Cinema Moralia – Folge 249
Lösch mir die Augen aus |
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Dieses Buch wird meine neue Bibel werden... | ||
(Plakat: Suchsland) |
»Lösch mir die Augen aus: ich kann dich sehn,
wirf mir die Ohren zu: ich kann dich hören,
und ohne Füße kann ich zu dir gehn,
und ohne Mund noch kann ich dich beschwören.
Brich mir die Arme ab, ich fasse dich
mit meinem Herzen wie mit einer Hand,
halt mir das Herz zu, und mein Hirn wird schlagen,
und wirfst du in mein Hirn den Brand,
so werd ich dich auf meinem Blute tragen.«
- Rainer Maria Rilke
Vielleicht habe ich wieder alles falsch verstanden.
Irgendwann vor etwas mehr als anderthalb Jahren saß ich mit Juliane Liebert zusammen in einer Jury. Sie kam als Letzte zum Treffen, war dann eher still und hat nicht viel diskutiert, im Gegensatz zu mir. Heute denke ich, sie hat vielleicht nebenbei an einem Gedicht gearbeitet. Sie bestellte Wein, und wenn es nötig war, hat sie schon gesagt, was zu sagen war. Vielleicht war sie mir auch nur sympathisch, weil ich den Eindruck hatte, dass wir einigermaßen ähnliche Ansichten zu den Filmen hatten, und das ist ja in einer Jury erstmal nicht unwichtig. Ein bisschen neugierig war ich auch, was das wohl für ein Typ Mensch war, was für eine Frau, die über Musik noch tollere Texte schreibt als über Filme. Darum habe ich mich zurückgehalten, und versucht zu beobachten.
Vor ein paar Wochen fiel mir dann dieses Buch auf. Es sieht wirklich schön aus, ist angenehm dünn, und als ich den Untertitel las, wollte ich es schon kaufen. Als ich las, dass sie es geschrieben hat, musste ich.
»Über die Schönheit und Notwendigkeit des Schimpfens«. Genau! Aber wahrscheinlich habe ich wieder etwas falsch verstanden.
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Was für Sätze in diesem Buch. »Der Mensch ist geboren, um unglücklich zu sein.«; »Die Welt, da wird mir wohl jeder zustimmen, [ist] eine Zumutung.« »Wer schläft, zürnt nicht, und wer nicht zürnt, verstummt.« Zornige Sätze, wilde Sätze, wahre Sätze.
Aber auch: »Kinder beherrschen perfekt, was Erwachsene in Achtsamkeitskursen mühsam wieder zu lernen versuchen: den absoluten Fokus auf den Moment.«
Sie hat einen ausgesucht guten Geschmack. Gar nicht mal Celine und Nietzsche, auf die kann man auch so kommen, aber Cioran, Kreisler, Rio Reiser.
Einzige Einschränkung: Vielleicht ist es etwas bemüht, den guten vom schlechten Zorn zu unterscheiden, und dabei dann doch ein bisschen Moral zu predigen. Oder vielleicht das noch nicht, aber irgendwie doch zu sagen was gut und richtig und falsch und schlecht ist.
Dieses Buch ist einerseits ein Lob des Schimpfens, und ein Nachdenken über es. Andererseits ist es ein Nachdenken über den Zorn, sein Entfalten. Es wird stellenweise zu einer Reflexion über den Hass. »Hass ist tabu. Hass gilt als Emotion für Versager oder von Grund auf böse Menschen.
Der Zorn hingegen ist ja auch heute gar nicht so übel beleumdet. Schließlich soll man sich gegen den Klimawandel empören, gegen Nazis und so weiter. Immer gerichtet allerdings. Es muss schon klar
sein, wer der Gegner ist.«
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Der Gegner: »Das Sortieren der Welt in Gut und Böse. Ob diese Einteilung das eigentlich Vernichtende ist? Auf jeden Fall ist es die Logik des Krieges. Es darf in den aktuellen Internet Debatten kein Zweifel aufkommen, auf welcher Seite du stehst, sonst bist du erledigt. Das macht interessante Auseinandersetzungen nahezu unmöglich.«
Aber viele Menschen wollen keine Ambivalenzen. Sie wollen klare, übersichtliche, soziale Normen.
Man merkt: »Hurensöhne« ist auch ein mutiges Buch, weil sich die Autorin zornig und schön formulierend wie sie ist, nicht darum schert, was man sagen soll.
Das klingt so einfach. Das klingt so selbstverständlich. Ist es aber nicht – ein Blick auf die Bestsellerlisten genügt.
Jeder, der gerne schimpft, jeder der gelegentlich seinem Zorn freien Lauf lässt, jeder, der manchmal hasst, wird hier fündig und die Autorin dafür lieben.
Deswegen ist sie auch ehrlich genug, nicht über die unbequeme Frage wegzugehen, ob sich Spreu und Weizen trennen lassen? Also in diesem Fall das, wie sie es nennt, »kathartische, kreative, existenzielle Schimpfen und die Demagogie«.
Liebert macht außerdem auf etwas ganz Wichtiges aufmerksam: Es ist nicht egal, wer schimpft. Das Schimpfen der Schwächeren, der Outlaws, der hoffnungslos Unterlegenen ist ehrenvoller und anders zu bewerten, als der Zorn der Mächtigen.
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Und dann noch eine schöne Phantasie:
»Man stelle sich einmal die Zukunft vor.
Man stelle sich einmal die Zukunft vor, wenn es gut liefe.
Man stelle sich vor, das chinesische social credit System gälte dann überall, überhaupt, das chinesische Modell hätte den Wettbewerb der Systeme gewonnen, aber nur, weil es sich gleichzeitig bestimmten Ideen des liberalen Westens geöffnet hätte.
Man stelle sich vor, es gäbe tatsächlich keine nennenswerte Korruption mehr.
Auch die Mächtigen würden relativ effektiv durch
die technischen Möglichkeiten kontrolliert.
Niemand fühlte mehr viel, weshalb es auch keine nennenswerte Kunst mehr gebe, sie diente eigentlich nur noch der Berieselung.
Immer mehr junge Menschen wollten sich umbringen, aber selbst das funktionierte nicht mehr, weil das social credit System ihren Gefühlshaushalt zu gut überwachte. Sie hätten die unterschiedlichsten Hautfarben, unterschiedliche sexuelle Orientierungen, wären ebenso divers wie die neue Gesellschaft.
Aber sie wollten Anarchie, damit Schönheit wieder etwas bedeute.
Man stelle sich vor, sie würden deshalb beschließen, das System zu stören.
Man stelle sich zwei Geliebte vor, die nur böse Worte kennen. Die sich wispernd beschimpften: 'Du widerliches Arschgesicht. Du Drecksschwanz. Du abgehalfterte Stück Scheiße.*
Durch die Liebe in ihren Stimmen würde jeder Fluch ein Schwur, jeder Schwur ein Versprechen.«
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Das ist alles großartig! Sie hat recht. Es ist eine große Erleichterung und Freude das alles zu lesen. Dieses Buch wird meine neue Bibel werden.
Die Autorin schreibt auch sehr schöne Filmkritiken und belegt damit, dass man nicht nur vom Film etwas verstehen sollte. Solange es Juliane Liebert gibt, ist für die Filmkritik noch Hoffnung.
Sie schreibt übrigens auch Gedichte. Die sind auch gut.
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Juliane Liebert: »Hurensöhne! Über die Schönheit und Notwendigkeit des Schimpfens«;
Starfruit Publications, Fürth 2020
(to be continued)