Cinema Moralia – Folge 250
Sie wollen uns erzählen... |
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»Kino« als Schwatz und Picknick vor Kulisse | ||
(Foto: dpa / Berlinale) |
»Sie wollen uns erzählen/ Sie hätten eine Seele
Sie wollen uns glauben machen/ Es gäbe was zu lachen
Sie wollen ganz bestimmt/ Dass wir glücklich sind
Und unsere Leidenschaft/ Ist ihnen rätselhaft«Tocotronic
Werden wir je wieder normal leben? Jetzt reden schon alle von Delta, von der nächsten Welle im Herbst, wenn die Wahl vorbei ist, davon, dass viel zu schnell und viel zu früh und viel zu viel gelockert würde. Ich finde das nicht, ich finde eher diesen Pessimismus zum Würgen und mehr als Corona beunruhigt mich das Virus der Sicherheit, vor allem in seiner besonders gefährlichen Variante der »Sicherheit um jeden Preis«, das gerade in Deutschland viele erfasst hat.
Aber sei es drum.
Die Gefahr ist jedenfalls groß, dass die Kinos, die gar nicht überall wieder aufhaben, bald wieder zusperren müssen.
Darum gilt: Wer dem Kino, also den Verleihern, den Filmemachern und den guten Lichtspielhäusern wirklich helfen will, sollte jetzt Kinokarten kaufen. Und zwar bei Kinobetreibern.
Wir alle, die wir uns an guten Tagen gern »cinephil« nennen, sollten unser Geld besser den Kinobetreibern und den Verleihern geben, den Produzenten und den Filmregisseuren, und nicht einem von der Bundesregierung ausgehaltenen und komplett durchfinanzierten öffentlichen Filmfestival
wie der Berlinale.
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Schwer verständlich ist mir, warum das Filmfest München nun ausgerechnet Kaiserschmarrndrama zum Eröffnungsfilm gewählt hat. Ausgerechnet! Und ausgerechnet in diesem Jahr!
Muss das wirklich sein? Einer der letzten Münchner Eröffnungsfilme stammte immerhin von Claire Denis. Was verbindet das Kino von Claire Denis mit dem Kaiserschmarrndrama?
Mit jedem tollen Autorenfilm hätte man eröffnen können. Gerade in diesem Jahr hätte man sich so ziemlich alles aussuchen können, der Topf der übriggebliebenen Filme aus den nicht stattgefundenen Filmfestivals ist groß genug.
Warum nicht Brasch von Andreas Kleinert, der ja in München läuft und an einen der besten deutschen Regisseure der letzten Jahrzehnte erinnert?
Oder hat man in München so wenig Vertrauen in sein Publikum, dass man glaubt, das Open-Air-Kino auch zur Eröffnung anders nicht voll zu bekommen?
Um Missverständnissen vorzubeugen: Ich habe nicht das Geringste gegen die Reihe der Eberhofer-Krimis. Wenn man Bayern liebt, aber in Berlin leben muss, dann ist es eine große Freude, ab und zu mal diese Filme an irgendeinem normalen Abend in der ARD-Mediathek anzugucken. Dort landen sie nämlich früher oder später. Und während der Pandemie habe ich sie gern gesehen und mich gut amüsiert. Meinetwegen und zur Not kann man sie sich auch im Kino angucken. Ganz zur Not sogar beim Filmfest.
Aber warum muss das zweitgrößte Filmfestival der Republik, dessen Machern ich gerne glaube, dass ihnen das Kino, also die Kinokultur und der Autorenfilm, wirklich am Herzen liegt, mit so etwas eröffnen?
Dies ist definitiv das falsche Zeichen in diesen Monaten und erweist dem Kino einen Bärendienst.
