07.01.2021
Cinema Moralia – Folge 239

The Year of Living Dangerously

Das Geheimnis des Georges Méliès
Mal was riskieren, auch wenn es ins Auge geht: Georges Méliès war der erste Kinoabenteurer, arte widmet ihm jetzt eine Retrospektive
(Zeichnung: © La Cinemathèque française / arte)

Illusions fantasmagoriques: Nur wer etwas riskiert, der wird auch etwas erleben – Cinema Moralia, Tagebuch eines Kinogehers, 239. Folge

Von Rüdiger Suchsland

»Don’t think about the major issues. You do what you can about the misery in front of you. You add your light to the sum of all light.«
Billy Kwan, in: »The Year of Living Dangerously«; Peter Weir, 1982

ESTRAGON: »What did we do yesterday?«
VLADIMIR: »What did we do yesterday?«
ESTRAGON: »Yes.!
VLADIMIR: ›Why. Nothing is certain when you're about.‹
ESTRAGON: ›In my opinion we were here.
VLADIMIR: »(looking round). You recognize the place?«
ESTRAGON: »I didn’t say that.«
VLADIMIR: »Well?«
ESTRAGON: »That makes no diffe­rence.«
Samuel Beckett: »Waiting for Godot«‹«

Unser Leben ist eine Art Berliner-Schule-Film geworden. Alle warten nur noch, aber sie haben vergessen, worauf. Sie sitzen nur noch herum, es passiert nichts mehr, alle sind erstarrt, alle gucken nur noch trübe vor sich hin, alle zählen innerlich die Tage bis zum Ende, dessen Zeitpunkt nicht feststeht.

Man kann gerade ganz gut erleben, dass auch dieje­nigen, die vor einen halben Jahr noch sehr gerne gezoomt haben, allmäh­lich müde werden, allmäh­lich keinen Bock mehr haben, und im Ennui erstarren.

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In meiner offen­sicht­lich allzu naiven Art habe ich bislang wirklich gedacht, dass das Kino uns etwas beibringen könnte. Nicht über die Film­ge­schichte, nicht über Ästhetik oder die Ansichten von Regis­seuren und über vergan­gene Zeiten – das alles viel­leicht auch. Aber ich dachte, dass wir vom Kino auch etwas Univer­sales lernen könnten, etwas über den – altmo­disch ausge­drückt – Sinn des Lebens.
Das ist offen­sicht­lich falsch. Denn wenn ich das vergan­gene Jahr Revue passieren lasse und versuche darüber nach­zu­denken, wie wir mit der voll­kommen über­ra­schenden, unge­ahnten Corona-Erfahrung umge­gangen sind und weiter umgehen, mit dem Erleben eines Ausnah­me­zu­stands oder Lockdowns oder Shutdowns oder wie immer man es auch ausdrü­cken möchte; oder mit der plötz­li­chen Erfahrung von Todesnähe, von Tod und Sterben, die auf einmal nicht mehr fern, irgendwo hinten, weit, in der Türkei, wo die Völker aufein­ander schlagen, stattfand oder im Mittel­meer, wo wir abstrakt in den Nach­richten dabei zusehen, wie wir Menschen ersaufen lassen – sondern ganz unmit­telbar hier vor der Haustür, nebenan, in der gleichen Stadt, in unserem Freundes- und Bekann­ten­kreis, in der Familie, dann ist klar, wie die aller­meisten mit offenen Augen wegsehen und sich noch etwas auf ihre Empfind­sam­keit einbilden.
Ich habe tatsäch­lich geglaubt, dass wir im Kino verstehen lernen könnten, wie man mit Risiken umgeht, mit Tod und Sterben, dem der anderen, viel­leicht auch dem eigenen. Und ich habe tatsäch­lich gedacht, dass wir im Kino auch etwas darüber lernen könnten, was Freiheit bedeutet, und warum wir sie schätzen könnten, und vertei­digen müssen.

