68. Festival de Cine de San Sebastián 2020
Nette Mädchen in aussichtsloser Lage |
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Brandaktueller Historienfilm: Akelarre | ||
(Foto: Press Service SSIFF 2020) |
»Wenn das nur ein Traum ist, warum träumen dann alle Frauen den selben Traum?«
Der Inquisitor in: »Akelarre«
Heute in einer neuen Bar, gut hundert Meter stadteinwärts vom modernen »Kursaal«, wie hier – der Ausdruck ist ein Überbleibsel des 19.Jahrhunderts – tatsächlich das große Hauptgebäude des Festivals mit zwei Kinos, Räumen für Markt, Pressekonferenzen und Akkreditierungen heißt.
Das Bier schmeckt hier leicht säuerlich, aber gut, frisch, kühl – wieder mal etwas anderes. In der knalligen Sonne ist das eigentlich ein sehr sehr guter Platz gegenüber vom Hotel
Maria Cristina.
Wenn man mir morgen sagen würde, dass ich noch ein Jahr oder nur ein halbes zu leben habe, dann würde ich in dieser Stadt zumindest einen gößeren Teil dieser mir verbleibenden Zeit verbringen wollen. Dann ginge das auch, denn dann würde man einfach das Geld rauswerfen, das man hat, und dann Schulden machen. Aber warum muss man eigentlich erst sterben, um so leben zu können? Ein Nachtgedanke bei strahlendem Sonnenschein.
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Beim Frühstück traf ich überraschenderweise José Louis, der normalerweise bereits in die frühe Presse-Vorstellung um 8:30 Uhr oder 9 Uhr geht – was ich kein einziges Mal geschafft habe, auch gar nicht versuche, dafür schaue ich dann abends etwas mehr. Als ich ihn ganz überrascht grüße und frage, was passiert ist, sagt er: »Today is the first time I am a bourgeois«, ansonsten fühle er sich als Arbeiter, der auch zur Arbeiterzeit ins Kino gehe. Meine Antwort: »Welcome to the club.«
So wie es eine beliebte Diskussion ist, ob es katholisches und protestantisches Filmemachen gibt und auch Filmkritik, könnte man auch fragen, ob es bourgeoise und proletarische Filmkritik gibt? Und welche eigentlich besser ist? Die protestantische Filmkritik sieht das Ganze zweifellos als Arbeit an: Man geht ins Kino, so wie man in die Fabrik geht, dort führt man dann die immergleichen Hand- und Sehbewegungen aus, und produziert fordistisch Texte oder
Filmbetrachtungen. Dies ist natürlich ein polemischer Blick. Der den Proletarier mit dem Fabrikarbeiter gleichsetzt. Also versuchen wir es noch einmal anders: Proletarische Filmkritik sieht das Ganze als Pflicht und Fron.
Bourgeoise Filmkritik wäre selbstverständlich einerseits – das ist die positive und Narzissmus-affine Variante – eine Form, nicht zu arbeiten, also dem Boheme-Dasein verwandt, und insofern eine gehobene Form der Faulheit und der
Arbeitsvermeidung, jedenfalls der Vermeidung schwerer Arbeit. Negativer dargestellt geht es bei der bürgerlichen Filmkritik um den Prestige-Faktor, das Ansehen, das man als Filmkritiker zumindest einmal genoss, heute nicht mehr genießt. Aber es geht eben schon um gesellschaftliche Anerkennung, darum, sich Bedeutung anzuschminken, wo sie gar nicht da ist. An beiden Distinktionsgewinnen, dem Prestige-Faktor und der Bedeutungsanschminkung, hat der proletarische
Filmkritiker naturgemäß kein Interesse.
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Vielleicht müsste man hinzufügen, dass auch Filmemachen oft genug einer der beiden Varianten entspricht. Es gibt Filmemacher, die machen ihre Filme wie Bauarbeiter, oder Fabrikarbeiter, dann gibt es kleinbürgerliche Krankenkassen-Beamte – gerade in Deutschland habe ich dafür konkrete Beispiele – und dann gibt es andere, die machen Filme, wie ewige Studenten, oder wie Großbürger, die sich langweilen, immer auf die Jagd oder auf ihre Segelyacht zu gehen, und die
ihr neues Hobby gefunden haben.
Man sollte auch das nicht verachten, denn Filmemachen ist jedenfalls viel sympathischer als Großwildjagd. Manche der Filme sind allerdings so, dass man denkt, der Menschheit wäre besser gedient, der Mann hätte ein paar Antilopen erschossen.
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Die Eintrittspreise beim Festival sind nicht hoch: Eine normale Karte kostet zwischen 7,90 € und 9 €. 9 € allerdings nur, wenn man sich den Wettbewerb anschaut. Allerdings kosten einige Veranstaltungen eine ganze Menge mehr, so zum Beispiel die Eröffnung. Sie kostet 70 € im billigen, rund 95 € im teuren Kino, die Preisveranstaltungen des Premio Donnerstag kosten zwischen 45 und 55 Euro, die Abschlussveranstaltung wieder 95 oder 70 €.
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Seine besondere Stärke besitzt San Sebastián seit jeher auch dadurch, dass man hier nahezu die komplette Jahresproduktion des iberoamerikanischen und spanischen Kinos sehen kann. Auf diesem Kinokontinent spielt immer schon Argentinien eine Hauptrolle. Auch in diesem Jahr kamen zwei der besten Filme des Festivals von dort.
