Cinema Moralia – Folge 256
Für die Freiheit des dummen Wortes und der bescheuerten Kunst |
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Deniz Yücel bei der Frankfurter Buchmesse 2018 | ||
(Foto: Harald Krichel, CC BY-SA 4.0, via Wikimedia Commons) |
»Totgesagte leben länger, das war beim Buch so, beim Radio und beim Kino. Die Plattformen sind eine großartige Ergänzung, vor allem junge Menschen sind anders nicht mehr zu erreichen. Aber ein klug kuratiertes, lineares Programm wird immer seinen Platz haben. Technik ändert sich ständig, aber starke, relevante Inhalte, unabhängige Nachrichten und Bildungsprogramme, das sind die originären Aufgaben der öffentlichrechtlichen Sender – und was die Gebührenzahler von diesen erwarten.«
– Ina Knobloch, Produzentin»Das Sortieren der Welt in Gut und Böse. Ob diese Einteilung das eigentlich Vernichtende ist? Auf jeden Fall ist es die Logik des Krieges. Es darf in den aktuellen Internet-Debatten kein Zweifel aufkommen, auf welcher Seite du stehst, sonst bist du erledigt. Das macht interessante Auseinandersetzungen nahezu unmöglich.«
– Juliane Liebert; »Hurensöhne. Über die Schönheit und Notwendigkeit des Schimpfens«»Mein lieber Max, ich sitze unter dem Verandadach, vorn will es zu regnen anfangen, die Füße schütze ich, indem ich sie von dem kalten Ziegelboden auf die Tischleiste setze und nur die Hände gebe ich preis, indem ich schreibe. Und ich schreibe, dass ich sehr glücklich bin und dass ich froh wäre, wärest du hier, denn in den Wäldern sind Dinge, über die nachzudenken man jahrelang im Moos liegen könnte. Adieu, ich komme ja bald. Dein Franz«
– Franz Kafka an Max Brod, September 1908
Franz Kafkas Wunsch »Indianer zu werden« ist auch ein kolonialistischer. Es ist überhaupt ein Traum, es ist überhaupt der Wunsch zu träumen, die Realität, die Normalität, und ihre herkömmlichen gesetzten engen Grenzen zu überschreiten. Es ist die Sehnsucht, überschreiten zu können und zu dürfen, sich nicht an Normen halten zu müssen, schon gar nicht an Normen, die von Spießbürgern gesetzt werden. Er sind ja fast immer die Spießbürger, die normieren möchten, die es besser wissen, die wissen, was sagbar ist und was nicht, was denkbar ist und was nicht, was erlaubt ist und was nicht. Wenn Franz Kafka davon träumt, Indianer zu werden, dann interessieren ihn nicht die Identitätsdebatten von heute, über die er – Glück für ihn! – auch noch gar nichts wusste.
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Die Wahl von Deniz Yücel zum Präsidenten des PEN-Zentrums in Deutschland ist das Beste, was dieser ehrwürdigen, aber ein bisschen müde und grau gewordenen Institution passieren konnte! Eine Geste weit über die Literatur hinaus; ein Signal, das hoffentlich und ganz bestimmt auch auf das Kino wirkt und auf unsere Filmszene.
Yücel hat am eigenen Leib erfahren, was Zensur bedeutet, und den Wert der Meinungsfreiheit schätzen gelernt. Schon in seinen allerersten Äußerungen als
Präsident machte er heute unmissverständlich klar, dass Meinungsfreiheit vor allem die Freiheit der unliebsamen Meinung bedeutet. Und dass er bereit ist, für die Verteidigung diese Freiheit aktiv zu kämpfen. Das ist eine Erinnerung, die wir in Deutschland auch gegenwärtig leider nötig haben. Im Besonderen in deutschen Medien, die sich viel zu sehr auf der selbstgetroffenen Feststellung ausruhen, sie seien ja »Qualitätsmedien«, und auf der Behauptung, sie seien
»Leitmedien«.
Schon in seiner gestrigen Bewerbungsrede hatte Yücel gesagt, er stehe »für die Freiheit des dummen Wortes«.
