77. Filmfestspiele von Venedig 2020
...für Arme |
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Ein unverdienter Preis: Chloe Zhaos Nomadland | ||
(Foto: BIENNALE CINEMA 2020 Press Service) |
»In der täglichen Festivalzeitung konnte man angesichts des lahmenden Wettbewerbs eine Polemik lesen, die in der Schlagzeile gipfelte: mehr Risi, weniger Antonioni. Man muss Risis populäreres Kino gar nicht kennen, um trotzdem für Antonioni Partei zu ergreifen – weil er damit in eine Nachbarschaft gedrängt wird, in der er nicht zu Hause ist. Mag schon sein, dass seine Filme komplexer und sperriger waren als die von Risi, aber seine Filme waren stets ihren Helden nahe – eben auf andere Weise. Was einem an den Filmen hier mit ihrem Kunstwollen die Geduld raubt, ist jedoch genau dieses – dass ihre Behauptung, sie seien durch ihre langatmige, verquälte Art den Befindlichkeiten der Menschen, von denen sie erzählen, näher als Filme, die gängigeren Erzählmustern folgen, die reinste Selbsttäuschung ist.«
Michael Althen, FAZ 05.09.2008
Wen Gott bestrafen will, dem erfüllt er seine Wünsche. Und als gestern Abend bei der Preisverleihung ein Preis nach dem anderen an genau die Filme oder Filmemacher ging, die ich mir in meinem vorletzten Text (Folge 11) gewünscht hatte, da bekam ich schon so eine Ahnung, dass das bis zum Schluss nicht so weitergehen könnte. Und so war es auch: Den Goldenen Löwen im Jahr 2020 gewinnt Nomadland von Chloe Zhao.
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Es war eine Überraschung für viele. Schon wieder, zum fünften Mal in fünfzehn Jahren und zum zweiten Mal hintereinander, gewinnt ein amerikanischer Film in Venedig.
Mit einer Auszeichnung für eine Frau konnte man angesichts der Jury rechnen. Außer diesem Film haben allerdings nur Männer die Preise bekommen. Schlimmste Befürchtungen hatten Siege für die Osteuropäerinnen Jasmila Zbanic oder Malgorzata Szumowska prophezeiht. Das immerhin blieb aus.
Aber dieser Film?
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Es ist ein unverdienter Preis. Ja, es ist ein Schlag ins Gesicht all derjenigen Filmemacher, die die Jury in den Minuten zuvor ausgezeichnet hatte.
Ein Preis für einen formlosen, unglaublich langweiligen Film ohne Dramaturgie, ohne Handlung, für Arte Povera, die die Kunst des Films nicht weiterbringt, sie eher zurückwirft. Dieser Film ist alles mögliche, aber kein goldener Löwe. Stinklangweilig ohne alle Dramaturgie, eine Qual, sich das anzuschauen. Tiere werden abgefilmt, ein Schmetterling, ein Bison – das sieht schön aus, ist aber doch eher etwas für den Discovery Channel, wo der Rest des Films natürlich nichts zu suchen hätte.
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Chloe Zhao, in China geborene, in England aufgewachsene Amerika-begeisterte Einwanderin hat einen halbdokumentarischen Film über arbeitslose weiße Amerikaner gedreht, um den sie in ihren öffentlichen Erklärungen einen Kranz aus Freiheitsversprechen windet, der der Ideologie des Amerikanischen Traums entspricht.
Frances McDormand spielt die Hauptrolle, der Rest sind vor allem Laien und reale »Nomaden«, die in ihren Vans und Wohnwagen leben.
McDormand hat im Film
kurze Haare und ist so geschminkt, dass sie ungeschminkt aussieht. Oder sie ist wirklich ungeschminkt. Insgesamt wird ein bisschen zu sehr das Depravierte und latent Verzweifelte ihrer Figur betont. Aber wir sehen dann eben doch, dass es Frances McDormand ist.
Ihre Figur arbeitet bei Amazon und isst in der Pause Toast mit Erdnussbutter und Banane, in der Kantine trifft sie Leute, die tätowiert sind und die stundenlang ihre Tattoos erklären. Sie betont, dass sie nicht homeless ist,
sondern houseless. Sie will keine Hilfe annehmen, dann fährt sie aber doch in den Süden zu einer (utopischen?) Gemeinschaft von Trailerpark-Bewohnern. Da gibt es dann einen Guru-ähnlichen alten weißen Mann mit weißem Bart, der von der »Tyrannei des Dollars« spricht, des Marktes und dann sagt er noch »Die Titanic sinkt bereits« und er wolle »so viele Rettungsboote wie möglich« bereitstellen. Na dann.
