindheitsrollen und die Familiendynamik von einst zurück – sie kämpfen miteinander, erziehen den anderen oder ziehen sich selbst zurück. Dies keine Familie zum Wohlfühlen, und die liebevollen Seiten der Geschwister scheinen nur an den Rändern des Geschehens mal kurz auf.« Und weiter: »Mitgemeint ist hier aber auch ... die Idiotie des Familienmodells, zu dem es in den westlichen Gesellschaften auch in der Spätmoderne keine echte Alternative zu geben scheint, und das gerade im deutschen Kino gern ungebrochen propagiert wird: Vater, Mutter, Kinder, ob blutsverwandt oder nicht, sind auf Gedeih und Verderb aneinandergekettet und einander ausgeliefert. Wer diesen hervorragenden, fesselnd eigenwilligen Film sieht, könnte auf den Gedanken kommen, dass man 'Familie' am besten vergessen sollte.«
Das klingt schon fast nach Lockdown. Es ist auch ein Schauspiel-Ensemblefilm. Jördis Triebel, Hanno Koffler, Florian Stetter, Kai Scheve und Lilith Stangenberg, vor allem Lilith Stangenberg kann man hier sehen – von Kameramann Patrick Orth grandios in Szene gesetzt.
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Ein zweiter Mediatheks-Tip gilt einem Filmemacher: Andres Veiel (Black Box BRD, Beuys). Jetzt hat er einmal fürs Fernsehen gearbeitet, und zwar, um Angela Merkel vor Gericht zu bringen – bisher vor allem eine Phantasie von Reichsbürgern, Hygienedemonstranten und ähnlichen Gesellen.
Veiels Ökozid ist aus verschiedenen Gründen sehenswert, aber ganz und gar kein Kino, sondern ein fernsehhaft inszeniertes Court-Room-Drama mit Science-Fiction-Elementen und viel Moral. Es könnte, scheint mir, aber unser Nachdenken darüber anregen, wie sich das Genre des Polit-Thrillers bei uns wieder beleben lässt.
Die Stärke dieses Films ist seine harte politische Kritik, die auch persönlich wird,
wo es nötig ist, die Namen nennt und keine Angst hat, sich Feinde zu machen. Das ist etwas, von dem nicht nur das deutsche Kino zu lernen hat.
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Es gebe keine Privatheit mehr, wird heute gern festgestellt. Das mag sein und liegt gewiss an der Selbstpreisgabe des Privaten, Geheimen durch einen Menschenschlag, dem die Sensibilität fehlt, sich vorzustellen, wie es sich unter Verhältnissen lebt, in denen es nicht egal ist, was man zu verbergen hat.
Mehr aber als dieses Private, für das man umgekehrt auch feststellen könnte, dass es sich zumindest in den westlichen demokratischen Verhältnissen der letzten Dekaden von Princess Diana bis Donald Trump recht hemmungslos auslebt – »Tyrannei der Intimität« hat Richard Sennett das genannt – ist heute sein Pendant gefährdet: Die Öffentlichkeit.
Sie wird zunehmend reguliert, strukturiert, kolonialisiert. Eine Gesellschaft der Ungleichen wird, offenbar, weil man sie
nicht gleichmachen kann, in eine Setzkasten-Gesellschaft verwandelt. Jeder bleibt in seinem Milieu-Kästchen, seiner emotionalen Filterblase. Wo doch mal Begegnung des Differenten sich nicht vermeiden lässt, ist schnell ein Zustand des Beleidigtseins die Folge. Irritation wird nicht als positiv empfunden, sondern als störend. Ergebnis: Inflation des Betroffenseins, des traurigen Gefühls.
Der freie Austausch bleibt auf der Strecke.
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Darüber, was das, die Unfähigkeit zu streiten, und dieser Unwille auszuhalten, für die Debattenkultur und besonders den Journalismus bedeutet, hat Ben Krischke gerade auf Meedia Lesenswerts geschrieben: »...freilich sind Journalisten nicht davor gefeit, voreingenommen, unsauber oder sonst irgendwie fehlerhaft zu berichten. Deshalb ist es nicht nur legitim, sondern sogar wünschenswert, dass sich die Menschen kritisch mit Medien auseinandersetzen. Im Idealfall übrigens nicht
nur mit jenen, die sie ohnehin nicht mögen, sondern auch mit denen, die die Welt in ihrem Sinne sehen und beschreiben.