Im heutigen Interview mit dem Deutschlandfunk wurde er gefragt: »Die Freiheit des dummen Wortes – gibt es dafür keine Grenzen?«
Yücels ungekürzte Antwort: »Natürlich gibt es Grenzen; es gibt in Deutschland gesetzliche Grenzen für die Meinungsfreiheit. Und die werden im Großen, Ganzen in Deutschland recht weit ausgelegt. Aber für alles was innerhalb dieser
Grenzen liegt, bin ich tatsächlich für die Freiheit des Wortes. Auch wenn es sein muss für die Freiheit des dummen Wortes und der bescheuerten Kunst.
Das heißt nicht, dass mir das dumme Wort egal wäre. Ich bilde mir ein, in der politischen Auseinandersetzung mit den Feinden der offenen Gesellschaft auch nicht zimperlich zu sein. Aber wenn es um Verbote geht, um Ausschlüsse und solche Maßnahmen, bin ich sehr dafür, aus prinzipiellen Gründen und auch aus Gründen der
Glaubwürdigkeit in einem Voltaire'schen Sinne die Freiheit des Wortes auch für Leute und Ansichten zu verteidigen, die ich nicht teile, die ich kritisiere, und die ich vielleicht sogar verabscheue. Denn eine Meinungsfreiheit, die nur für mich selber und meinesgleichen gilt, die ist auch keine.«
Was Yücel damit übrigens auch sagt: Dass es Dummheit gibt, dass es bescheuerte Kunst gibt, dass beides auch genauso genannt werden muss, und nicht mit irgendwelchen schönfärberischen Ausdrücken belegt, nur weil sich von denen niemand beleidigt fühlt.
Und das Tolle ist ja, dass es in Deutschland schätzungsweise mehrere Millionen Meinungen darüber gibt, was im Einzelnen genau dumm und was bescheuert ist.
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Im DLF-Interview bezieht sich Yücel auch auf die Buchmesse letzte Woche, und sagt Dinge, die hoffentlich auch in unserer deutschen Filmszene jeder nicht nur hört und liest, sondern auch versteht: »Bedroht fühlen – das ist ein Argument, das mir sonst auch eher suspekt ist. Das ist ja auch etwas, das von Rechtspopulisten kommt, wenn sie von Kriminalität reden. Man weist dann zwar darauf hin, dass die Statistik zeigt, dass die Kriminalität in Deutschland zum Glück rückläufig
ist, doch dann kommen sie mit diesem Argument von 'gefühlter Bedrohung'. Mir ist das suspekt. Und ich kenne übrigens auch die Erfahrung, mit Polizeischutz die Frankfurter Buchmesse zu besuchen – aus zwar nicht aufgrund irgendeiner gefühlten Bedrohung, sondern weil das Landeskriminalamt Hessen zweimal auf mich zukam, und mir gesagt hat: Aufgrund ihrer Sicherheitseinstellungen für mich empfehlen Sie mich in Deckung zu nehmen. Also ich weiß, was das ist. Deswegen kann ich nur aus
eigener Erfahrung sagen: Wenn es eine externe Bedrohung gibt, eine vielleicht auch gefühlte, dann gibt es in Deutschland eine Einrichtung, an die man sich wenden kann. Und das nicht zu tun, aber es so herauszuposaunen: ›Ich bin bedroht, aber ich komme nicht – mir ist das ehrlich gesagt suspekt.‹
Deniz Yücel, der im Gegensatz zur DLF-Redakteurin betont nicht gendert, fügt dann noch in Erinnerung an die Erfahrungen mit dem Linksterrorismus in den 70er Jahren
hinzu: ›Es gibt ja das Argument, dass wir bei der Bekämpfung von Extremisten, von Gewalttätern nicht das preisgeben können, was diese offene Gesellschaft ausmacht. Ich bin davon überzeugt, dass dieses Prinzip auch für die Auseinandersetzung mit dem Rechtsextremismus und dem Rechtspopulismus gilt.‹«
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Eine Anmerkung zur gerechten Sprache: Gerechte Sprache ist die, die einem Problem oder einer Sache gerecht wird, nicht eine, die sich davon einschüchtern lässt, welche Menschen möglicherweise von irgendeiner Formulierung oder einem Wort sich ungerecht behandelt fühlen könnten.
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Und nun zu den Niederungen.
In Hessen steht am kommenden Freitag die Wahl des neuen HR-Intendanten an. Und diese sorgt im Vorfeld für Ärger. Genau gesagt: Die Tatsache, dass sich die zuständige Findungskommission in einem vollkommen intransparenten Verfahren auf zwei interne bzw. halb-interne Vorschläge geeinigt hat, und dass es wiederum komplett intransparent ist, nach welchen Kriterien hier warum welche Kandidaten ausgewählt wurden.