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Den Menschen geht es schlecht. Arbeitslose, Arbeitsunfähige. Fehlen darf natürlich auch nicht der Veteran mit posttraumatischem Stresssyndrom.
Ansonsten muss Frances McDormand alles mögliche machen, von Auto reparieren bis Zähneputzen. Man sieht ihr gelegentlich zu, wie sie aufs Klo geht. Es ist schon klar: es geht um Solidarität. Aber was soll dieser Film gegen die schlechten Verhältnisse tun? Trumps Wiederwahl verhindern vielleicht.
Diese Arroganz von Jurys, die
glauben, dass sich die Politik, gar die Weltpolitik für ihre Preise und Urteile interessiert, und dass sie irgendetwas ändern können, wenn sie einen bestimmten Film auszeichnen! Allein schon dadurch, dass sie ihn aus politischen Gründen auszeichnen, können sie nichts ändern.
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Ansonsten kann man über die Preise nicht meckern: Der Silberne Löwe – Großer Preis der Jury geht an Michel Franco, der Silberne Löwe für die Beste Regie geht an Kiyoshi Kurosawa, der Spezial-Preis der Jury geht an Kontschalowski, den Preis für das Beste Drehbuch bekommt The Disciple, die Coppa Volpi für die Beste Schauspielerin geht an Vanessa Kirby, die Coppa Volpi für den Besten
Schauspieler bekommt Pierfrancesco Favino und den Marcello Mastroianni-Preis für eine Nachwuchsleistung Sun Children.
Im Orizzonti-Wettbewerb gewannen: Achmad Bachrani (Bester Film), natürlich Lav Diaz (er macht einfach immer die Beste Regie), Listen (Spezialpreis der Jury).
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Es ist schwül draußen, der Sommer schenkt uns noch mehr als 2, 3 warme Tage. Jetzt zieht er noch mal richtig an und die Menschen, die hier wohnen sehen zu, dass sie möglichst schnell an den Strand kommen. Allmählich zieht Normalität wieder ein am Lido, das heißt die Filmleute ziehen ab, ich auch morgen früh
Im »Afrika«, wo ich in diesem Jahr auch nur einmal war, werden die Tische zusammengestellt, und zwar anders als an den Tagen davor. Richtig zusammengestellt, weil hier jetzt der Lido wieder den Venezianern überlassen wird.
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20 Jahre komme ich hierher, jeweils 10 bis 14 Tage – da kommt man dann schon auf bald ein halbes Jahr seines Lebens, das man hier auf dem Lido auf dem Festival verbracht hat. In Venedig sowieso.
Da stellt sich dann natürlich auch irgendwann die Frage, wie oft ich wohl noch herkomme? Noch mal 20 Jahre oder sogar mehr? Oder eben weniger? Vielleicht war das ja auch mein letztes Jahr hier, wer weiß das schon? Das Filmfestival von Venedig ist vielleicht das schönste, jedenfalls
eines der allerschönsten Filmfestivals. Cannes ist besser von der Qualität und »the place to be«, und San Sebastian... Das hat für mich eben das gewisse Etwas. Wahrscheinlich weil es in Spanien liegt, und weil es auch ein überaus origineller Ort ist. Darüber werde ich nächste Woche schreiben.
Irgendwie geht es weiter, und irgendwann wird es aufhören – auf solche Art Fatalismus bereitet einen mehr als einer der Filme in Venedig vor. Das gilt auf ganz unterschiedliche Weise für den Siegerfilm wie für den Spezialpreis der Jury.
»Wenn ein Wettbewerb gut ist, dann schreibt er seine eigene Geschichte – und die lief in diesem Fall darauf hinaus, dass Kino immer zweierlei ist: Konzentration und Ausschweifung, Abstraktion und Anschauung, Unterhaltung und Anstrengung. Schönheit findet man, wo man sie sucht.«
Michael Althen, FAZ 13.09.2010
(to be continued)