14.10.2021
Cinema Moralia – Folge 255

Wird die FFA abge­schafft?

Kevin Kühnert und die SPD
Gute Bilder und eine anständige Dramaturgie: die NDR-Dokuserie 'Kevin Kühnert und die SPD'
(Foto: NDR)

Unwahrscheinliche Wahrhaftigkeiten über die neueste Koalition – Cinema Moralia, Tagebuch eines Kinogängers, 255. Folge

Von Rüdiger Suchsland

»Drei Geschichten«, sagte ein alter Officier in einer Gesell­schaft, »sind von der Art, daß ich ihnen zwar selbst voll­kom­menen Glauben beimesse, gleich­wohl aber Gefahr liefe, für einen Wind­beutel gehalten zu werden, wenn ich sie erzählen wollte. Denn die Leute fordern, als erste Bedingung, von der Wahrheit, daß sie wahr­schein­lich sei; und doch ist die Wahr­schein­lich­keit, wie die Erfahrung lehrt, nicht immer auf Seiten der Wahrheit.«
- Heinrich von Kleist; »Unwahr­schein­liche Wahr­haf­tig­keiten«; Berliner Abend­blätter, 10. Januar 1811.

»Wir erwarten Antworten auf die großen Fragen unserer Zeit. Wir erwarten, dass unsere Partei­spitze bereit ist, sich mit den Großen, den Mächtigen, den Reichen in unserer Gesell­schaft anzulegen. Das ist die Erwartung an der wir unsere Partei messen werden.«
- Kevin Kühnert, Juso-Bundes­kon­kreß 2018

Inter­es­santer, sehr subjek­tiver Eindruck: Vor allem Frauen haben so ihre Schwie­rig­keiten mit dem Cannes-Sieger Titane. Eine Freundin schrieb über den Film letzte Woche: »Ach Titane – am Ende fand ich es wieder nur gutmensch­li­ches gute Laune Kino, wir erzählen die Geschichte einer Seri­en­kil­lerin, aber am Schluss geht’s doch nur um ihre gutmensch­li­chen Gefühle. Im Grunde ein gefäl­liger Film. Bestimmt kommt der bei den Ameri­ka­nern gut. Wenn man den Film erzählt, klingt alles super, aber es sind eben auch die Bilder, die so sehr von Netflix verseucht sind.«
Eine andere äußert sich noch kompakter: »Was für ein Kack Film! Und das wird durch­fi­nan­ziert und gewinnt in Cannes, ich packs gar nicht! Ganz schlimm, auf allen Ebenen.«

Die allge­meine Beob­ach­tung dabei ist, dass es auch in Titane irgendwie am Ende um die heilige Familie und um cheesy-Harmonie geht. Vater Mutter Kind. Es geht darum, dass Alex einen Vater findet.

Und das findet man auch in vielen anderen Filmen. So zum Beispiel ist Nana Neuls Best­sel­ler­ver­fil­mung Töchter (der letzte Woche in die Kinos kam), ein Film, den man sehr gut gucken kann; auch wenn hier einmal mehr Deutsche ihr Land verlassen und in Urlaub fahren müssen, um sich selbst zu finden. Aber das nur nebenbei.
Aller­dings gebe ich gerne zu, dass es mich irritiert, dass hier eine erwach­sene Autorin und eine erwach­sene Regis­seurin und eine erwach­sene Produ­zentin von zwei erwach­senen (über 40-jährigen) Frauen erzählen, denen zu ihrem Seelen­heil offenbar nichts drin­gender fehlt, als dass sie endlich ihren Vater finden, oder die Beziehung zu ihrem Vater klären.
Und der ganze Film läuft auf den Punkt zu, wo am Ende der Vater stirbt, aber zuvor es noch zu irgend­einer Form von Aussprache und Klärung kam und dieses sterben also ein glück­li­cher Tod ist.
Der ästhe­ti­sche Vatermord als Voraus­set­zung für das Glück der Töchter.