Aber wenn uns die Corona-Erfahrung der letzten nun bald zwölf Monate etwas lehrt, dann: dass wir alle viel zu wenig ins Kino gehen. Und wenn, dass wir die falschen Filme sehen. Dass wir vermut­lich auch die falschen Filme machen.

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Die Erfah­rungen der letzten zwölf Monate zeigen uns, dass wir das, was wir haben, nicht wert­schätzen und nicht vertei­digen, wenn es sein muss. Sie lehren uns, wie schnell das alles, was wir haben, zwischen den Fingern zerrinnt.

Dies meint erst mal das Kino, für das wir alle weder wirklich kämpfen, noch war es im Sommer so wichtig, dass wir oft genug hingehen, noch ist es jetzt wichtig genug, dass wir notfalls im Bruch mit irgend­wel­chen bestehenden Regeln, an die sich sonst auch niemand hält, hingehen.

Es gibt gerade illegale Raves, es gibt illegale Partys, nein: nicht Corona-Infek­tions-Partys von selbst­er­nannten »Quer­den­kern«, sondern einfach ganz normale soziale Umgänge, wie sie aber offiziell nicht erlaubt sind; es gibt Treffen, Essen, Begeg­nungen, gemeinsam verbrachte Abende abseits der Corona-Regeln, die von den Regie­renden verhängt wurden – und es gibt dort keine mir bekannten Infek­tionen in diesem Zusam­men­hang.
Aber es gibt keine illegalen Kino­treffen. Keine illegalen Film­vor­füh­rungen abseits der offi­zi­ellen Regeln, an die sich sonst auch keiner aus Über­zeu­gung hält. Das Kino ist offen­sicht­lich nicht anste­ckend genug.

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Viel zu viele glauben und befolgen blind, was in den Zeitungen steht, was von den Akademien gelehrt und von den Poli­ti­kern in Pres­se­kon­fe­renzen dekre­tiert wird; eine einzige große geistige Feigheit hat das Land erfasst. Voll provin­zi­eller Ignoranz sind die Leute zugleich stolz darauf, alle Regeln zu befolgen und bei den anderen die Regel­ver­s­töße säuber­lich aufzu­listen und dann einzu­klagen. Und zugleich sind sie müde, unendlich müde und träge – was bei diesem Lockdown immerhin ihnen niemand übel­nehmen wird.
Die Gründe für diesen bedau­er­li­chen Verzicht auf inneren Wider­stand, für das Fehlen intel­lek­tu­eller Wider­stands­kraft und revol­tie­rendem Geist liegen vor allem in der wahn­sin­nigen Angst, die eine große Zahl von Menschen aller Gene­ra­tionen erfasst hat, und jeden Bereich unseres sozialen Lebens gerade lähmt: Die Angst vor dem Unsi­cheren, in dem doch auch Befreiung gefunden werden könnte. Die Angst, sich keine sichere Position geschaffen zu haben. Das erklärt zwar, warum niemand aus der Menge gern gegen den Strom schwimmt, außer einer Handvoll von Voll­idioten. Aber es erklärt nicht, warum nicht einer, wenigs­tens unter den soge­nannten Künstlern den Mut zur Lächer­lich­keit besitzt, und die Stärke, dem Unver­s­tändnis, der Ignoranz und auch der allge­meinen Feind­se­lig­keit der breiten Masse entge­gen­zu­treten.

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Ich habe die Aussage immer für eine Floskel gehalten, und nach wie vor kommt sie mir so vor, dass »der Firnis der Zivi­li­sa­tion dünn« sei. Als ob wir darunter Barbaren sein würden. Wenn es denn mal so wäre!

