Cinema Moralia – Folge 239
The Year of Living Dangerously |
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Mal was riskieren, auch wenn es ins Auge geht: Georges Méliès war der erste Kinoabenteurer, arte widmet ihm jetzt eine Retrospektive | ||
(Zeichnung: © La Cinemathèque française / arte) |
»Don’t think about the major issues. You do what you can about the misery in front of you. You add your light to the sum of all light.«
Billy Kwan, in: »The Year of Living Dangerously«; Peter Weir, 1982ESTRAGON: »What did we do yesterday?«
VLADIMIR: »What did we do yesterday?«
ESTRAGON: »Yes.!
VLADIMIR: ›Why. Nothing is certain when you're about.‹
ESTRAGON: ›In my opinion we were here.
VLADIMIR: »(looking round). You recognize the place?«
ESTRAGON: »I didn’t say that.«
VLADIMIR: »Well?«
ESTRAGON: »That makes no difference.«
Samuel Beckett: »Waiting for Godot«‹«
Unser Leben ist eine Art Berliner-Schule-Film geworden. Alle warten nur noch, aber sie haben vergessen, worauf. Sie sitzen nur noch herum, es passiert nichts mehr, alle sind erstarrt, alle gucken nur noch trübe vor sich hin, alle zählen innerlich die Tage bis zum Ende, dessen Zeitpunkt nicht feststeht.
Man kann gerade ganz gut erleben, dass auch diejenigen, die vor einen halben Jahr noch sehr gerne gezoomt haben, allmählich müde werden, allmählich keinen Bock mehr haben, und im Ennui erstarren.
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In meiner offensichtlich allzu naiven Art habe ich bislang wirklich gedacht, dass das Kino uns etwas beibringen könnte. Nicht über die Filmgeschichte, nicht über Ästhetik oder die Ansichten von Regisseuren und über vergangene Zeiten – das alles vielleicht auch. Aber ich dachte, dass wir vom Kino auch etwas Universales lernen könnten, etwas über den – altmodisch ausgedrückt – Sinn des Lebens.
Das ist offensichtlich falsch. Denn wenn ich das vergangene Jahr
Revue passieren lasse und versuche darüber nachzudenken, wie wir mit der vollkommen überraschenden, ungeahnten Corona-Erfahrung umgegangen sind und weiter umgehen, mit dem Erleben eines Ausnahmezustands oder Lockdowns oder Shutdowns oder wie immer man es auch ausdrücken möchte; oder mit der plötzlichen Erfahrung von Todesnähe, von Tod und Sterben, die auf einmal nicht mehr fern, irgendwo hinten, weit, in der Türkei, wo die Völker aufeinander schlagen, stattfand oder im
Mittelmeer, wo wir abstrakt in den Nachrichten dabei zusehen, wie wir Menschen ersaufen lassen – sondern ganz unmittelbar hier vor der Haustür, nebenan, in der gleichen Stadt, in unserem Freundes- und Bekanntenkreis, in der Familie, dann ist klar, wie die allermeisten mit offenen Augen wegsehen und sich noch etwas auf ihre Empfindsamkeit einbilden.
Ich habe tatsächlich geglaubt, dass wir im Kino verstehen lernen könnten, wie man mit Risiken umgeht, mit Tod und Sterben, dem der
anderen, vielleicht auch dem eigenen. Und ich habe tatsächlich gedacht, dass wir im Kino auch etwas darüber lernen könnten, was Freiheit bedeutet, und warum wir sie schätzen könnten, und verteidigen müssen.
Aber wenn uns die Corona-Erfahrung der letzten nun bald zwölf Monate etwas lehrt, dann: dass wir alle viel zu wenig ins Kino gehen. Und wenn, dass wir die falschen Filme sehen. Dass wir vermutlich auch die falschen Filme machen.
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Die Erfahrungen der letzten zwölf Monate zeigen uns, dass wir das, was wir haben, nicht wertschätzen und nicht verteidigen, wenn es sein muss. Sie lehren uns, wie schnell das alles, was wir haben, zwischen den Fingern zerrinnt.
Dies meint erst mal das Kino, für das wir alle weder wirklich kämpfen, noch war es im Sommer so wichtig, dass wir oft genug hingehen, noch ist es jetzt wichtig genug, dass wir notfalls im Bruch mit irgendwelchen bestehenden Regeln, an die sich sonst auch niemand hält, hingehen.
Es gibt gerade illegale Raves, es gibt illegale Partys, nein: nicht Corona-Infektions-Partys von selbsternannten »Querdenkern«, sondern einfach ganz normale soziale Umgänge, wie sie aber offiziell nicht erlaubt sind; es gibt Treffen, Essen, Begegnungen, gemeinsam verbrachte Abende abseits der Corona-Regeln, die von den Regierenden verhängt wurden – und es gibt dort keine mir bekannten Infektionen in diesem Zusammenhang.