Der argentinische Regisseur Pablo Agüero (Eva no
duerme), der in Paris lebt, hat an der baskischen Küste gedreht. Sein Film Akkelare, der im Wettbewerb lief, war eine positive Überraschung im Wettbewerb. Er erzählt von der Hexenverfolgung durch die Inquisition im durchaus hexen-affinen Baskenland. Hier steht das spanische Pendant zum deutschen »Blocksberg«: Zugarramurdi in Navarra. Noch heute treffen sich dort »Hexen« zum Feiern.
Im Jahr 1609 drangsaliert die Kirche die baskischen Fischerdörfer, weil die Männer auf See sind, droht kein Widerstand. Sechs Mädchen werden von Nachbarn denunziert, gefangen und sehen dem sicheren Tod auf dem Scheiterhaufen ins Auge – da beschließen sie, anstatt wie alle anderen den Kontakt mit dem Teufel zu bestreiten, dem Inquisitor zu geben, wonach er sich offenkundig sehnt: Informationen über den Teufel, saftige Geschichten von Hexensabatt und Satan, lüsterne Gesänge und Tänze – und siehe da: Wie Scheherazade im Märchen von 1001 Nacht schmücken die sechs ihre Erzählungen aus, verlängern sie ins Endlose und bezirzen so ihr Gegenüber. So erkaufen sie sich immer weitere Zeit.
Der für Netflix produzierte Film lebt von seinen Darstellern (der Deutsche Alex Brendemühl als Inquisitor) und einem traditionellen baskischen Gesang, der tatsächlich verzaubernde Wirkung entfaltet.
Und dieser Historienfilm ist brandaktuell. Als erstes bekommen die gefangenen Mädchen eine Kapuze über den Kopf gezogen, und ihre Augen verbunden. Immer wieder bekommen sie zu hören: »Don’t look at me!« Dass sie die Männer nicht anblicken sollen.
Dazu kommt das Thema Hexenjagd, mit seinen sehr konkreten Entscheidungssituationen: Wie verhält man sich vor einem allmächtigen Verfolger, dessen Urteil schon vor Prozessbeginn feststeht? Wie begegnet man seinen tendenziösen,
inquisitorischen Fragen, den Moralurteilen der anderen zu Sex und Gewalt? Seinem Verlangen nach öffentlicher Buße und zur Schau getragener Bescheidenheit? Wie groß ist die Macht der Blicke? Sie wirken vor dem Hintergrund unserer heutigen Debatten extrem zeitgenössisch.
Der Großinquisitor ist heute der tausendäugige neue Leviathan der sozialen Netzwerke. Der neue Scheiterhaufen ist der Moralpranger des Internet.
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Ob dem nun Absicht zugrunde liegt, oder es nur der Zufall in der Programmierung ist: Man kann nicht übersehen, dass es sehr oft in den lateinamerikanischen Filmen junge Frauen sind, die Regie führen. Ein Film, den ich bereits in Venedig gesehen hatte, und über den ich nur im Podcast gesprochen hatte, aber nicht geschrieben, konnte man hier wieder sehen: Selva Trágica (»Tragic Jungle«) aus Mexiko.
Hier steht das Schicksal einer jungen Frau, fast eines Mädchens noch, in der Männerwelt im Zentrum. Denn sie ist die einzige, die eine in sich sehr heterogen zusammengesetzte Männergruppe durch den Dschungel begleitet. Sie ist beides: Realität, aber auch Phantasma, eine Sehnsuchts-Phantasie und ein Objekt sexueller Begierde, aber auch Bedrohung, ein Medium, ein Geist, ein magnetischer Pol des Verderbens. Voller Anziehungskraft, der sich keiner der Männer entziehen kann, und der diese notwendig einen nach dem anderen ins Verderben führt. Schneewittchen und die sieben Zwerge, noch einmal im weißen Kleid, aber für Erwachsene.
Für alle, die Gelegenheit haben, in der kommenden Woche das Filmfest Hamburg zu besuchen, sei gesagt, dass dieser Film dort seine Deutschlandpremiere haben wird.
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Auch einen der schönsten Filme der Berlinale habe ich in San Sebastián gesehen. Er lief dieses Jahr in der Sektion »Generation«, auch noch Kplus, und es ist ein bisschen schade, weil er dort nicht von allen wahrgenommen wurde, die ihn hätten sehen müssen. So auch von mir. Ich lerne daraus, dass ich mir am Ende doch am besten jeden argentinischen Film anschaue, egal in welcher Sektion er läuft.
Wie soll man Mamá Mamá Mamá, das Debüt von Sol Berruezo Pichon-Rivière beschreiben? Ein Film, der traurig ist und schön. Ein Film, der verträumt ist und verspielt; der kindlich ist und trotzdem realistisch, und der unglaublich plotlos ist. Es ist etwas schade, dass die eigentlich ziemlich gute Kritikerin Lida Bach gerade das in ihrer Rezension nicht gesehen hat. Dass sie schreibt, das Ganze sei zu schwach, weil nichts passiere.
Aber gerade die Tatsache, dass
nichts passiert, ist ja der Clou des Ganzen. Beziehungsweise, dass ja alles passiert, während scheinbar nichts passiert.
Sie erzählt von einer Zwölfjährigen, deren Schwester ertrunken ist, und den Tagen der Trauer nach der Katastrophe, die sie gemeinsam mit drei Cousinen und der Tante verbringt – das unbewusste Wissen dominiert alles in diesem hervorragenden Film, der wie ein Echo von Sofia Coppolas The Virgin Suicides wirkt, und über den ich bei allernächster Gelegenheit noch ausführlicher schreiben werde.
(to be continued)