Wenn aber einzelne Protagonisten, ihre Twitter-Fanbase oder irgendwelche Randgruppen bestimmen wollen, was und wie der Journalist zu schreiben oder zu fragen hat, wird eine Grenze überschritten. Denn wer diktieren will, will eingreifen. Und wer eingreifen will, greift bisweilen auch an. Das zeigte sich jüngst auch im Umfeld der 'Querdenken'-Proteste, als wiederholt
Pressevertreter attackiert wurden. Sie mögen nun vielleicht einwerfen, dass das eine nicht mit dem anderen vergleichbar sei. Dann sage ich: Sie irren. Beides, das penetrante Diktierenwollen und das konsequente Verteufeln, sind nur zwei unschöne Auswüchse ein und desselben Ungeistes. Beides hat totalitäre Züge. Wenn Journalisten nur als Erfüllungsgehilfen betrachtet und bei Missfallen zum Abschuss freigegeben werden, wird das zum Problem für eine freie Gesellschaft. Wer
sollte also bestimmen, was der Journalist darf – und was nicht? Ich meine: Im Zweifel für die Pressefreiheit.«
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Mediatheken sind Krücken. Sind allenfalls zweite Hand. Wir sympathisieren hier mit Filmfestivals, mit einigen ganz besonders, aber wir können nicht ernsthaft damit sympathisieren, dass sie ihre Auswahl – mag diese nun gut oder besonders gut, und von befreundeten Kuratoren kuratiert oder auch nicht sein – ins Netz stellen. Wir können es unterstützen, denn wir wissen selbst, dass ein Weiterlaufen im Netz für manche lebensnotwendig ist, und dass auch die
Filmemacher, auch ihre Verleiher und Vertriebe darauf angewiesen sind, dass das Kino auf diese Art überlebt. Unterm Sauerstoffzelt, unter dem Mediathekenrettungsschirm.
Wir müssen nur sehr genau aufpassen – denn auch die zunächst einmal benevolente und oft genug naiv gut gemeinte Position, Filme müssten doch ihr Publikum finden, und Zuschauer im Netz seien doch auch Menschen, läuft schnell in Gefahr, sich zu verselbständigen und wesentliche Unterschiede einzuebnen.
Das Netz ist großartig, wo es das Kino nicht abschafft, sondern es als schützender, fördernder Raum umgibt. Darum wären Festivals eigentlich dann am Besten, wenn sie alles Mögliche im Netz machen, aber dort keine Filme zeigten.
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Nun ist Corona etwas, das wir hoffentlich nur einmal im Leben erleben, und nicht nur in Lockdownphasen aller beschwichtigenden Rhetorik zum Trotz ein Ausnahmezustand.
Darum dürfen und sollten wir in der Praxis gnädig sein.
So kann man sich immerhin gut ablenken in den Mediatheken der Festivals. Besonders empfehlen würde ich die Akkreditierung zum einen beim IDFA, dem Internationalen
Dokumentarfilmfestival von Amsterdam und bestem Dokumentarfilm-Festival der Welt, das bis zum 6. Dezember dauert. So wie bei zwei deutschen Film-Festivals: Dem Exground in Wiesbaden, und dem Internationalen Filmfestival von Mannheim-Heidelberg.
In diesem letzten Fall bin ich nicht ganz unabhängig, weil ich für das
Festival 18 Jahre lang gearbeitet habe, und dies auch in diesem Jahr getan hätte – aber durch die Pandemie ist nun alles anders. Nichtsdestotrotz habe ich einige Filme, die in Mannheim noch die nächsten Tage laufen, bereits auf anderen Filmfestivals gesehen. Ich kann sie wärmstens empfehlen. Die wichtigsten Tipps: My Mexican Brezel, ein spanischer Film aus dem Wettbewerb, ist sensationell!!! Dies ist ein Film, den man deswegen nicht gut einordnen kann,
weil er gewissermaßen das Kino ganz neu erfindet, und einen neuen, ganz eigenen Typ von Film begründet. Den kann man ganz bestimmt nicht als Dokumentarfilm bezeichnen, obwohl dokumentarisches Material verwendet wird, und man kann ihn auch nur zum Teil als Spielfilm bezeichnen. Warum das so ist, darüber schreibe ich gern ein andermal mehr, aber erst einmal sollte man diesen Film, wenn es irgendwie möglich ist, angucken! Wirklich!!
