Cinema Moralia – Folge 255
Wird die FFA abgeschafft? |
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Gute Bilder und eine anständige Dramaturgie: die NDR-Dokuserie 'Kevin Kühnert und die SPD' | ||
(Foto: NDR) |
»Drei Geschichten«, sagte ein alter Officier in einer Gesellschaft, »sind von der Art, daß ich ihnen zwar selbst vollkommenen Glauben beimesse, gleichwohl aber Gefahr liefe, für einen Windbeutel gehalten zu werden, wenn ich sie erzählen wollte. Denn die Leute fordern, als erste Bedingung, von der Wahrheit, daß sie wahrscheinlich sei; und doch ist die Wahrscheinlichkeit, wie die Erfahrung lehrt, nicht immer auf Seiten der Wahrheit.«
- Heinrich von Kleist; »Unwahrscheinliche Wahrhaftigkeiten«; Berliner Abendblätter, 10. Januar 1811.»Wir erwarten Antworten auf die großen Fragen unserer Zeit. Wir erwarten, dass unsere Parteispitze bereit ist, sich mit den Großen, den Mächtigen, den Reichen in unserer Gesellschaft anzulegen. Das ist die Erwartung an der wir unsere Partei messen werden.«
- Kevin Kühnert, Juso-Bundeskonkreß 2018
Interessanter, sehr subjektiver Eindruck: Vor allem Frauen haben so ihre Schwierigkeiten mit dem Cannes-Sieger Titane. Eine Freundin schrieb über den Film letzte Woche: »Ach Titane – am Ende fand ich es wieder nur gutmenschliches gute Laune Kino, wir erzählen die Geschichte einer
Serienkillerin, aber am Schluss geht’s doch nur um ihre gutmenschlichen Gefühle. Im Grunde ein gefälliger Film. Bestimmt kommt der bei den Amerikanern gut. Wenn man den Film erzählt, klingt alles super, aber es sind eben auch die Bilder, die so sehr von Netflix verseucht sind.«
Eine andere äußert sich noch kompakter: »Was für ein Kack Film! Und das wird durchfinanziert und gewinnt in Cannes, ich packs gar nicht! Ganz schlimm, auf allen Ebenen.«
Die allgemeine Beobachtung dabei ist, dass es auch in Titane irgendwie am Ende um die heilige Familie und um cheesy-Harmonie geht. Vater Mutter Kind. Es geht darum, dass Alex einen Vater findet.
Und das findet man auch in vielen anderen Filmen. So zum Beispiel ist Nana Neuls Bestsellerverfilmung Töchter (der letzte Woche in die Kinos kam), ein Film, den man sehr gut gucken kann; auch wenn hier einmal mehr Deutsche ihr Land verlassen und in Urlaub fahren müssen, um sich selbst zu finden. Aber das nur nebenbei.
Allerdings gebe ich gerne zu, dass es mich irritiert, dass hier eine
erwachsene Autorin und eine erwachsene Regisseurin und eine erwachsene Produzentin von zwei erwachsenen (über 40-jährigen) Frauen erzählen, denen zu ihrem Seelenheil offenbar nichts dringender fehlt, als dass sie endlich ihren Vater finden, oder die Beziehung zu ihrem Vater klären.
Und der ganze Film läuft auf den Punkt zu, wo am Ende der Vater stirbt, aber zuvor es noch zu irgendeiner Form von Aussprache und Klärung kam und dieses sterben also ein glücklicher Tod ist.
Der
ästhetische Vatermord als Voraussetzung für das Glück der Töchter.
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Die künftige Ampelkoalition – und sie wird natürlich kommen – kann unter zwei grundsätzlich verschiedenen Gesichtspunkten betrachtet werden. Man kann auf angebliche »Gefahren« blicken, auf vermeintliche »Widersprüche«, und auf all das, was schwierig oder unmöglich wird. Als ob bisher, in 16 bleiernen Jahren nicht vieles schwierig und unmöglich gewesen wäre.
Oder man kann sich mit dem vollkommen Neuen dieser Rot-Gelb-Grünen Verbindung beschäftigen, den Chancen und
Möglichkeiten, die in dieser unwahrscheinlichen Koalition liegen. Ich bin definitiv gewillt, das Zweite zu tun. Und ich bin unbedingt der Meinung, dass gerade im Filmbereich eine Menge Chancen und Möglichkeiten in der Ampelkoalition vor allem in der Kombination aus Grünen und FDP als Regierungsparteien liegen.