Aber es gibt keine illegalen Kinotreffen. Keine
illegalen Filmvorführungen abseits der offiziellen Regeln, an die sich sonst auch keiner aus Überzeugung hält. Das Kino ist offensichtlich nicht ansteckend genug.
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Viel zu viele glauben und befolgen blind, was in den Zeitungen steht, was von den Akademien gelehrt und von den Politikern in Pressekonferenzen dekretiert wird; eine einzige große geistige Feigheit hat das Land erfasst. Voll provinzieller Ignoranz sind die Leute zugleich stolz darauf, alle Regeln zu befolgen und bei den anderen die Regelverstöße säuberlich aufzulisten und dann einzuklagen. Und zugleich sind sie müde, unendlich müde und träge – was bei diesem Lockdown
immerhin ihnen niemand übelnehmen wird.
Die Gründe für diesen bedauerlichen Verzicht auf inneren Widerstand, für das Fehlen intellektueller Widerstandskraft und revoltierendem Geist liegen vor allem in der wahnsinnigen Angst, die eine große Zahl von Menschen aller Generationen erfasst hat, und jeden Bereich unseres sozialen Lebens gerade lähmt: Die Angst vor dem Unsicheren, in dem doch auch Befreiung gefunden werden könnte. Die Angst, sich keine sichere Position geschaffen
zu haben. Das erklärt zwar, warum niemand aus der Menge gern gegen den Strom schwimmt, außer einer Handvoll von Vollidioten. Aber es erklärt nicht, warum nicht einer, wenigstens unter den sogenannten Künstlern den Mut zur Lächerlichkeit besitzt, und die Stärke, dem Unverständnis, der Ignoranz und auch der allgemeinen Feindseligkeit der breiten Masse entgegenzutreten.
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Ich habe die Aussage immer für eine Floskel gehalten, und nach wie vor kommt sie mir so vor, dass »der Firnis der Zivilisation dünn« sei. Als ob wir darunter Barbaren sein würden. Wenn es denn mal so wäre!
Aber das ist ein Irrtum. Der Irrtum ist der, dass es sich bei Zivilisation überhaupt um einen »Firnis« handeln würde, also um einen Rahmen, ein Korsett, eine Haut und eine Hülle, um etwas das statisch ist, um einen Zustand.
Zivilisation ist kein Zustand, sondern sie ist ein Prozess. Sie ist etwas, für das wir uns Tag um Tag wieder entscheiden müssen. Und das sich gerade dann bewährt, wenn wir uns zwischen ihr und etwas Wichtigem entscheiden müssen. Vielleicht sogar dem Leben.
Es gibt eine andere Beschreibungsformel, von der ich auch nicht immer überzeugt war, die mir zurzeit aber triftiger und plausibler erscheint. Es ist der Satz des Staatsrechtlers und Rechtsphilosophen Ernst-Wolfgang Böckenförde (1930-2019), nach der der freiheitliche, moderne Staat auf Voraussetzungen beruht, die er nicht selbst garantieren kann.
Das zeigt sich, so scheint mir, gerade. Da diese Voraussetzungen bröckeln, wird auch die Freiheit porös.
Eine weitere Formel ist mir in den letzten Monaten auch öfters in den Sinn gekommen ist, ist der Begriff des »nackten Lebens« vom italienischen Philosophen Giorgio Agamben. Der Mensch werde in der Gegenwart zunehmend auf sein nacktes Leben reduziert, argumentiert Agamben. Dieses kann er nicht verlieren, alles andere aber schon. »Auch in altehrwürdigen Demokratien entstehen Dunkelzonen des Rechts, also Ausnahmezustände, in denen die 'nackte' Macht sich des nackten 'Lebens'
bemächtigt.« So hat Thomas Assheuer Agambens zentrale These vor Jahren in der »Zeit« beschrieben, »Auch liberale Demokratien schaffen Räume, in denen das Recht aufhört, ein Recht für alle zu sein. ... wo Menschen wie 'Biomasse' behandelt werden, als bloße 'Wesen', die 'juristisch weder eingeordnet noch benannt werden können'. In dieser 'höchsten Unbestimmtheit' sind sie vogelfrei, gleichsam lebende Tote in einer endlosen Gefangenschaft.«
So weit ist es noch nicht, aber die
Dunkelzonen des Rechts werden mehr, und wie schwarze Löcher saugen sie unser bisheriges Leben auf.