Weitere Tips: Tragic Jungle
aus Mexiko, der schon in Venedig lief, und Mamá, mamá, mamá von Sol Berruezo Pichon-Rivière, eine Art The Virgin Suicides aus Argentinien, der von der lustigen Berlinale kurioserweise in der Sektion Generation Kplus gezeigt wurde, wo Filme für Sechsjährige laufen. Er ist aber ein Film für Erwachsene.
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Ein Jahr lang können die Festivals – wie überhaupt die ganze Filmbranche – diesen Zustand durchhalten. Sollte aber auch das kommende Jahr 2021 komplett unter Pandemie-Bedingungen stattfinden müssen, wird es bereits viel schwieriger werden. Zur Zeit hoffen alle – kontrafaktisch wie mir scheint – darauf, dass im kommenden Jahr ab dem Sommer spätestens die Dinge wieder halbwegs normal werden.
Noch immer gehen die allermeisten davon aus, dass Corona einen klar
begrenzten Ausnahmezustand markiert, und nicht einen Kultur- und Ökonomie-Bruch. Noch immer glauben die allermeisten, dass wir irgendwann im nächsten Jahr wieder zu einem Zustand zurückkehren, der so sein wird, wie er bis zum Februar dieses Jahres gewesen ist. Ich bin mir da nicht so sicher. Ich fürchte, dass wir, jedenfalls wir Erwachsenen, für den Rest unseres Lebens unsere Gegenwart in eine Zeit »vor Corona« und »nach Corona« einteilen werden.
Ich sage das als jemand, der sich selbst eher als »Corona-Skeptiker« versteht. Damit meine ich, dass ich die Krankheit Corona in keiner Weise leugne und ihre Gefahren nicht minimieren möchte. Dass ich aber die Reaktion darauf für heillos übertrieben halte. Und für ein bisschen dekadent. Ich glaube, dass diese Reaktion vor allem unsere Unfähigkeit verrät, mit Gefahr und Risiko, auch mit Todesgefahren und Gesundheitsrisiken umzugehen. Dass sie unsere Fähigkeit zur
Realitätsverleugnung verrät. Unsere Fähigkeit dazu, uns die Dinge schönzureden.
Ich glaube, dass Corona im Prinzip die allermeisten unserer Diskurse obsolet macht. Mindestens die Art, wie wir über Dinge sprechen, und teilweise die Themen selbst. Viele der Themen, mit denen wir uns aus durchaus guten Gründen die Zeit im Wohlfahrtsregime der reichsten Länder der Welt vertrieben haben, unsere Freiheiten gern eingetauscht haben gegen Sicherheiten und Reichtum, werden durch Corona
zu großen Teilen marginalisiert.
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Wir möchten weiter davon träumen, dass wir unsere Gesellschaft so erhalten können, wie sie vor Corona war. Selbst mit ihren Schattenseiten. Wir möchten nicht anerkennen, dass wir mit dem Tod vieler Menschen schlicht und einfach umgehen müssen. Bisher sind es bereits 1,35 Millionen weltweit (von 52 Millionen insgesamt im Jahr 2020). Eine obszön hohe Zahl!
Wir möchten das ignorieren, verständlicherweise, uns schönreden, und nicht anerkennen, dass unter den Toten auch Menschen
sind oder sein werden, die wir kennen, die wir lieben. Vielleicht irgendwann wir selber. Wir möchten uns stattdessen vormachen, dass es möglich sein könnte, mit möglichst strengen Hygiene- und Vorsorgemaßnahmen und medizinischen Maßnahmen und einem sehr harten, sehr unfreien Gesundheits-Regime die Krankheit zu vertilgen. Die Bedrohung zu vernichten. Irgendwie loszuwerden. Und dann ist wieder alles gut. Wir möchten uns einreden, dass es möglich wäre, wenn man sich ein paar Monate
zusammenreißt und dann ein paar Monate lang das gesellschaftliche Leben aussetzt, das Übel loszuwerden. Und dann könnte es ein für allemal weg sein.
Das wird alles nicht funktionieren. Dies meinen jene, die von alldem mehr verstehen und sagen, wir müssten lernen, mit dem Virus zu leben.
(to be continued)