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Die künftige Ampel­ko­ali­tion – und sie wird natürlich kommen – kann unter zwei grund­sätz­lich verschie­denen Gesichts­punkten betrachtet werden. Man kann auf angeb­liche »Gefahren« blicken, auf vermeint­liche »Wider­sprüche«, und auf all das, was schwierig oder unmöglich wird. Als ob bisher, in 16 bleiernen Jahren nicht vieles schwierig und unmöglich gewesen wäre.
Oder man kann sich mit dem voll­kommen Neuen dieser Rot-Gelb-Grünen Verbin­dung beschäf­tigen, den Chancen und Möglich­keiten, die in dieser unwahr­schein­li­chen Koalition liegen. Ich bin definitiv gewillt, das Zweite zu tun. Und ich bin unbedingt der Meinung, dass gerade im Film­be­reich eine Menge Chancen und Möglich­keiten in der Ampel­ko­ali­tion vor allem in der Kombi­na­tion aus Grünen und FDP als Regie­rungs­par­teien liegen.

Das betrifft zum einen das Grund­sätz­liche: Beide Parteien teilen eine grund­sätz­liche Staats­skepsis. Beide Parteien teilen die Sehnsucht nach einer offeneren Gesell­schaft, nach moder­neren, plura­leren, frei­heit­li­cheren Verhält­nissen. Sie teilen ihre Abneigung gegenüber Büro­kratie und Behörden, gegenüber schwer­fäl­ligen Verfahren, gegenüber Rege­lungswut, gegenüber der deutschen Neigung, immer nur in Gefahren und Sicher­heiten zu denken und nicht in Möglich­keiten und Frei­heiten. Sie wollen ein moder­neres Deutsch­land. Sie wollen Moder­ni­sie­rung, sie wollen Digi­ta­li­sie­rung.
Sie sind im Zwei­fels­fall für einen Ausbau einer Vertei­di­gung der Bürger­rechte und einer Begren­zung der Rechte der Behörden und des Staates. Sie sind im Zweifel dafür, dass jeder nach seiner Facon selig werden soll – und eben nicht nach Facon einer Regierung oder einer Partei.

Natürlich: So wie es in der FDP ein paar unver­bes­ser­liche Neoli­be­rale und Markt­fun­da­men­ta­listen gibt, so gibt es bei den Grünen ein paar Kryp­to­mar­xisten, Welt­ver­bes­serer und Verbots­gläu­bige, vermut­lich auch ein paar Menschen, die gegen eine Diktatur gar nichts einzu­wenden hätten, solange es sich nur um eine wohl­mei­nende natur­be­glü­ckende Ökodik­tatur handelt.

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Man kann jetzt also weiter lange lamen­tieren über angeb­liche oder tatsäch­liche Wider­sprüche, wie es leider gerade auch viele in den Main­stream-Medien und im Öffent­lich-Recht­li­chen Rundfunk tun.

Ich finde das aber extrem destruktiv. Und zur Zeit nervt mich nichts mehr, als diese Linken mit gutem Gewissen, die entweder besser­wis­se­risch, bevor die Koalition auch nur gebildet ist, schon erklären, warum sie scheitern muss und hier nichts Gutes heraus­kommen kann. Oder jene Linken und soge­nannten Links­li­be­ralen, die außer einem guten Gewissen auch eine gehörige Portion Funda­men­ta­lismus in sich tragen. Und weil R2G jetzt nicht möglich ist (glück­li­cher­weise!), ist alle andere des Teufels.

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Die FDP, so hört man aus den Koali­ti­ons­ver­hand­lungen, will die FFA abschaffen. Hoffent­lich stimmt die Info, hoffent­lich setzen sie sich damit durch. Nur Mut, ihr Liberalen! Alles ist besser als der gegen­wär­tige Zustand. Man kann faule Glieder nicht mit Laven­del­wasser heilen, und die wirt­schaft­liche Film­för­de­rung wird nur dann besser, wenn sie von Grund auf neu gebaut werden wird.

