68. Festival de Cine de San Sebastián 2020
Der Anfang vom Ende |
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Beginning: einer der prägnantesten Filme in einem der stärksten Wettbewerbe der letzten Jahre | ||
(Foto: Press Service SSIFF 2020) |
Ein seltener Triumph auf allen Ebenen: Das georgische Spielfilmdebüt Beginning von der 1986 geborenen Regisseurin Dea Kulumbegashvili gewann zum Abschluss des Filmfestivals von San Sebastián gleich vier Preise: Bester Film, beste Regie, bestes Drehbuch und den Preis für die beste Hauptdarstellerin für Ia Sulkhitashvili. Immerhin einen Schauspielpreis ließ die Jury dem vierköpfigen dänischen Darstellerensemble von Thomas Vinterbergs Männerkomödie Druk rund um Weltstar Mats Mikkelsen.
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Warum gleich vier Preise? Dieser Preisregen ist mindestens in seiner Fülle überaus ungewöhnlich, im konkreten Fall mehr als überraschend und sorgte nach seiner Bekanntgabe am Samstagabend keineswegs für ungeteilten Beifall: Dies nicht allein, weil Beginning nicht gerade sehr publikumsaffin ist, und dieser Film nicht wenige auch professionelle Betrachter ratlos zurückließ, manche richtig erschreckte. Dergleichen Erschütterung kann auch ein heilsamer
Schock sein.
Zwar gibt es auch kunstaffine, keineswegs mainstream-hörige Festivalgäste, von denen ich zu diesem Film die Begriffe »schlimm« und »reaktionär« hörte. »Reaktionär« ist in diesem Zusammenhang ein interessanter Kommentar. Das hätte ich nicht so formuliert, aber man kann es so finden, und ich finde es nachdenkenswert. »Schlimm« ist Beginning auch nicht, aber sehr anstrengend und eine bestimmte Art von Kino, die relativ arrogant jede andere
Form ausschließt.
Immerhin ist der Film über die Tage stark geblieben, trotz aller Einwände. Beginning spielt auf dem georgischen Land und erzählt von Yana, der Frau eines Priesters der Zeugen Jehovas, die von der Bevölkerung attackiert wird. Zunehmend gerät die Welt der Frau aus den Fugen. Szenen von brutaler Härte wechseln sich mit Momenten poetischer Heiterkeit ab – am Ende kommt es zu einer Höllenfahrt.
So ist dies eine Studie über das Leben einer Frau, über
Religion und über sinnlose Gewalt. Gehalten in einem Stil der genauesten Kontrolle, gemischt mit Manierismen – wie der computergenerierten Auflösung eines Menschen im Sand – ist dies ein so beeindruckend inszenierter wie eiskalter Film, Kino der Grausamkeit.
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Was den Film (über den ich noch ausführlicher schreiben will, bisher nur im Podcast gesprochen habe) vielleicht gut charakterisiert, ist, dass ich erst einen Tag nach dem ich ihn gesehen hatte durch den Freund und Kollegen Frederic Jaeger erfahren habe, dass der Regisseur, den ich für einen älteren Mann und typischen Großbürger gehalten habe, tatsächlich eine mittdreißigjährige Frau ist. Und wenn man
sich die hammerharte Vergewaltigungsszene anschaut, auch wie sie gedreht ist, und so ein paar andere Dinge, dann kann man sich nicht vorstellen, dass es eine Frau gemacht hätte. Ich freue mich auch schon auf die entsprechenden Diskussionen, bei denen es etwas schwerer fallen wird, mit dem Allgemeinplatz »Frauenfeindlichkeit« zu operieren und innig zu fragen: Muss man sowas zeigen?
Aber das wiederum ist ja interessant. Interessant, aber auch schräg.
Und es wirft mal wieder
die Frage auf: Ist es eigentlich besser, wenn man vorher in den Katalog guckt? Und dann erfährt, dass die Regisseurin eine Frau ist? Ich glaube ja nicht.
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Beginning ist ein vollkommen legitimer Sieger. Ich mag den Film nicht, ich finde ihn menschenverachtend und grausam, und finde ihn auch eitel, aber er ist technisch gesehen sehr gut gemacht und auch in seiner Konsequenz beeindruckend. Jeder, der den Stil von Carlos Reygadas für den bestmöglichen Stil des Kinos und der Filmkunst hält, wird mit diesem Preis glücklich sein.
Beginning verkörpert zumindest eine Möglichkeit des Kinos.
Was an diesem vierfachen Preis schlecht ist, ist, dass der Film selbst ausstrahlt, dass er alle anderen möglichen Weisen des Kinos verachtet, und dass die Jury-Entscheidung dies nun reproduziert und ebenfalls eine Verachtung für alle anderen möglichen Kinostile ausdrückt. Sie belegt das fehlende Vermögen der Jury, zu unterscheiden.
Dem Film gleich vier Preise zu geben, und damit alle anderen Filme wegzulassen, ist für mich ein arrogantes Statement, Wichtigtuerei der Jury. Vier Preise sind ein Statement. Für die Eitelkeit der Jury. Man möchte sich selbst in irgendeiner Weise produzieren und ganz offen die Menschen erziehen. Denn auch wenn Beginning nur die Goldene Muschel bekommen hätte, wäre klar gewesen, dass die Jury findet, dass dies der beste Film des Wettbewerbs war; dazu vielleicht noch ein Preis für die Schauspielerin – und es wäre klar gewesen: Sie finden diesen Film herausragend.
Hier hat man nun den Eindruck, dass vor allem zwei eitle Machos entschieden haben, der Welt mal richtig zu erklären, was Sache ist. Und dass sie auch entscheiden wollten, dass ein Cannes-Zögling den Preis bekommen würde. Finden die Jurymitglieder, dass dieser Film eigentlich die Goldene Palme hätte gewinnen müssen?
In alldem liegt auch ein unangemessener Affront gegen den übrigen Wettbewerb – so als hätten alle anderen Filme gar keinen Preis verdient.
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Diese arrogante, auch ein bisschen ignorante Entscheidung zeigt einmal mehr, dass die Filmfestivals in der Gegenwart und insgesamt die ganze Filmszene ein Problem hat, das immer größer wird. Wir sollten nicht übersehen, dass auch Luca Guadagnino ganz andere Filme macht, als das, was er hier ausgezeichnet hat, und dass sein neuestes Werk eine Serie ist. Eine Serie, die weitaus harmloser, weitaus publikumsfreundlicher ist, als das, was hier prämiert wurde.
Das Problem ist die sich verfestigende Spaltung der Szene zwischen Kunst und Unterhaltung, zwischen Zugänglichem und Unzugänglichem, zwischen Herausforderung und Entspannung. Diese Kluft wird immer größer. Es hat sie immer gegeben, aber wir brauchen Filme, die beides verbinden.
Diese Filme fehlen, und auch auf Festivals findet man sie immer weniger.
Ohne sie aber wird das Kino sterben, und zwar schneller als man denkt, denn genau die Verbindung von Tiefe und Unterhaltung findet sich zunehmend – leider begleitet von großen anderen ästhetischen Schwächen – im Streaming-Angebot des neuen Fernsehens.
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So oder so lässt sich aber nicht bestreiten: Beginning war einer der prägnantesten Filme in einem der stärksten Wettbewerbe der letzten Jahre, der bekannte Filmemacher mit neuen Namen der Filmwelt verband.
(to be continued)