Vorgeschlagen wurden ARD-Programmdirektor Florian Hager und HR-Betriebsdirektorin Stephanie Weber. Viele favorisieren die nicht vorgeschlagene Produzentin und Autorin Ina Knobloch, die als unabhängige von außen kommende Kandidatin wirkt, und auch in den Medien lautstarke Parteigänger hat.
Öffentlichkeitswirksam hatte sie zuletzt »Boulevardisierung und ›Inhouse‹-Politik des Senders« kritisiert. Die gesamte Kreativbranche, auch Wissenschaft und Kultur, verkümmerten durch die Ignoranz eines Senders, der nur von medientheoretischen Fetischen wie »Digitalisierung« und »Trimedialität« geleitet wird. Knobloch plädiert für Qualitätsoffensive, Leuchtturmprojekte, und gegen »digital first«. »Die Zukunft des Hessischen Rundfunks liegt ganz sicher nicht im Digitalen, sondern in der Relevanz.«
Jetzt kursieren interne Unterstützerbriefe, die ein Exempel statuieren und anhand des Falls Knobloch das von außen hermetisch abgeriegelte Universum der öffentlich-rechtlichen Sender aufbrechen wollen. Der Eindruck ist zumindest klar: Ein abgekartetes Spiel voller, wenn auch kaum überraschender Strippenzieherei.
In einem gemeinsamen Brief der Hessenfilm Initiative, an der die AG Dok, die AG Filmfestival, die Vereinigung der hessischen Filmwirtschaft, das Filmbüro Hessen, und das Filmhaus Frankfurt beteiligt sind, wird auf die einmalige Stellung des HR hingewiesen, der der einzige deutsche Sender ist, der bis heute eine strikte Inhouse-Politik verfolgt.
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In der FAZ steht Prinzipielles, das weit über den HR hinaus wichtig ist: »Wie wird man Intendantin oder Intendant eines öffentlich-rechtlichen Senders? Man bewirbt sich, wird zur Wahl vorgeschlagen und von den Rundfunkrätinnen und Rundfunkräten gewählt. Klingt einfach, ist es aber nicht. Denn vor der Wahl gibt
es eine Vorauswahl, durch die sich das Bewerberfeld lichtet. In der Regel besorgt das eine Findungskommission. Die spannende Frage ist, wie nachvollziehbar und transparent sich deren Wirken gestaltet – vor allem gegenüber den Mitgliedern des Rundfunkrats. Denn diese – als Vertreter der Allgemeinheit, der Rundfunkbeitrag zahlenden Bürger – sollten wissen, wer warum zur Wahl steht und wer nicht. ... Der Rundfunkratsvorsitzende bittet um
›Verständnis, dass ich über andere Kandidaten, die in den Prozess involviert waren, keine weiteren Angaben machen kann‹. Das Verständnis könnte man haben, wüsste man nicht, dass eine unabhängige Kandidatin wie die hier zuletzt vorgestellte Filmemacherin Ina Knobloch nicht mal zu einem Gespräch geladen wurde. War dafür in dem ›mehrstufigen Prozess‹ keine Zeit? Es wäre gut, würde man den Eindruck zerstreuen, die Findungsrunde sei berufen worden, um die
›richtigen‹ Kandidaten durchzubringen. Wir haben bei öffentlich-rechtlichen Sendern oft genug erlebt, dass die Qual der Intendantenwahl in Politspielchen und darin besteht, eine hinter den Kulissen arrangierte Berufung zu bestätigen.«
Auf Deutsch: Die Zusammensetzung öffentlicher, theoretisch gegenüber den Mächtigen unabhängiger Medienhäuser wird von den Parteien im politischen Geschacher arrangiert. Die Bürger sollen aber den Entscheidungen der in
solchen Prozessen gefundenen Personen und den von ihnen geleiteten Medien Vertrauen entgegenbringen. Die Feststellung, dass sie das nicht tun, wird von den gleichen Medien bei Gelegenheit dann gern als »Populismus« bezeichnet und in bestimmte politische Ecken geschoben.