Mehr dazu nächste Woche!

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Er raucht. Er ist unrasiert. Er isst Scho­ko­lade. Er kann gut reden. Er hat Charisma: Kevin Kühnert.

Er ist der Star; nicht nur im Berliner Polit-Betrieb, sondern auch der erste deutsche Politiker, der nun zur Haupt­figur einer Dokuserie geworden ist. Sie heißt: Kevin Kühnert und die SPD und reicht von Folge 1, »Am Boden« und dem Desaster bei der Hessen­wahl 2018 über die Euro­pa­wahl und den darauf folgenden Rücktritt Andrea Nahles' über »Macht­lek­tionen« bis zur Folge 6, »Bundes­tags­wahl«, und einem nie möglich gehal­tenen SPD-Triumph, bei dem man sich noch lange fragen wird, ob dieser durch Kevin Kühnert oder gegen ihn zustande kam, oder weder noch, weil sowieso alles nur durch die Fehler der Union und der GRÜNEN so kam, wie es kam.

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Es ist eine furiose sechs­tei­lige Serie, die der NDR, ausge­rechnet die wegen der Lovemobil-Pannen viel­ge­schol­tene Redaktion um Timo Großpietsch, jetzt über Kevin Kühnert gedreht hat. Sie hat den SPD-Jungstar in einer Lang­zeit­doku seit 2018, der Hessen-Wahl, über drei­ein­halb Jahre begleitet.

Man erlebt noch einmal die Demü­ti­gung dieser großen tradi­ti­ons­rei­chen SPD-Partei, viel prak­ti­sche Politik, manche Momente, in denen man gern mehr sehen würde, wenige Verrä­te­ri­sche. Zu Letzterem gehört jener besondere Doku-Moment, an dem wir in seinem Gesicht sehen können, dass Kevin Kühnert nicht einge­weiht war, als die von ihm zuvor prote­gierten Partei-Co-Vorsit­zenden mit Olaf Scholz dessen Kanz­ler­kan­di­datur auskun­gelten. Poli­ti­sche Vertraute infor­miert er kurz darauf so: »Um es noch mal deutlich zu sagen: es gab keine Vorin­for­ma­tion. Ich werde auch heute noch mal mit Saskia und mit Norbert tele­fo­nieren und da sagen, dass ich da extrem enttäuscht bin. Weil ich das als eine Ansage verstehe, das eine privi­le­gierte Part­ner­schaft anschei­nend nicht mehr das Setting ist, mit dem wir weiter arbeiten. Das muss man mal so zur Kenntnis nehmen.«

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Nur ein paar Film­mi­nuten zuvor hatte er NoWaBo und Esken noch vor dem Auftritt beim Mitglie­der­ent­scheid gebrieft, auch das besondere Momente: »Das sind die Haupt­bot­schaften heute Abend! Und das mit Fröh­lich­keit. Macht es über Lust am Anfang. Macht es über Stolz beim Einstieg: Ihr wollt Vorsit­zende werden. Ihr habt Lust darauf. Es ist keine lästige Pflicht, sondern eine Leiden­schaft.«
Und dabei zieht Kühnert mit großen Augen seine Mund­winkel hoch zu einem Lächeln: »Angst­sze­na­rien zurück­weisen. Unsere SPD arbeitet nicht mit Angst.«

Mit der arbeitet nur der poli­ti­sche Gegner. Angst vor Kühnert. Wir werden Zeuge, wie das rechts­bür­ger­liche Lager Kühnert dämo­ni­siert: »Der neue Herr im Haus« (FAZ), »Die Übernahme« (SZ), »Kühnert-Show« (Tages­spiegel).
Es sind gute Bilder und es ist eine anstän­dige Drama­turgie, mit der die Co-Regis­seure Katharina Schiele, Lucas Stratmann hier arbeiten – keines­wegs selbst­ver­s­tänd­lich.