Aber das ist ein Irrtum. Der Irrtum ist der, dass es sich bei Zivi­li­sa­tion überhaupt um einen »Firnis« handeln würde, also um einen Rahmen, ein Korsett, eine Haut und eine Hülle, um etwas das statisch ist, um einen Zustand.
Zivi­li­sa­tion ist kein Zustand, sondern sie ist ein Prozess. Sie ist etwas, für das wir uns Tag um Tag wieder entscheiden müssen. Und das sich gerade dann bewährt, wenn wir uns zwischen ihr und etwas Wichtigem entscheiden müssen. Viel­leicht sogar dem Leben.

Es gibt eine andere Beschrei­bungs­formel, von der ich auch nicht immer überzeugt war, die mir zurzeit aber triftiger und plau­si­bler erscheint. Es ist der Satz des Staats­recht­lers und Rechts­phi­lo­so­phen Ernst-Wolfgang Böcken­förde (1930-2019), nach der der frei­heit­liche, moderne Staat auf Voraus­set­zungen beruht, die er nicht selbst garan­tieren kann.
Das zeigt sich, so scheint mir, gerade. Da diese Voraus­set­zungen bröckeln, wird auch die Freiheit porös.

Eine weitere Formel ist mir in den letzten Monaten auch öfters in den Sinn gekommen ist, ist der Begriff des »nackten Lebens« vom italie­ni­schen Philo­so­phen Giorgio Agamben. Der Mensch werde in der Gegenwart zunehmend auf sein nacktes Leben reduziert, argu­men­tiert Agamben. Dieses kann er nicht verlieren, alles andere aber schon. »Auch in altehr­wür­digen Demo­kra­tien entstehen Dunkel­zonen des Rechts, also Ausnah­me­zu­stände, in denen die 'nackte' Macht sich des nackten 'Lebens' bemäch­tigt.« So hat Thomas Assheuer Agambens zentrale These vor Jahren in der »Zeit« beschrieben, »Auch liberale Demo­kra­tien schaffen Räume, in denen das Recht aufhört, ein Recht für alle zu sein. ... wo Menschen wie 'Biomasse' behandelt werden, als bloße 'Wesen', die 'juris­tisch weder einge­ordnet noch benannt werden können'. In dieser 'höchsten Unbe­stimmt­heit' sind sie vogelfrei, gleichsam lebende Tote in einer endlosen Gefan­gen­schaft.«
So weit ist es noch nicht, aber die Dunkel­zonen des Rechts werden mehr, und wie schwarze Löcher saugen sie unser bishe­riges Leben auf.

Klar: Wir sitzen gerade zu Hause, in den mal besser, mal schlechter ausge­stat­teten Wohnungen. Allemal wohl­tem­pe­riert werden sie im Idealfall besessen, zumindest werden sie gemietet. Unser alltäg­li­ches Dasein ist mehr oder weniger wohl­fahrts­staat­lich abge­fe­dert. Wir müssen uns schon dumm anstellen, wenn wir in der Gosse landen oder gar verhun­gern. Insofern könnte man argu­men­tieren, dass es mir gar nicht zusteht, von so etwas wie dem »nackten Leben« in Zusam­mem­hängen von Corona und zu Ausnah­me­zu­stand zu sprechen oder schlimmer noch: unsere Zustände damit irgendwie zu verglei­chen. Geschenkt!

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Wonach ich aber frage und suche: Wann kommen die Phan­ta­sien, zu denen diese Zustände unsere Filme­ma­cher und Autoren entfes­seln.
Denn wenn man schon nicht Reali­täten mit Theorien verglei­chen soll, dann darf man aber doch phan­ta­sieren. Also wo bleiben sie, die guten Filme zur Pandemie? Nicht die netten Zustands­be­s­tä­ti­gungs­filme, sondern die häss­li­chen Infra­ge­stel­lungen? Die, die mit einem Kino der Attrak­tion die gut bürger­liche Moral vorführen, ad absurdum treiben, die guten Bürger wütend machen. Die den Quer­den­kern zeigen, was wirklich Quer­denken heißt.
Die fiesen, bösen Über­schrei­tungs­filme – auf die warte ich. Sie zu schaffen ist die ästhe­ti­sche Heraus­for­de­rung der Pandemie.