Oder ist eben doch beim Filmfest München alles so, wie manche böse und weniger böse Zungen behaupten, und man es sich in Berlin gern mal vorstellt: Wenn Cannes nicht stattfindet, fällt München nichts ein, was sie zeigen können. Und ab und zu ruft in der Chefetage eben jemand von Constantin an, und sagt mehr oder wenig unverblümt: Ihr müsst unseren Film zeigen! Und zwar als Eröffnungsfilm!! Und wenn ihr den nicht zeigt, dann bekommt ihr eben die nächsten fünf Jahre gar nichts von uns!!! Oder so ähnlich.
»...doch das ist nicht unser Thema.« (s.u.)
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Früher fand die Berlinale im Sommer statt. Heute nicht.
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Nicht ganz junge Münchner Cinephile werden sich noch an Bodo Fründt erinnern. Der leider viel zu früh gestorbene, langjährige und dort leider in Ungnade gefallene Filmkritiker der »Süddeutschen Zeitung« und wichtigste Mitarbeiter des Filmfest München arbeitete um 1980 ein paar Jahre als Programmchef der Berlinale. Er konnte gut erklären, warum sein damaliger Chef Wolf Donner seinerzeit die Berliner Filmfestspiele vom Julisommer in den Februarwinter verlegte. »Um Cannes ein paar Filme wegnehmen zu können.« Und »warum das im Rückblick eine falsche Entscheidung war: Denn im Februar ist es kalt und feucht und da haben die Leute alle schlechte Laune.«
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Normalerweise wäre die Rückverlegung der Berlinale in den Sommer der perfekte Schritt. Einfallsreich. Originell. Ein echter Neustart für dieses verluderte und ziemlich auf den Hund gekommene Filmfestival.
Und zwar eine Verlegung in den Spätsommer, Ende Juli, kurz vor Locarno, das man dann leider dichtmachen müsste, und in direkter Konkurrenz zu den Festivals von Venedig und Toronto. Es wäre der logisch richtige Schritt und man hätte dafür auch eine perfekte Location: Das ICC
mit seiner charmanten 70er Jahre Brutalismus- Architektur, die ein bisschen an die alten SPD-Parteitage erinnert, die da früher stattfanden, als man das Gebäude mit Sozialdemokraten noch vollbekommen konnte – aber das ist auch nicht unser Thema –, und an ein UFO aus Science-Fiction-Filmen, als es noch Science-Fiction-Utopien gab und nicht nur Science-Fiction-Dystopien.
Das ICC also, direkt neben dem Messegebäude, das dann zusammen mit dem Messegebäude einen tollen
Filmmarkt und genug Kinos beherbergen könnte, und eine Art Berliner Palais de Festival wäre.
Dummerweise ist auch die Berliner und die Bundes-Kulturpolitik so eingefahren und bürokratisch und fantasielos wie die Corona-Politik und alle möglichen anderen Bereiche des Politischen. Falls das Politische überhaupt noch existiert und nicht schon längst durch Gefühlsmanagement ersetzt worden ist, wie Juli Zeh neulich sinngemäß in ihrem neuen Roman schrieb.
Doch auch das ist nicht unser Thema.
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Man sollte jetzt nur nicht so tun, als hätten alle sehnsüchtig darauf gewartet... Zur Zeit findet zwar in Berlin einigermaßen unbemerkt die sogenannte »Sommer Berlinale« statt. Aber auch wenn die Lokalpresse trompetet – ein Filmfestival ist das nicht.
Sondern ein weiterer Bärendienst am Kino.
Es laufen ein paar gute Filme, und eine Menge weniger gute, und alle sollen glauben, das habe etwas mit den Berliner Filmfestspielen zu tun. Hat es aber nicht, denn die Filmfestspiele fanden im März statt, wenn man es so nennen will. Eigentlich wurden nur fünf Tage lang Filme für Fachbesucher gestreamt und merkwürdige Preise vergeben. Dafür, dass das alles nicht wie sonst stattfand, kann nur die Pandemie etwas.
