Cinema Moralia – Folge 246
Das Kino in der kulturellen Kontakt-Krise |
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Arrival: Kontakt mit dem Anderen. Könnte es auch ein Virus sein? | ||
(Foto: Sony Pictures) |
»If any of us are to survive, to flourish, even to attempt to lead a good life, it will be a life lived with others – a live that is no life without those others. […] Whoever I am will be steadily sustained and transformed by my connections with others, the forms of contact by which I am altered and sustained.«
Judith Butler, 2020
Die Krise des Kinos gab es schon lange vor Corona. Aber Corona droht zur Brechstange zu werden, mit der man Hand ans Fundament des Kinos legen kann.
Im Fußball ist die europäische Super-League, eine Veranstaltung der Reichen und noch Reicheren, vorerst gescheitert. Im deutschen Kino aber droht sie, Realität zu werden.
Zudem sollten wir langsam zugeben: Nichts wird schnell besser werden. Wir sind noch mindestens ein Jahr in der Pandemie. Alles ist sehr zäh, auch im Sommer werden die Kinos nicht wirklich aufhaben.
Auf nichts kann man sich in der Krisensituation noch verlassen. Zudem legt die Krise die grundsätzlichen Mängel des Systems offen. Denn dem Kino droht der Ausverkauf. Kaum ein Stein kann auf dem anderen bleiben, kaum etwas ist in der jetzigen Form noch zeitgemäß.
Die Corona-Hilfen kommen nicht an. Die Auflagen machen Sorgen. Gerade beim Kino übertrumpft man sich von Behördenseite mit Studien, die noch eine weitere Auflage fordern und noch strenger werden wollen.
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Das Filmfördergesetz ist rückwärtsgewandt – da sind sich inzwischen alle einig. Aber was soll man ändern? Natürlich muss auch hier die Bürokratie abgebaut werden – auch das ist eine Binsenweisheit geworden in jenen Corona-Zeiten, die die absurden Folgen und die grundsätzliche Lähmung aller Verhältnisse bewiesen haben, den allgemeinen Mehltau der Lähmung und Veränderungsfeindlichkeit, der Risikoscheu und Angst, die über unserem Land liegt.
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Umgekehrt zum Argument der »Flexibilität«. Diese Flexibilität, die jetzt gern eingefordert wird, ist zweischneidig. Flexibilität kann Freiheit meinen, Selbstbestimmung und andere edle Dinge. Es kann aber auch die Chiffre werden für die Deregulierung, von der die Neoliberalen träumen.
Es gibt keinen Grund, Angst vor den Streamern zu haben
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Genauso wenig Grund gibt es, in den Thesen, die Lars Henrik Gass zur Musealisierung des Kinos entwickelt hat, einen Angriff aufs nichtmuseale Kino zu sehen. Gass hat die Gründung eines, wie er es nennt, Filmmuseums in 100 deutschen Städten skizziert – mit dem Geld, das eine einzige Elbphilharmonie in Hamburg gekostet hat, könnte man diese 100 Gebäude errichten und noch das erste Jahresprogramm ausstatten. In dem Moment, wo ich dies schreibe, werden ähnliche Geldberge – 900 Millionen für die Frankfurter Oper, eine ähnliche Summe für die Kölner Oper – mit links von Kultur-Behörden einer Großstadt gestemmt. Wohlgemerkt: Geldbeträge, mit denen man nicht etwa nur die jeweiligen Städte, sondern jeweils die ganze Republik mit Filmmuseen zupflastern könnte. Wenn man nur wollte! Wenn man nur den gern in Sonntagsreden beschworenen Satz »Kultur für alle!« ernst nehmen würde.
Der Begriff Museum selbst ist für manche missverständlich. Ich würde von Medienhaus sprechen, aber das sind Begriffs-Marginalien.
Der zentrale Gedanke ist: Man nimmt etwas vom Markt, das sich am Markt schon lange nicht mehr bewährt. Man bekennt sich zur Idee eines Kulturbaus auch für das Kino, so wie es den Kulturbau namens Stadttheater schon seit 250 Jahren gibt, den Kulturbau namens Oper seit über 100 Jahren. Kino kann sich am Markt nicht in jeder Hinsicht bewähren, es muss auch nicht überall wirtschaftlich ausgewertet werden. Kino darf Kulturzuschüsse bekommen.
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Wenn über Filmförderung gesprochen wird, dann geht es auch aus den genannten Gründen vor allem um Rahmenbedingungen, Soziales. Mehr und mehr geht es auch um Marginales, nämlich den Dreiklang Öko, Gender und Diversität.
Das mag alles wichtig sein. Auch wichtig. Aber es ist nicht so wichtig wie das Eigentliche, die Essenz dessen, wovon wir reden, wenn wir vom Kino reden. Und nun Film: Kunst und Kultur.
Soziales ist wichtig, aber was da gesagt wird, trifft genauso für den Bäcker, den Metzger zu oder für VW.
Filmförderung ist aber Kulturförderung. Das ist der Unterschied zum Bäcker und zum Metzger. Es geht um Kultur, vielleicht sogar um Kunst. Was heißt das? Was heißt Kulturauftrag?
Es heißt mehr, als die Gesellschaft zu bebildern und abzubilden. Es heißt mehr, als Selbstverpflichtungen der Branche. Als Greenwashing und Brownwashing und nachhaltiges Wirtschaften und anderes Gedöns.