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Ist es nur ein Zufall? Jeden­falls wäre es der richtige, dass Arte, immer doch noch am ehesten ein Kultur­kanal im Fernsehen, zum 125. Jubiläum des Kinos nicht etwa einen Film der Lumières zeigt, sondern Werke von Méliès.

Bei der ersten Film­vor­füh­rung (tatsäch­lich gab es schon ein paar Vorfüh­rungen davor, im März und im Juni), die die Brüder Lumière am 28. Dezember 1895 im Salon Indien des Grand Café im Boulevard des Capucines veran­stal­teten, in einer Gegend nahe der Pariser Oper, in der Zauberer und Illu­sio­nisten ausstellten, kamen nur 33 Gäste. Schon am nächsten Tag waren es über 100 und der Betreiber dieses ersten Kinos der Welt war auch der erste, nicht der letzte, der mit ihm gute Geschäfte machte. Unter den 33 Gästen der aller­ersten Vorfüh­rung war Georges Méliès. Er wusste damals noch nicht, dass er Filme­ma­cher werden würde. Aber er saß in der ersten Reihe, und sein erster Impuls nach der Vorfüh­rung war: Er wollte den Kine­ma­to­gra­phen kaufen.

Auf Arte gibt es jetzt allerlei Filme in gutem Zustand zu sehen. Vor allem aber einen guten Doku­men­tar­film, der erzählt, wie Georges Méliès (1861-1938) mit seiner Produk­ti­ons­ge­sell­schaft über 500 Filme drehte, und auch davon wie die Entde­ckung vieler Negative in der Library of Congress im Jahr 2006 das Werk von Méliès neu zutage fördert.

Wenn es uns etwas retten wird aus der Misere, die Dunja Bialas letzte Woche beschrieben hat, dann ist es das Kino der Attrak­tionen, und das Kino als Attrak­tion.

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Die Kino­be­din­gungen zu verbes­sern, ist das eine. Ein bisschen mehr Geld hier, ein bisschen Subven­tion da, das wird betei­ligte Menschen zwar retten, aber nicht das Medium Kino.
Viel­leicht ist es ja nicht der richtige Weg, dass das Kino jetzt dauernd erklärt, wie sicher es doch ist und wie wenig Infek­ti­ons­ge­schehen dort doch statt­findet. Viel­leicht müsste man umgekehrt als Kino frivoler werden, und die eigene Gefähr­lich­keit betonen, die eigene Infek­tio­sität. Nur wer etwas riskiert, der wird auch etwas erleben.
Es stimmt natürlich: Ein Tag auf der Arbeit im Büro ist gefähr­li­cher als ein Kino­be­such – und zwar nicht nur im Hinblick auf Corona. Aber wenn wir Menschen, wenn unsere Gesell­schaft nicht lernt, mit der Todes­ge­fahr umzugehen, dann werden wir selbst Corona nicht über­stehen. Dann werden wir nicht überleben, und dann braucht man ohne Menschen tatsäch­lich auch kein Kino mehr.

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Das Kino selbst ist, wie man heute gern sagt: resilient. Thierry Frémaux, der Direktor von Cannes hat dieser Tage daran erinnert: »Die Kinos sind schon oft gestorben, aber sie leben immer noch.«
Das ist in dem Fall der richtige Ansatz: Gegen die Weiner­lich­keit, gegen das Unter­gangs­ge­rede, gegen das Geschwätz vom Tod – man kann den Tod nämlich auch herbei­reden.

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Kritik ist eng mit Praxis verbunden und kann nicht ohne sie sein. In den Taten verwirk­licht sich das »richtige Leben«. Ein kriti­sches Subjekt erscheint nicht in dem, was es sagt, was richtig und was falsch ist; sondern indem es tut, was es tut.

(to be continued)