Das betrifft zum einen das Grundsätzliche: Beide Parteien teilen eine grundsätzliche Staatsskepsis. Beide Parteien teilen die Sehnsucht nach einer offeneren Gesellschaft, nach moderneren, pluraleren, freiheitlicheren Verhältnissen. Sie teilen ihre Abneigung gegenüber Bürokratie und Behörden, gegenüber schwerfälligen Verfahren, gegenüber Regelungswut, gegenüber der deutschen Neigung, immer nur in Gefahren und Sicherheiten zu denken und nicht in Möglichkeiten und Freiheiten.
Sie wollen ein moderneres Deutschland. Sie wollen Modernisierung, sie wollen Digitalisierung.
Sie sind im Zweifelsfall für einen Ausbau einer Verteidigung der Bürgerrechte und einer Begrenzung der Rechte der Behörden und des Staates. Sie sind im Zweifel dafür, dass jeder nach seiner Facon selig werden soll – und eben nicht nach Facon einer Regierung oder einer Partei.
Natürlich: So wie es in der FDP ein paar unverbesserliche Neoliberale und Marktfundamentalisten gibt, so gibt es bei den Grünen ein paar Kryptomarxisten, Weltverbesserer und Verbotsgläubige, vermutlich auch ein paar Menschen, die gegen eine Diktatur gar nichts einzuwenden hätten, solange es sich nur um eine wohlmeinende naturbeglückende Ökodiktatur handelt.
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Man kann jetzt also weiter lange lamentieren über angebliche oder tatsächliche Widersprüche, wie es leider gerade auch viele in den Mainstream-Medien und im Öffentlich-Rechtlichen Rundfunk tun.
Ich finde das aber extrem destruktiv. Und zur Zeit nervt mich nichts mehr, als diese Linken mit gutem Gewissen, die entweder besserwisserisch, bevor die Koalition auch nur gebildet ist, schon erklären, warum sie scheitern muss und hier nichts Gutes herauskommen kann. Oder jene Linken und sogenannten Linksliberalen, die außer einem guten Gewissen auch eine gehörige Portion Fundamentalismus in sich tragen. Und weil R2G jetzt nicht möglich ist (glücklicherweise!), ist alle andere des Teufels.
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Die FDP, so hört man aus den Koalitionsverhandlungen, will die FFA abschaffen. Hoffentlich stimmt die Info, hoffentlich setzen sie sich damit durch. Nur Mut, ihr Liberalen! Alles ist besser als der gegenwärtige Zustand. Man kann faule Glieder nicht mit Lavendelwasser heilen, und die wirtschaftliche Filmförderung wird nur dann besser, wenn sie von Grund auf neu gebaut werden wird.
Mehr dazu nächste Woche!
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Er raucht. Er ist unrasiert. Er isst Schokolade. Er kann gut reden. Er hat Charisma: Kevin Kühnert.
Er ist der Star; nicht nur im Berliner Polit-Betrieb, sondern auch der erste deutsche Politiker, der nun zur Hauptfigur einer Dokuserie geworden ist. Sie heißt: Kevin Kühnert und die SPD und reicht von Folge 1, »Am Boden« und dem Desaster bei der Hessenwahl 2018 über die Europawahl und den darauf folgenden Rücktritt Andrea Nahles' über »Machtlektionen« bis zur Folge 6, »Bundestagswahl«, und einem nie möglich gehaltenen SPD-Triumph, bei dem man sich noch lange fragen wird, ob dieser durch Kevin Kühnert oder gegen ihn zustande kam, oder weder noch, weil sowieso alles nur durch die Fehler der Union und der GRÜNEN so kam, wie es kam.
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Es ist eine furiose sechsteilige Serie, die der NDR, ausgerechnet die wegen der Lovemobil-Pannen vielgescholtene Redaktion um Timo Großpietsch, jetzt über Kevin Kühnert gedreht hat. Sie hat den SPD-Jungstar in einer Langzeitdoku seit 2018, der Hessen-Wahl, über dreieinhalb Jahre begleitet.
Man erlebt noch einmal die Demütigung dieser großen traditionsreichen SPD-Partei, viel praktische Politik, manche Momente, in denen man gern mehr sehen würde, wenige Verräterische. Zu Letzterem gehört jener besondere Doku-Moment, an dem wir in seinem Gesicht sehen können, dass Kevin Kühnert nicht eingeweiht war, als die von ihm zuvor protegierten Partei-Co-Vorsitzenden mit Olaf Scholz dessen Kanzlerkandidatur auskungelten. Politische Vertraute informiert er kurz darauf so: »Um es noch mal deutlich zu sagen: es gab keine Vorinformation. Ich werde auch heute noch mal mit Saskia und mit Norbert telefonieren und da sagen, dass ich da extrem enttäuscht bin. Weil ich das als eine Ansage verstehe, das eine privilegierte Partnerschaft anscheinend nicht mehr das Setting ist, mit dem wir weiter arbeiten. Das muss man mal so zur Kenntnis nehmen.«
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Nur ein paar Filmminuten zuvor hatte er NoWaBo und Esken noch vor dem Auftritt beim Mitgliederentscheid gebrieft, auch das besondere Momente: »Das sind die Hauptbotschaften heute Abend! Und das mit Fröhlichkeit. Macht es über Lust am Anfang. Macht es über Stolz beim Einstieg: Ihr wollt Vorsitzende werden. Ihr habt Lust darauf. Es ist keine lästige Pflicht, sondern eine Leidenschaft.«
Und dabei zieht Kühnert mit großen Augen seine Mundwinkel hoch zu einem Lächeln:
»Angstszenarien zurückweisen. Unsere SPD arbeitet nicht mit Angst.«
Mit der arbeitet nur der politische Gegner. Angst vor Kühnert. Wir werden Zeuge, wie das rechtsbürgerliche Lager Kühnert dämonisiert: »Der neue Herr im Haus« (FAZ), »Die Übernahme« (SZ), »Kühnert-Show« (Tagesspiegel).