Dann wieder Reden: »Das womit wir begeis­tern wollen, das ist Sozial. Demo. Kratie«

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Politik ist aber auch hier das langsame Bohren dicker Bretter. Sie ist Bahnhöfe, Züge, Sitzen, Reden, Telefone, Pres­se­checks auf dem Tablet, Klin­ken­putzen im Wahlkreis. Banaler Alltag, wie Hotel­flure und schlechte Frühs­tücke. »Fünf Uhr Aufstehen ist so eine Rotze«. Kühnert fährt gern in Car-Sharing Autos, stöhnt dann auf der Suche schon mal »Hoffent­lich kein BMW«, wo er doch erst in der Woche zuvor die Enteig­nung der Baye­ri­schen Motoren Werke gefordert hatte.

Politik ist auch Selbst­mar­ke­ting: Mit einer 5-Punkte-Agenda an der Tafel und den Pres­se­spre­che­rinnen Sara Schlote und Nici Kiendl geht es darum, stärker die Verbin­dung Kühnert-SPD deutlich werden zu lassen, ohne das der Eindruck aufkommt, KK sei einge­schwenkt ins Partei­estab­lish­ment. »Wie willst Du in der Partei unterwegs sein?« Es gebe viel Lob für ihn persön­lich, sagt eine Mitar­bei­terin, die Zuschriften von Bürgern ausge­wertet hat. Die Aner­ken­nung erstrecke sich aber nicht auf die SPD.
Es müsse jetzt mehr Gemein­wohl-Kevin, und weniger Hoff­nungs­träger-Kevin sichtbar werden, lautet das durch­wach­sene Fazit.

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Später geht es dann darum, die Nieder­lage der Scholz-Kandi­datur als Erfolg zu verkaufen: »Die Erzählung muss sein: wir haben seit letztem Jahr seitdem SPD-Parteitag diesen Laden doll verändert und zwar so doll, dass es eigent­lich kein Wider­spruch ist.«
Heute ist sie ein Erfolg: Kurz zuvor haben wir gesehen, dass auch Gene­ral­se­kretär Lars Klingbeil vor einem Jahr kaum an den Erfolg glaubte: Was passiert ab dem Abend der Wahl?

Nach 55.000 geklin­gelten Türen und einem Direkt­mandat in Schö­ne­berg sah es am 26. September anders aus. Mit Scholz gab’s ein Happy End: »Ein bisschen gut haben wir es schon gemacht.«

Am meisten über den Menschen Kevin Kühnert erfährt man, wenn man sich bewusst macht, was alles nicht zu sehen ist: Was gar nicht vorkommt, ist ein Hinweis auf seine Vergan­gen­heit, auf Beweg­gründe über die des Tages hinaus. Kühnerts No-GroKo-Slogan fehlt, auch die »Tritt ein, stimm Nein.«-Kampagne. Man ist nie privat bei ihm. Sieht keine Eltern, keine Freunde, keinen Freund.
Kühnert hat den Filme­ma­chern zwar Zugang gewährt, diesen aber deutlich begrenzt. Hier ist einer sympa­thisch, aber bei aller Sympathie ganz straight. Er setzt die Grenzen, und er weiß, was er will. Auch von diesem Film. Ausge­rechnet dem CDU-Nerd Philip Amthor erklärt Kühnert einmal sein Verhältnis zu dieser Doku-Serie: »Du setzt selber die Grenzen. Wenn ich sage: 'Iss nicht', dann iss nicht.«

Alles in allem ist Kevin Kühnert und die SPD eine unbedingt auch über drei­ein­halb Stunden lohnens­werte, unter­halt­same Doku-Serie in der ARD-Mediathek. Aber Vorsicht: Manche werden danach in die SPD eintreten.

(to be continued)