Entsprechend ist dann auch die Filmproduktion, die von diesen öffentlich-rechtlichen Sendern verantwortet wird. Sie erweckt nicht selten den Eindruck, das Publikum in erster Linie sedieren und normieren zu wollen, nicht zu kritischen Individuen erziehen und deren unabhängiges Denken zu fördern.
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Vor diesen Hintergründen und im Hinblick auf die schwelenden Diskussionen um öffentlich-rechtlichen Rundfunk und seine Aufgaben und auf die grassierende Gebühren-Debatte und in Zeiten, in denen der öffentlich-rechtliche Rundfunk und seine Geführenfinanzierung zunehmend nicht nur von Rechtsaußen infrage gestellt werden, in denen er verstärkt an das erinnert wird, wofür er steht und da ist, nämlich Bildung und Kultur und nicht den ganzen anderen Kram von schwachsinnigen Soaps bis zu Fußballrechteankäufen, und in denen diese berechtigte Kritik auch ins Negative gedreht wird, wie in der Schweiz oder in Großbritannien, wo bereits die Rundfunkgebühren als solche in Frage gestellt werden, ist der zuständige Rundfunkrat erst recht in der Pflicht, bei der jetzt bevorstehenden Intendantenwahl seine Verantwortung wohlüberlegt wahrzunehmen.
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»Wir wollen die Vielfalt und die Freiheit des Kulturlebens sichern. Wir setzen uns für eine starke Kulturszene und Kreativwirtschaft ein, die von der Corona-Krise besonders hart getroffen wurden.«
Der bislang einzige Satz zum Thema Kultur im Sondierungspapier für die kommende Ampelkoalition.
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Koalitionsverhandlungen – das bedeutet auch Verhandlungen über die Grundlinien der Film und Medienpolitik, überhaupt der Kulturpolitik in einer von 22 Arbeitsgruppen. Da es verfassungsrechtlich eine festgeschriebene Kulturhoheit der Bundesländer gibt, ist Kulturpolitik in erster Linie Ländersache. Gerade im Bereich Film aber hat der Kulturstaatsminister eine ganze Reihe von Zuständigkeiten und Handlungsmöglichkeiten. Die Kultur- und Medienpolitik der künftigen Ampelkoalition wird in den nächsten Wochen von Carsten Brosda (SPD) als Leiter der AG, von Claudia Roth (Bündnis 90/Die Grünen) und Otto Fricke (FDP) verhandelt.
Die FDP formuliert dabei als einzige Partei zumindest im Prinzip eine klare Absage an die Grundsätze des bisherigen Filmfördergesetzes und rüttelt damit an der Existenz der FFA.
Diese grundsätzliche Infragestellung eines schlechten und für die meisten Beteiligten unbefriedigenden Systems ist damit zumindest ex negativo der richtige Schritt und stimmt hoffnungsvoll, obwohl man kaum glauben mag, dass er tatsächlich in die Tat umgesetzt werden wird.
Und wer wird neuer Kulturstaatsminister als Nachfolger der Filmgouvernante Monika Grütters? Schon seit längerem gibt es Gerüchte um den derzeitigen Hamburger Kultursenator Carsten Brosda. Er gilt als enger Vertrauter von Olaf Scholz, und da die Kulturstaatsminister – selbst wenn die Position möglicherweise in den Ministerrang erhoben wird – in der Regel von der gleichen Partei bestimmt werden, die den Kanzler stellt (es sind eben nicht Minister, sondern
Kanzleramtsminister und Staatssekretäre), spricht einiges für Brosda. Gegen ihn spricht vor allem seine Herkunft aus Hamburg, da nicht nur der künftige Kanzler Scholz aus Hamburg kommt, sondern auch sein mutmaßlicher Kanzleramtschef Wolfgang Schmidt.
Vor allem aus diesem Grund schwirren noch einzelne andere Namen durch die Berliner Flure: Michelle Müntefering (41), seit 2009
Ehefrau des damaligen Vizekanzlers Franz Müntefering (81), seit 2013 Bundestagsabgeordnete und seit drei Jahren Staatsministerin in Heiko Maaß' Auswärtigem Amt, als solche mit Filmpolitik eng vertraut. Und der bisherige kulturpolitische Sprecher der SPD, Martin Rabanus, der vor vier Wochen aus dem Bundestag geflogen war, und wie es heißt jetzt einer Verwendung braucht – welch' gloriose Qualifikation!
(to be continued)