Es sind gute Bilder und es ist eine anständige Dramaturgie, mit der die Co-Regisseure Katharina Schiele, Lucas Stratmann hier arbeiten – keineswegs selbstverständlich.
Dann wieder Reden: »Das womit wir begeistern wollen, das ist Sozial. Demo. Kratie«
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Politik ist aber auch hier das langsame Bohren dicker Bretter. Sie ist Bahnhöfe, Züge, Sitzen, Reden, Telefone, Pressechecks auf dem Tablet, Klinkenputzen im Wahlkreis. Banaler Alltag, wie Hotelflure und schlechte Frühstücke. »Fünf Uhr Aufstehen ist so eine Rotze«. Kühnert fährt gern in Car-Sharing Autos, stöhnt dann auf der Suche schon mal »Hoffentlich kein BMW«, wo er doch erst in der Woche zuvor die Enteignung der Bayerischen Motoren Werke gefordert hatte.
Politik ist auch Selbstmarketing: Mit einer 5-Punkte-Agenda an der Tafel und den Pressesprecherinnen Sara Schlote und Nici Kiendl geht es darum, stärker die Verbindung Kühnert-SPD deutlich werden zu lassen, ohne das der Eindruck aufkommt, KK sei eingeschwenkt ins Parteiestablishment. »Wie willst Du in der Partei unterwegs sein?« Es gebe viel Lob für ihn persönlich, sagt eine Mitarbeiterin, die Zuschriften von Bürgern ausgewertet hat. Die Anerkennung erstrecke sich aber
nicht auf die SPD.
Es müsse jetzt mehr Gemeinwohl-Kevin, und weniger Hoffnungsträger-Kevin sichtbar werden, lautet das durchwachsene Fazit.
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Später geht es dann darum, die Niederlage der Scholz-Kandidatur als Erfolg zu verkaufen: »Die Erzählung muss sein: wir haben seit letztem Jahr seitdem SPD-Parteitag diesen Laden doll verändert und zwar so doll, dass es eigentlich kein Widerspruch ist.«
Heute ist sie ein Erfolg: Kurz zuvor haben wir gesehen, dass auch Generalsekretär Lars Klingbeil vor einem Jahr kaum an den Erfolg glaubte: Was passiert ab dem Abend der Wahl?
Nach 55.000 geklingelten Türen und einem Direktmandat in Schöneberg sah es am 26. September anders aus. Mit Scholz gab’s ein Happy End: »Ein bisschen gut haben wir es schon gemacht.«
Am meisten über den Menschen Kevin Kühnert erfährt man, wenn man sich bewusst macht, was alles nicht zu sehen ist: Was gar nicht vorkommt, ist ein Hinweis auf seine Vergangenheit, auf Beweggründe über die des Tages hinaus. Kühnerts No-GroKo-Slogan fehlt, auch die »Tritt ein, stimm Nein.«-Kampagne. Man ist nie privat bei ihm. Sieht keine Eltern, keine Freunde, keinen Freund.
Kühnert hat den Filmemachern zwar Zugang gewährt, diesen aber deutlich begrenzt. Hier ist einer sympathisch,
aber bei aller Sympathie ganz straight. Er setzt die Grenzen, und er weiß, was er will. Auch von diesem Film. Ausgerechnet dem CDU-Nerd Philip Amthor erklärt Kühnert einmal sein Verhältnis zu dieser Doku-Serie: »Du setzt selber die Grenzen. Wenn ich sage: 'Iss nicht', dann iss nicht.«
Alles in allem ist Kevin Kühnert und die SPD eine unbedingt auch über dreieinhalb Stunden lohnenswerte, unterhaltsame Doku-Serie in der ARD-Mediathek. Aber Vorsicht: Manche werden danach in die SPD eintreten.
(to be continued)