Klar: Wir sitzen gerade zu Hause, in den mal besser, mal schlechter ausgestatteten Wohnungen. Allemal wohltemperiert werden sie im Idealfall besessen, zumindest werden sie gemietet. Unser alltägliches Dasein ist mehr oder weniger wohlfahrtsstaatlich abgefedert. Wir müssen uns schon dumm anstellen, wenn wir in der Gosse landen oder gar verhungern. Insofern könnte man argumentieren, dass es mir gar nicht zusteht, von so etwas wie dem »nackten Leben« in Zusammemhängen von Corona und zu Ausnahmezustand zu sprechen oder schlimmer noch: unsere Zustände damit irgendwie zu vergleichen. Geschenkt!
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Wonach ich aber frage und suche: Wann kommen die Phantasien, zu denen diese Zustände unsere Filmemacher und Autoren entfesseln.
Denn wenn man schon nicht Realitäten mit Theorien vergleichen soll, dann darf man aber doch phantasieren. Also wo bleiben sie, die guten Filme zur Pandemie? Nicht die netten Zustandsbestätigungsfilme, sondern die hässlichen Infragestellungen? Die, die mit einem Kino der Attraktion die gut bürgerliche Moral vorführen, ad absurdum treiben, die
guten Bürger wütend machen. Die den Querdenkern zeigen, was wirklich Querdenken heißt.
Die fiesen, bösen Überschreitungsfilme – auf die warte ich. Sie zu schaffen ist die ästhetische Herausforderung der Pandemie.
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Ist es nur ein Zufall? Jedenfalls wäre es der richtige, dass Arte, immer doch noch am ehesten ein Kulturkanal im Fernsehen, zum 125. Jubiläum des Kinos nicht etwa einen Film der Lumières zeigt, sondern Werke von Méliès.
Bei der ersten Filmvorführung (tatsächlich gab es schon ein paar Vorführungen davor, im März und im Juni), die die Brüder Lumière am 28. Dezember 1895 im Salon Indien des Grand Café im Boulevard des Capucines veranstalteten, in einer Gegend nahe der Pariser Oper, in der Zauberer und Illusionisten ausstellten, kamen nur 33 Gäste. Schon am nächsten Tag waren es über 100 und der Betreiber dieses ersten Kinos der Welt war auch der erste, nicht der letzte, der mit ihm gute Geschäfte machte. Unter den 33 Gästen der allerersten Vorführung war Georges Méliès. Er wusste damals noch nicht, dass er Filmemacher werden würde. Aber er saß in der ersten Reihe, und sein erster Impuls nach der Vorführung war: Er wollte den Kinematographen kaufen.
Auf Arte gibt es jetzt allerlei Filme in gutem Zustand zu sehen. Vor allem aber einen guten Dokumentarfilm, der erzählt, wie Georges Méliès (1861-1938) mit seiner Produktionsgesellschaft über 500 Filme drehte, und auch davon wie die Entdeckung vieler Negative in der Library of Congress im Jahr 2006 das Werk von Méliès neu zutage fördert.
Wenn es uns etwas retten wird aus der Misere, die Dunja Bialas letzte Woche beschrieben hat, dann ist es das Kino der Attraktionen, und das Kino als Attraktion.
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Die Kinobedingungen zu verbessern, ist das eine. Ein bisschen mehr Geld hier, ein bisschen Subvention da, das wird beteiligte Menschen zwar retten, aber nicht das Medium Kino.
Vielleicht ist es ja nicht der richtige Weg, dass das Kino jetzt dauernd erklärt, wie sicher es doch ist und wie wenig Infektionsgeschehen dort doch stattfindet. Vielleicht müsste man umgekehrt als Kino frivoler werden, und die eigene Gefährlichkeit betonen, die eigene Infektiosität. Nur wer etwas
riskiert, der wird auch etwas erleben.
Es stimmt natürlich: Ein Tag auf der Arbeit im Büro ist gefährlicher als ein Kinobesuch – und zwar nicht nur im Hinblick auf Corona. Aber wenn wir Menschen, wenn unsere Gesellschaft nicht lernt, mit der Todesgefahr umzugehen, dann werden wir selbst Corona nicht überstehen. Dann werden wir nicht überleben, und dann braucht man ohne Menschen tatsächlich auch kein Kino mehr.
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Das Kino selbst ist, wie man heute gern sagt: resilient. Thierry Frémaux, der Direktor von Cannes hat dieser Tage daran erinnert: »Die Kinos sind schon oft gestorben, aber sie leben immer noch.«
Das ist in dem Fall der richtige Ansatz: Gegen die Weinerlichkeit, gegen das Untergangsgerede, gegen das Geschwätz vom Tod – man kann den Tod
nämlich auch herbeireden.
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Kritik ist eng mit Praxis verbunden und kann nicht ohne sie sein. In den Taten verwirklicht sich das »richtige Leben«. Ein kritisches Subjekt erscheint nicht in dem, was es sagt, was richtig und was falsch ist; sondern indem es tut, was es tut.
(to be continued)