Jetzt möchte man an der eh immer schon nur halbrichtigen
Behauptung, ein »Publikumsfestival« zu sein, festhalten und veranstaltet deswegen nach Sonnenuntergang, also abends nach halb zehn, ein paar Open-Air-Screenings.
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Tatsächlich geht es um ganz andere Dinge. Es geht darum, noch ein paar Karten zu verkaufen. [Anmerkung der Redaktion: Bis auf die Spielstätten HKW und Museumslichtspiele werden die Open-Air-Kinos von Berlinern Kinos betrieben. Der Ticketverkauf geht direkt über die Kinos, der Ticketerlös verbleibt zu 100% bei den Kinos. Die Berlinale ist in diesen Geldfluss nicht involviert.] Es geht aber vor allem um Berlin Marketing. Denn die Berlinale ist schließlich auch seit jeher eine Berliner Standort-Marketing-Veranstaltung des Senats und der KBB.
Die Bilder verraten den Zweck: Auf Fotos zu Presseberichten werden eindrucksvoll die Monumente der Hauptstadt in den Fokus gerückt. Auf der gar nicht ganz fertig renovierten Museumsinsel ist eigens ein Open-Air-Kino gebaut worden, um eine Postkartenidylle zu erzeugen, die Touristenströme anlockt.
Das sind zwar Presseberichte, die Bilder und das Framing dazu liefert aber die Berlinale selbst. Dazu kann man sich ja mal diese Seite hier ansehen, so wie die Bildstrecken, die die Berlinale der Presse zur Verfügung stellt.
Aber, aber...
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Warum sollten die Leute eigentlich Karten kaufen, die in der sowieso durchfinanzierten Berlinale-Kasse landen [Anmerkung der Redaktion: Bis auf die Spielstätten HKW und Museumslichtspiele werden die Open-Air-Kinos von Berlinern Kinos betrieben. Der Ticketverkauf geht direkt über die Kinos, der Ticketerlös verbleibt zu 100% bei den Kinos. Die Berlinale ist in diesen Geldfluss nicht involviert.], um Filme bei Lärm und Mücken und schlechten Vorführbedingungen anzugucken, anstatt Karten, die den seit 15 Monaten darbenden Verleihern zugute kommen? Die ganz direkt den Kinos helfen? Den Filmemachern? Und das im klimatisierten, visuell und akustisch zumindest nicht schlechter ausgestatteten Kino?
Ich habe es noch nicht verstanden.
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Ich habe auch nicht verstanden, wieso man das Berlinale-Sommerspecial als Modellversuch erlaubt, aber gleichzeitig ähnliche Modellversuche von Kinobetreibern, also privaten Unternehmern, die davon wirklich leben müssen im Gegensatz zu allen, die irgend etwas mit der Berlinale zu tun haben, verbietet. Warum ist die Einheitsfront aus Berliner rot-rot-grüner Stadtregierung und schwarzer Kulturstaatsministerin derart unternehmerfeindlich?
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Der Berliner »Tagesspiegel« bombardiert seine Leser trotzdem mit sogenannter Berlinale-Berichterstattung, und deliriert: »Weiße Nächte an der Spree«. So kann man es auch nennen, wenn es zu hell ist, um den Film richtig zu erkennen.
Ja, Filmvorführungen finden auch schon um 17 Uhr statt. Mit LED-Video-Wänden. Ohne Projektor oder Beamer. Wie die Riesenfernseher, die bei Open-Air-Konzerten oder Fanmeilen auf der Bühne stehen.
Gut gelaunt, wie er eben so ist, schreibt der »Tagesspiegel« weiter: »Sollte auf der Museumsinsel Juni-Regen niedergehen, laufen die Vorführungen übrigens weiter. Nur Starkregen und Gewitter sind Abbruchgründe. Ansonsten gilt: Regenzeug anziehen, statt mit Schirmen zu wedeln. Dass die Atmosphäre beim Freiluftfestival ablenkungsreicher ausfällt als drinnen, wird die Filmkunst angesichts der tollen Kulisse der Museumsinsel und des Berliner Doms gewiss mal verschmerzen.«
Da wird dann auch klar, worum es wirklich geht: Jedenfalls nicht um die Filmkunst. Sondern eben um die Kulisse.