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Das Spezifische der Filmpolitik ist, dass sie eine Kulturpolitik ist. Zugleich wird Kultur immer als Gegensatz zu Wirtschaft gesehen, nicht als der Wirtschaftsfaktor, der Kultur de facto ist.
Guter Kulturförderung darf es nicht darum gehen, politische Ideen oder bestimmte gewünschte moralische Haltungen abzubilden.
Vielfalt ist gut. Aber Diversität ist nicht nur »Gender« und »Hautfarbe« und »Herkunft«, sondern ebenso auch moralische Vielfalt, weltanschauliche, politische Vielfalt, ästhetische Diversität. Nicht Oberflächen und Äußerlichkeiten, nicht »Brownwashing« des Cast.
In der Filmförderung darf es vor allem nicht um inhaltliche Normierung der Projekte gehen. Die Frage muss vielmehr sein: Wie können wir Kunst und Widerständigkeit stärken? Wie können wir Produktionsprozesse beschleunigen? Wie können wir Förder-Prozesse automatisieren? Also dafür sorgen, dass Produzenten nicht länger von Intendantinnen und Gremien abhängig sind. Denn Gremien heißt Personen. Es gibt in Gremien immer die Gefahr, dass es um Gunsterweise, um geschäftliche
Beziehungen, um Kompromisse zwischen den einzelnen Gremienmitgliedern geht.
Automatisierung heißt dagegen: Der Antragsteller weiß, wenn er die Kriterien erfüllt, dass er sichere Chancen auf Förderung hat, oder wenn er sie nicht oder nur ganz knapp erfüllt, dass seine Chancen schwinden. Wenn er keine Förderung bekommt, ist er selber schuld. Nicht ein Gremium oder eine Intendantin.
Automatisierung heißt auch, dass persönlicher Geschmack und Geschmacksfragen keine Rolle
spielen. Denn Kunst ist weder Geschmackssache noch ist sie demokratisch.
Automatisierung heißt Verlässlichkeit, Sicherheit, Klarheit der Prozesse. Automatisierung bedeutet in der Regel auch Schnelligkeit. Automatisierung der Förder-Prozesse bewirkt Bürokratievermeidung und -abbau.
Sie schafft Gerechtigkeit.
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Am Donnerstag um 17 Uhr gibt es im »Forum« des SWR eine Diskussion zum Thema. Zusammen mit Christine Berg vom »Hauptverband deutscher Filmtheater« und mit Lars Henrik Gass, Chef der »Kurzfilmtage Oberhausen« und Autor mehrerer Bücher über das Kino im Wandel durch die Herausforderungen der Gegenwart, diskutieren wir über die Zukunft des Kinos.
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»Nach dem Film« bzw. Tullio Richter-Hansen denkt über Kino und unsere kulturelle Kontakt-Krise nach, und fragt »inwiefern jüngere Theorien und Kinofilme dazu beitragen können, die Corona-Pandemie als Krise des relationalen Kontakts zu begreifen.« Es geht um exemplarische Spielfilme wie Arrival, The Host, Okja und Us. Diese Auswahl lässt schon einige (die meisten?!) der Thesen ahnen. Der Kontakt ist nicht einer zwischen Menschen, sondern zwischen dem Menschen und »dem Anderen«. Darum wird hier das Andere gleichzeitig gefürchtet und ersehnt. Nicht als Normalität hingenommen. Kontakt in der alten Normalität war aber nicht einer zwischen Menschen und Monstern, Menschen und Aliens, Menschen und Parasiten, Menschen und genetisch konstruierten Super-Tieren, sondern einer, der in gewissem Sinnn viel schwieriger und zugleich viel einfacher ist: zwischen Menschen und Menschen.
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Zu guter Letzt noch die aktuelle Frage eines Freundes: »Welche Filme fallen euch ein, denen in den letzten Jahren Vorwürfe gemacht wurden, man könne sie nicht mehr zeigen. Man könne sie nicht mehr zeigen, weil sie alte Strukturen bedienen, weil sie z.B. falsche Frauenbilder hätten. Ich suche nach Argumentationen, nach den Diskursen, nach der Logik von Wokeness und Identity Politics in Bezug auf Rezeption von Kultur.
Ich denke also darüber nach, ob Film eine bessere Welt zeigen
(Woke-Films) oder Film uns provozieren, schockieren und herausfordern soll. Habt ihr Twitter-Threads, in denen sowas diskutiert wurde?«
Mir fallen da natürlich ganz viele ein. Erstmal alles von Roman Polanski und von Woody Allen und alles, was von Harvey Weinstein produziert wurde – weil diese Menschen als Personen bereits »non grata« sind, weil sie zum Teil tatsächlich, zum Teil nur angeblich etwas gemacht haben, das moralisch oder strafrechtlich bewehrt ist, sollen die Sachen nicht mehr gezeigt werden.
Ich denke, es kann gar nicht anders sein, dass Filme uns nicht eine Welt zeigen, wie wir sie gerne hätten. Sondern Filme zeigen uns und sollen uns eine bessere Welt zeigen, indem sie uns provozieren schockieren und herausfordern. Denn dort, wo herausgefordert und irritiert wird, beginnt überhaupt erst die bessere Welt. Nicht dort, wo normiert wird.
(to be continued)