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Wie es den Berliner Kinos (und vielen anderen außerhalb Berlins) tatsächlich geht, das lässt der »Offene Brief« ahnen, den die Freiluftkinos Friedrichshain, Kreuzberg und Rehberge an den Regierenden Bürgermeister und ihr Publikum geschrieben haben.
»Seit weit über einem Jahr betreiben wir unsere Freiluftkinos entsprechend den jeweils gültigen Corona-Verordnungen und den von uns entwickelten Hygiene-Konzepten als sichere kulturelle Orte. Dass Kulturveranstaltungen dabei meist später als Gastronomie oder Sportveranstaltungen in Öffnungsschritten Beachtung fanden, hat diesen Zeitraum ebenso geprägt, wie eine meist strengere Auslegung von Regeln, trotz – das betonen mittlerweile alle Seiten – minimaler Infektionsgefahr an frischer Luft mit Abstand.«
Vor zwei Wochen nun hat der Senat für die Außengastronomie die Aufhebung der Testpflicht beschlossen. Bis zu acht Menschen aus drei Haushalten dürfen beispielsweise an einem Tisch sitzen. Personenobergrenzen für große Biergärten gibt es nicht. Faktisch sind damit in belebten Kneipenstraßen, die Abstands-, die Test- und die Maskenpflicht gleichzeitig gefallen, doch das ist nicht unser Thema.
Da der Senat auch gestern versäumt hat, für die Gäste unserer Kinos die Testpflicht aufzuheben, möchten wir Sie, sehr geehrter Herr Müller, bitten, uns erläuternd beiseite zu stehen, da wir diese Fragen jeden Kinoabend unzählige Male beantworten müssen, etwa wenn wir Zuschauer*innen eilig zu Teststationen schicken müssen oder sie nicht ins Kino lassen dürfen:
Wieso müssen Zuschauer, die in Einer- oder Zweiergruppen unter Einhaltung der Mindestabstände im Kino sitzen, weiter
einen Test nachweisen?
Worauf beruht hier die Einschätzung einer höheren Infektionsgefahr im Vergleich zum Veranstaltungsort Biergarten oder zum Public-Viewing vor Spätis?
Warum sind die Zuschauerbewegungen von Kulturinteressierten in ein Kino (meist zu Fuß oder per Fahrrad) gefährlicher, als die in Richtung Shopping oder Sport?
Gegebenenfalls möchten wir Sie bitten, hier noch zu kommenden Montag nachzusteuern, denn dann endet der Pilotversuch Berlinale Summer
Special und wir stehen vor der erneuten Aufgabe, unsere Kinos umzubauen (zum vierten Mal in dieser Saison) und wieder geänderte Zugangsregeln zu kommunizieren.
Sollte es keine entsprechenden Änderungen geben können, möchten wir Sie und Euch, liebes Publikum bitten, diese Angelegenheit nicht gegen uns zu wenden:
Nehmt es sportlich, rauscht auf dem Weg ins Kino bei einem Testzentrum vorbei oder bringt die anderen gültigen Nachweise mit zum Filmabend. Wir werden unsere Energie weiter darauf richten, Euch tolle und sichere Kinoabende zu bieten (und ein bisschen bedauern, dass die Kultur in Berlin nicht so starke Fürsprecher hat, wie Handel und Gastronomie).
Für Rückfragen stehen wir allen Seiten gerne zur Verfügung.
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»Sie wollen uns erzählen/ Wir sollen uns nicht mehr quälen
Und sie sind schon zufrieden/ Wenn wir die Kurve kriegen
Denn für unser Selbstmitleid/ Haben sie keine Zeit«Tocotronic
(to be continued)